001 - Wild like a River

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001 - Wild like a River Page 34

by Kira Mohn


  Er schüttelt nur den Kopf und geht in Richtung Küche. Als er wiederkommt, hat er sich eine Flasche Wasser unter den Arm geklemmt und trägt zwei Gläser in der Hand. «Ist alles in Ordnung?»

  Überrascht blicke ich auf. Auf dem Bildschirm werden einem Typen gerade die Eingeweide von einem Zombie herausgefressen. «Klar. Und bei dir?»

  «Hast du Vic abserviert?»

  «Wie kommst du jetzt darauf?»

  «Dass du mitten in der Nacht vor dem Fernseher klebst, obwohl du mit einer Frau verabredet warst, ist ein recht zuverlässiger Hinweis.»

  «Es ist halb zwei.»

  «Du magst Morgen-Quickies.»

  «Ist es dir nicht peinlich, so etwas zu wissen? Wie gut kennen wir uns eigentlich?»

  «Ach, egal. Viel Spaß noch.»

  «Danke.»

  Jackson hat bereits den Flur erreicht, da dreht er sich noch einmal um. «Untersteh dich, mich morgen früh zu wecken. Ich lasse das Training mal ausfallen.»

  «Als ob du jeden Tag mitmachen würdest.»

  «Das nicht, aber du nervst mich oft genug damit.»

  «Weil mir deine Gesundheit am Herzen liegt.»

  «Hämmer morgen früh einfach nicht an meine Zimmertür.»

  «Botschaft verstanden. Dein Morgen-Quickie liegt mir natürlich auch am Herzen.»

  Jackson murmelt noch irgendetwas, dann verschwindet er endgültig, und ich stelle fest, dass ich nicht mitbekommen habe, wen die Zombies jetzt zerfleischen. Gelangweilt zappe ich weiter.

  Das Licht des Morgengrauens kriecht bereits durch die Fenster, als ich den Fernseher ausschalte, mir das Shirt über den Kopf zerre und gerade dabei bin, mich meiner Hosen zu entledigen, um noch eine Runde auf dem Sofa zu pennen, als mir einfällt, dass Haven später hier rumlaufen wird. Wegen mir kann mich halbnackt sehen wer will, aber ich schätze, anschließend müsste ich mit Jackson darüber diskutieren.

  Der Umzug in mein Bett vertreibt allerdings leider die wattige Schläfrigkeit, die sich endlich in mir auszubreiten begonnen hatte. Die Vorhänge sind zu dünn, um den Raum zu verdunkeln, und es dauert nicht lang, da tanzen Sonnenflecken darauf. Meine erste Vorlesung findet erst um Viertel nach zwölf statt, doch bis dahin wollte ich wenigstens noch drei, vier Stunden Schlaf abgekriegt haben. Stattdessen liege ich jetzt da und starre an die Decke.

  Jackson findet mein Zimmer spartanisch, ich nenne es minimalistisch. Bilder, Kissen, Grünzeug – brauche ich alles nicht. Mir ist es lieber, die Welt um mich herum ist möglichst … leer. Aufgeräumt. Macht es auch der Haushälterin leichter, zweimal in der Woche hier durchzuputzen, während Jackson darauf besteht, sein Zimmer vorher aufzuräumen. Soll er. Mir wäre das zu langweilig. Nicht, dass es vieles geben würde, was ich stattdessen interessant fände. Sex gehört normalerweise dazu – besser kann man sich kaum ablenken. Nur wird Sex mit ständig derselben Frau auch irgendwann langweilig. Gibt leider nicht viele Frauen, die das verstehen.

  «Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich sogar durch reine Bettbeziehungen eingeengt fühlt», hat Jackson mal gesagt. «Nimm’s mir nicht übel, aber ich wünsche dir wirklich, du würdest mal auf der anderen Seite stehen.»

  Das war, nachdem sich Allison, eine Freundin von Haven, bei Haven ausgeheult und Haven mich daraufhin zur Rede gestellt hat. Hätte ich gewusst, dass Ally mit ihr befreundet ist, hätte ich die Finger von ihr gelassen, so viel ist sicher. Nicht, weil ich Havens Vorwürfe nicht ertragen könnte, sondern einfach, weil es vermeidbarer Stress ist. Es gibt andere Frauen, und ich bin froh um jede, die an die ganze Sache herangeht wie ich: Man hat Spaß, solange es eben andauert, und wenn einer keiner Lust mehr hat, ist es auch okay. Ich würde nie auf die Idee gekommen, mich an eine Frau zu klammern, sobald sie mit der Geschichte durch ist. Im Gegenteil – es wäre mal ganz angenehm, ausnahmsweise mal nicht derjenige zu sein, der sich alles Mögliche anhören muss, nur weil man die Reißleine zieht. Weil man zum Beispiel bemerkt hat, dass es für den anderen ernster wird als für einen selbst.

