001 - Wild like a River

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001 - Wild like a River Page 35

by Kira Mohn


  Er schaut zu mir herüber, und ich brauche wieder eine Sekunde zu lang, um wegzusehen. Verflucht. Das ist albern. Ich bin albern. Es ist bloß die Aufregung, versuche ich mich zu beruhigen. Vielleicht auch das immer schwieriger zu unterdrückende Gefühl, mich überschätzt zu haben, was die nächsten sechs Monate betrifft.

  «Aber?», fragt Kjer.

  «Was aber?»

  «Du hast versucht, etwas Neues zu finden, aber?»

  «Aber es hat nicht geklappt. Nicht schnell genug», präzisiere ich.

  «Und deshalb ziehst du jetzt für sechs Monate in einen Leuchtturm.»

  So, wie er das sagt, klingt meine Entscheidung herzukommen plötzlich ausgesprochen übereilt, naiv und unausgegoren. Unangenehm berührt, durchforste ich mein Hirn nach der bisherigen Gewissheit, dass es sich dabei um einen genialen Plan handelt. Neue Herausforderungen, ungewöhnliche Erfahrungen sammeln, nicht zu vergessen keine Miete und genug Zeit, um sich neu aufzustellen – das ist doch perfekt. Mein Opa zumindest war sehr angetan, als ich ihm davon erzählt habe.

  Mir fällt ein, dass ich demnächst auch meine Mutter über die neuesten Entwicklungen in meinem Leben informieren muss. Wenn ich ihr das verpatzte Interview verschweige, nimmt sie mir vielleicht tatsächlich ab, dass es sich bei dem ganzen Vorhaben um eine brillante Karrierestrategie handelt.

  Die gelben Häuser sind hinter uns zurückgeblieben, stattdessen hüllt mich die zunehmend in Grau getauchte Landschaft wieder ein. Blaugrün, braungrün, dunkelgrün, die umgebende Weite lässt mich freier atmen. Ich bin schon so oft umgezogen – was sind im Vergleich dazu ein paar Monate in Irland? Immerhin geht es nur um ein halbes Jahr und nicht um mein restliches Leben.

  Nachdem ich auf Kjers Feststellung nicht geantwortet habe, fahren wir eine Weile schweigend an Hecken, Wiesen und Hügeln vorbei, und fast vergesse ich den Mann, der mit mir im Auto sitzt, weil es mich seltsam berührt, hier zu sein. In nicht einmal einer Stunde werde ich am Meer stehen.

  «Brauchst du für heute noch irgendetwas?»

  Kjers Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. «Was?»

  «Das meiste von deinen Sachen ist noch in Dublin», erinnert er mich. «Hast du alles, was du für die nächsten zwei Tage brauchst, oder willst du irgendwo noch schnell etwas einkaufen?»

  Gute Frage. So genau habe ich mir das noch nicht überlegt. Heute Abend werde ich irgendwo essen gehen, das Frühstück ist in der Unterkunft inklusive, und nachdem mein Kulturbeutel zum Glück mit mir gereist ist, fehlt mir nicht einmal eine Zahnbürste. «Ich bin nicht ganz sicher», antworte ich zögernd. «Für heute habe ich alles, aber was ist mit dem Leuchtturm? Herr Wedekind meinte, jemand würde mir regelmäßig Nahrungsmittel und alles andere vorbeibringen. Wenn ich dort morgen ankomme, meinst du, für die ersten Tage ist gesorgt?»

  «Bestimmt.» Kjer klingt zuversichtlich. «Heute Abend brauchst du also nichts mehr? Zahnbürste? Socken?»

  «Hab ich alles im Handgepäck.» Ich deute nach hinten zur Ladefläche, wo Kjer den Rollkoffer untergebracht hat. «Vorerst brauche ich nichts, schätze ich.» Die Summe, die mir Herr Wedekind bereits zu Beginn meiner Reise über die Verpflegung und alltäglichen Gebrauchsgegenstände hinaus zur Verfügung gestellt hat, fiel zwar höher aus, als ich erwartet hatte, trotzdem muss ich dieses Geld ja nicht für Sachen ausgeben, die ich dann in zwei Tagen doppelt hätte. Allerdings ... «Ist es kompliziert, Wanderschuhe weiten zu lassen?»

  Von dem Blick, den Kjer mir jetzt zuwirft, hätte ich gern ein Foto. Oder vielleicht lieber doch nicht. Ich muss mich ja nicht ständig daran erinnern, wie blöd es war, diese überteuerten Dinger für meine Mini-Insel zu kaufen.