  So wie vorhin bei Victoria. «Das gehört alles dir», hat sie gesagt, während sie lasziv ihre Hüften vor mir kreisen ließ und nach meinen Händen griff, um sie auf ihre Brüste zu legen. «Und nur dir.»

  Es sollte wohl locker klingen, aber ich hab’s in ihren Augen gesehen. Besser jetzt und so, als in einigen Wochen unter Tränen.

  Ich wünschte, ich könnte schlafen. Es ist so mühsam, nicht schlafen zu können und es trotzdem ständig zu versuchen. Wie lange kann man eigentlich ohne Schlaf auskommen?

  Vielleicht bin ich ja selbst schon seit Ewigkeiten ein gottverdammter Zombie und weiß es nur nicht?

  [...]

  Leseprobe zu:

  Kira Mohn

  Show me the Stars

  Auszeit! Diese Überschrift schreit Liv geradezu an, als sie deprimiert Stellenanzeigen durchforstet. Die 22-Jährige steht eigentlich erst am Anfang ihrer Karriere als Journalistin, aber ein verpatztes Interview hat sie gerade den Job gekostet. Da hört sich die Anzeige, in der für sechs Monate ein Housesitter für einen Leuchtturm in Irland gesucht wird, wie ein Traum an. Eine Auszeit ist genau das, was sie braucht. Zeit, um den Kopf frei zu kriegen, um wieder zu sich selbst zu finden. Sie bewirbt sich, und nur wenige Wochen später steht Liv vor ihrem neuen Zuhause. Und zwar zusammen mit einem gutaussehenden Iren, der ihr Herz erst zum Klopfen, dann zum Überlaufen und schließlich zum Zerbrechen bringt …

  * * *

  Nicht im Traum hätte ich es jemals für möglich gehalten, innerhalb von nicht einmal drei Wochen mein bisheriges Leben auf mehrere Gepäckstücke zu verteilen, einem portugiesischen Studenten namens André mit genauen Instruktionen, vor allem Harvey betreffend, die Schlüssel zu meiner Wohnung auszuhändigen und an einem verregneten grauen Donnerstag in aller Herrgottsfrühe in einem Taxi zum Flughafen zu sitzen.

  Herr Wedekind war nicht überrascht, als ich ihn anrief, um zuzusagen. Wir vereinbarten meinen Einzug für heute, den 1. November, und er versprach, sich um die Flugtickets und alles Weitere vor Ort zu kümmern.

  Den portugiesischen Studenten hat Dana zwei Tage nach unserem Telefongespräch angeschleppt. Bisher nächtigte er in einer überfüllten WG und brach beinahe in Tränen aus, als ich ihm meine kleine Wohnung zur Zwischenmiete anbot.

  Den letzten Punkt auf meiner Reisevorbereitungsliste habe ich gestern abgehakt und mich in einem Outdoorladen derart ausgerüstet, dass ich vermutlich auch im australischen Dschungel mehrere Monate überleben könnte. Theoretisch, meine ich. Zum ersten Mal in meinem Leben besitze ich Wanderstiefel und eine Jacke, die teurer war als jedes andere Kleidungsstück, das ich jemals gekauft habe. Man kann sie auseinandernehmen, und wenn ich den Verkäufer richtig verstanden habe, ist sie sowohl für Wüstenexpeditionen geeignet, weil man darin nicht schwitzt, als auch für die Antarktis, weil sie so kuschelig ist. Es war ein guter Verkäufer.

  Dana, die gestern Abend anrief, um mir alles Gute zu wünschen, fragte lachend, ob ich vorhätte, meine kleine Insel mit den neuen Wanderschuhen zehnmal täglich zu umrunden? Dass ich mir auch noch einen Mini-Survivalrucksack habe aufschwatzen lassen, habe ich daraufhin lieber unter den Tisch fallen lassen.

  Regen klatscht gegen die Fensterscheiben des Taxis, nur durch Schlieren lassen sich andere Autos erkennen, rotverwischte Flecken von Rücklichtern. Alles kommt mir seltsam irreal vor. Die letzten Wochen sind an mir vorbeigerast, und in diesem Moment würde es mich nicht überraschen, wenn das Taxi nur einen großen Kreis fahren würde, um mich wieder bei meiner Wohnung abzusetzen, und alles ginge weiter seinen gewohnten Gang.

  Meine Apothekenzeitschrift ist interessiert an dem Veganer-Artikel. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass ich ihn in einem Leuchtturm schreiben werde. In dieser Sekunde sitze ich noch in der muffigen Wärme eines geräumigen Mercedes und fahre durch Hamburgs volle Straßen, doch morgen um dieselbe Zeit stehe ich auf einer Insel. Nur ich. Und ein Leuchtturm. Das ist ... absurd.

  * * *

  Mein Ziel ist der Kerry Airport. In London und Dublin muss ich umsteigen, doch alles läuft erstaunlich unkompliziert, da ich meine beiden Koffer auf den Zwischenstationen nicht
wieder einsammeln und nur einen Trolley hinter mir herziehen muss. Das Einzige, was sich bereits am Heathrow Airport unangenehm bemerkbar macht, sind meine Schuhe. Sie drücken. Ich hoffe, das liegt nur daran, dass sie noch nicht eingelaufen sind, denn ich habe nur noch ein weiteres Paar Schuhe eingepackt, und dabei handelt es sich um Sandalen. Für den Frühling.

  Von Dublin aus fliege ich mit einer kleinen Propellermaschine weiter. Das Land unter mir ist sanft gewellt und erstreckt sich in allen Schattierungen von Braun und Grün, wie sich immer mal wieder durch die dichte Wolkendecke hindurch erkennen lässt. Das Wetter scheint von Hamburg aus mitgereist zu sein, aber etwas anderes als windige Nässe habe ich zu Beginn eines irischen Novembers auch nicht erwartet.

  Bei der Landung klebe ich an der Fensterscheibe und kann nicht fassen, nur wenige Meter vom Rollfeld entfernt Kühe stehen zu sehen, die nicht einmal den Kopf heben, als die Maschine aufsetzt.

  Im Flugzeug habe ich meine Schuhe ausgezogen und bin nach der Landung widerwillig wieder hineingeschlüpft. Der Schuh passe sich perfekt jeder Fußform an, hat der Verkäufer behauptet, und im Laden schien das noch zu stimmen. Jetzt jedoch scheinen sich die blöden Stiefel lieber anderen Füßen anpassen zu wollen. Kleineren Füßen. Jeder Schritt schmerzt, außerdem sind die Dinger unangenehm schwer.

  Für Bergschuhe erstaunlich leicht, hat der Verkäufer gesagt. Wofür genau brauche ich überhaupt Bergschuhe? Ich werde damit sechs Monate lang über Wiesen laufen und ganz sicher nicht in den Klippen herumkraxeln, wieso habe ich mich also nicht für simple Trekkingschuhe entschieden?

  Wenn Ihnen da mal ein Stein auf die Zehen fällt, das merken Sie gar nicht, hat der Verkäufer gesagt. Dieser blöde Verkäufer. Er zumindest hätte merken müssen, dass mir die Schuhe nicht passen! Okay, er hat mich mehrfach gefragt, ob ich vorne anstoßen würde, aber es hat sich einfach nur eng, kompakt und genau richtig angefühlt. Woher soll ich wissen, ab wann aus ‹eng› ‹zu eng› wird?

  Vielleicht sind sie ja doch einfach nur noch sehr neu.

  Oder lassen sich etwas weiten.

  Abgesehen davon habe ich weit größere Probleme, wie mir aufgeht, während ich vor dem Gepäckband stehe und der letzten Tasche hinterhersehe, die gerade von einem Mann auf einen Gepäckwagen gelegt wird. Eine Viertelstunde später erklärt mir eine freundliche Dame am Informationscenter, dass meine beiden Koffer nicht mitgeflogen sind. «Ihr Gepäck befindet sich leider noch in Dublin», bestätigt sie mir bedauernd. «Aber im Laufe des morgigen Tages wird es auf jeden Fall hinterhergeschickt.»

  Ich habe jetzt ein Formular, das mich als Besitzerin von zwei weiteren Koffern ausweist, und die Fluggesellschaft verfügt über die Adresse des B&Bs, in dem ich heute übernachten werde. Trotzdem fühle ich mich verloren, als ich ohne meine Sachen das Empfangsterminal betrete. Es sind nur Klamotten, versuche ich mir klarzumachen, nur Klamotten. Fast alle wichtigen Dinge sind im Rollkoffer, sogar den Kulturbeutel habe ich in letzter Sekunde noch hineingequetscht.

  Starte ich meine sechsmonatige Auszeit eben nur mit einem Rollkoffer bewaffnet. Ich brauche auf der Insel ja nicht viel, richtig? Meine hübsche kleine Insel, deren Klippen in meiner Vorstellung mittlerweile etwa aufs Dreifache angewachsen sind, von der Höhe der Wellen fange ich gar nicht erst an. Und mein hübscher kleiner Leuchtturm, in dem ich ganz allein sitzen werde.

  Ganz. Allein!

  Im Terminal geben riesige Fenster den Blick frei auf einen grau verhangenen Himmel. Schwer zu sagen, ob es nur die Regenwolken sind, die den Ausblick so dunkel erscheinen lassen, oder ob bereits die Dämmerung einsetzt.

  Hoffentlich gibt es im Leuchtturm viele Lampen. Er wird doch nicht umsonst Leuchtturm heißen, oder?

  Auf einmal genervt von mir selbst, straffe ich den Rücken. Max Wedekind hat mehrere Jahre dort gelebt, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass er das im Dunkeln getan hat.

  «Entschuldigung?»

  Ich fahre herum. Vor mir steht ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren und einem Lächeln, bei dem sich jede Sorge für den Moment in Luft auflöst. Dana würden in dieser Sekunde Fangzähne wachsen, da bin ich sicher. Herrgott, ich muss mich bemühen, ihn nicht dämlich anzustarren, und ich bin normalerweise die Letzte, die wildfremden Männern hinterhersieht. Er ist fast einen Kopf größer als ich und mustert mich interessiert aus silbergrauen Augen. Ausgehend von der Gelassenheit, mit der er meinem perplexen Gesichtsausdruck begegnet, ist er eindeutig gewohnt, dass Blicke an ihm hängenbleiben. Klar. Klar, dass mir so ein Typ ausgerechnet hier und jetzt begegnet.

  Verdammt.

  «Ich bin Kjer», sagt er. «Bist du Liv Baumgardt?»

  Seine Stimme ist angenehm dunkel und melodiös, der irische Akzent, mit dem er den für ihn ungewohnten Namen Baumgardt ausgesprochen hat, zum Dahinschmelzen.

  Statt einer Antwort räuspere ich mich, wie in einem dieser Filme, in denen die weibliche Hauptdarstellerin sich plötzlich und unerwartet einem extrem attraktiven Mann gegenübersieht, und ich schwöre, ich werde darüber nie wieder blöde Sprüche reißen. Man muss sich dann räuspern, sonst piepst man nämlich.

  «Genau», erwidere ich mit dankenswert fester Stimme. «Die bin ich. Und du bist ...?»

  «Kjer», wiederholt er. «Kjer Whelan. Ich soll dich im Auftrag von Mr. Wedekind abholen. Ist das alles, was du an Gepäck dabeihast?» Er deutet auf meinen Rollkoffer.

  «Ja. Also ... nein. Natürlich nicht. Der Rest treibt sich noch in Dublin rum, fürchte ich.»

  «Kann schon verstehen, dass es lieber in Dublin geblieben ist. Da ist deutlich mehr los als hier.» Mit einer Geste weist er in Richtung Ausgang. «Mein Wagen steht draußen.»

  Er nimmt mir den Rollkoffer ab, und ich verbringe den Weg zum Wagen damit, ihn unauffällig zu mustern. Himmel, solche Männer laufen in Irland rum? Soll ich jetzt froh darüber sein, auf meiner einsamen Insel nicht von einem Typen wie Kjer abgelenkt zu werden, oder heule ich ein bisschen deswegen? Ich meine, ich habe keine Beziehung mehr geführt, seit ich siebzehnjährig mit meinem ersten und einzigen Freund Schluss gemacht habe. An der Uni gab es für eine Weile jemanden, aber das lässt sich allenfalls als kurze Affäre bezeichnen. Und wieso denke ich überhaupt darüber nach? Hallo? Ich bin auf dem Weg in eine sechsmonatige Auszeit, und dieser Typ wird wohl kaum den Leuchtturm auf der Insel nebenan bewohnen.

  «Bitte.» Kjer hält mir die Beifahrertür eines Pick-ups auf, und ich laufe beinahe dagegen. Reiß dich zusammen, Liv. Verlegen klettere ich in den Wagen. Noch während ich mit dem Sicherheitsgurt hantiere, ist Kjer auf seiner Seite eingestiegen. «Der klemmt, warte mal.»

  Er beugt sich zu mir, und ich presse mich in die Rückenlehne. Der Geruch von Regen, Gras und Meer steigt mir in die Nase, und dazwischen noch etwas anderes, Wärmeres ...

  Glücklicherweise lässt Kjer sich zurückfallen, bevor ich in Versuchung komme, an ihm zu schnuppern. Das alles ist ... äußerst verwirrend.

  «Also, wo soll’s hingehen?»

  Schockiert reiße ich den Kopf herum. «Was?!»

  Lachend lässt er den Motor an. «War nur ein Scherz.» Er sieht nach hinten, während er langsam aus der Parklücke schert. «Ich bring dich zu Airin, bei ihr hast du für heute Nacht ein Zimmer, bevor du dann morgen auf der Insel ins Exil gehst.»

  «Das ist kein Exil», erkläre ich würdevoll. «Ich nutze diese Zeit für eine berufliche Neuorientierung.»

  «Berufliche Neuorientierung?» Kjer ist auf eine mit Hecken und Bäumen gesäumte Fernstraße eingebogen, der Verkehr ist spärlich genug, um mir problemfrei einen neugierigen Blick zu schenken. Ich versinke für einen Moment in seinen grauen Augen, so auffallend hell im Vergleich zu seinen dunklen Haaren, doch gerade dieser Gegensatz ist ... beinahe hätte ich betörend gedacht. Ich sollte vielleicht besser aus dem Seitenfester gucken.

  «Wie alt bist du? Neunzehn?»

  Na danke. An seinem Charme könnte er eindeutig noch arbeiten. «Ich bin zweiundzwanzig. Und ich habe vor kurzem einen wichtigen Job verloren.»

  «Mit zweiundzwanzig? Wird von Caorach aus aber schwierig mit den Vorstellungsgesprächen.»

  Im ersten Moment habe ich keine Ahnung, wovon er spric
ht, bis mir aufgeht, dass das Wort, das sich in meinen Ohren wie ein halbes Räuspern angehört hat, wohl der Name meiner Insel sein muss. «Was bedeutet das?»

  «Was meinst du?»

  «Keio... Käir...»

  «Caorach? Schafe.»

  «Ah.» Wie ... prosaisch. «Ich bin freie Journalistin», erkläre ich dann weiter, «und vor einigen Wochen hat sich leider mein wichtigster Auftraggeber gegen eine weitere Zusammenarbeit entschieden.» Das klingt doch sehr souverän. Inzwischen bringe ich diesen Satz ohne Stottern hervor. «Ich will in den nächsten Monaten Ideen entwickeln, Artikel schreiben und mich bei anderen Magazinen und Zeitungen damit bewerben. Das kann man alles sehr gut online machen, und ein stabiles Netz gibt es ja auf der Insel. Oder?» Obwohl Herr Wedekind mir das mehrfach bestätigt hat, wird mir allein beim Gedanken daran, ich könnte in einer digitalen Einöde landen, die Kehle eng.

  «Normalerweise ja», erwidert Kjer.

  «Was heißt normalerweise?», hake ich nach.

  «Bei extremen Wetterbedingungen versagt es mitunter. Kommt aber nicht oft vor. Glaube ich.»

  Glaubt er. Großartig. Ich werde als Allererstes die Internetverbindung auf der Schafsinsel testen und sofort wieder zurückrudern, sollte das nicht funktionieren. Und was meint er überhaupt mit extremen Wetterbedingungen?

  Die Wiesen und Felder weichen zurück, während wir durch ein Dorf fahren. Gelbe Häuschen, in der nun tatsächlich einsetzenden Dämmerung noch gut zu erkennen, adrett und mit winzigen Giebeln über den Haustüren, stehen hinter schmalen Vorgärten. Am Himmel drängen sich gewaltige graublaue Wolkenberge, fast als befände sich der Nordatlantik direkt über uns.

  «Warum hast du nicht von Hamburg aus versucht, etwas Neues zu finden? Scheint mir einfacher.»

  Schulterzuckend wende ich mich vom Fenster ab. «Hab ich ja.» Eigentlich wollte ich Kjer nur einen kurzen Blick zuwerfen, doch da er sich gerade auf die Straße konzentriert, gerät dieser Blick etwas länger. Eine feine, blasse Narbe zieht sich durch seine linke Augenbraue. Woher die wohl stammt?

 

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