  «Synthetik oder Leder?», fragt er schließlich, ohne dass seiner Stimme die Überraschung anzuhören wäre, und dafür bin ich ihm ein wenig dankbar.

  «Leder.»

  «Wie lange trägst du sie schon?»

  «Seit heute Morgen.»

  Kjer antwortet nicht sofort, doch ihm ist deutlich anzusehen, dass es ihm schwerfällt, seinen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.

  «Ich weiß selbst, dass das nicht besonders klug war, okay? Ich bin davon ausgegangen, dass die Schuhe im Laufe der Zeit immer bequemer werden und nicht umgekehrt. Im Geschäft passten sie schließlich.»

  «Aber jetzt drücken sie?»

  «Ja», sage ich knapp. «Vermutlich hätte ich sie erst einlaufen müssen.»

  Überrumpelt hole ich Luft, als Kjer auf die Bremse tritt und den Wagen einfach am Straßenrand zum Stehen bringt. Schon wieder beugt er sich zu mir hinüber, diesmal, um meine Schuhe genauer ins Visier nehmen zu können.

  «Das sind Bergstiefel», stellt er fest und sieht mich dann an. Er ist noch nicht wieder zurückgewichen, und ich schließe für einen Moment die Augen, um mich nicht davon ablenken zu lassen, dass einer der attraktivsten Männer, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe, sich gerade dreißig Zentimeter von mir entfernt das Lachen verkneift.

  «Weiß ich selbst.»

  «Zieh sie erst mal aus.»

  Ich reiße die Augen wieder auf. «Ähm ...»

  Ich trage diese knöchelhohen Schuhe, seit ich in Kerry gelandet bin, und wir befinden uns in einem geschlossenen Auto. Ich denke nicht, dass ich in diesem Moment wirklich meine Schuhe ausziehen möchte. Gibt bestimmt bessere Wege, einen Mann zu bezaubern.

  Ohne meine Antwort abzuwarten, reißt Kjer jedoch die Fahrertür auf und läuft um die Motorhaube herum. Im nächsten Moment hat er die Beifahrertür geöffnet. «Na los. Zunächst einmal solltest du sicher sein, dass du die Schuhe nicht einfach zu klein gekauft hast. Dann kannst du dir jedes Weiten schenken.»

  «Ich war in einem Fachgeschäft ...»

  «Morgens oder abends?»

  «Vormittags.»

  Er seufzt deutlich hörbar. «Fachgeschäft», murmelt er, während er auf die Knie geht, nach meinem Bein greift und sich ohne Umschweife an den Schnürsenkeln zu schaffen macht. Mit einer Hand umfasst er meine Wade, während er mir den Schuh vom Fuß zieht. Ob Aschenputtel sich auch so unfassbar dämlich vorgekommen ist, als der Prinz ihren Fuß gemustert hat? «Socken mit Nähten», sagt er, «schon mal nicht so gut.» Dann holt er die Einlegesohle aus dem Schuh und legt sie auf den Asphalt. «Stell dich mal drauf.»

  Mittlerweile ist es ziemlich dunkel geworden. Der Wind bläst so heftig, dass Kjer die Sohle festhalten muss, bis ich in dem Licht, das aus dem Wagen fällt, meinen Fuß darauf abgestellt habe. «Passt genau», sage ich erleichtert.

  «Zu klein», widerspricht Kjer trocken. «Und dann auch noch Bergschuhe. Deine Zehen fühlen sich bestimmt an, als wäre ein Auto drübergefahren.»

  Das trifft es leider ziemlich exakt.

  Kjer stopft die Sohle zurück und reicht mir den Stiefel. «Heute Abend bekommst du nirgendwo mehr andere Schuhe, aber hoffentlich finden wir morgen was.»

  Was meint er mit wir? Will er etwa mit mir Schuhe kaufen gehen? «Wenn du mir sagst, wo ich einen Schuhladen finde ...»

  «In Castledunns gibt’s keinen Schuhladen. Aber ich kann dich morgen nach Cahersiveen fahren, da müsstest du Glück haben.»

  «Das musst du nicht.»

  «Wer sonst, wenn nicht ich?»

  «Ich könnte mir ein Taxi ...»

  Er grinst schon wieder.

  «Es gibt keine Taxen in Castledunns», stelle ich fest.

  Kjer nickt. «Ich fahr dich morgen nach Cahersiveen.»

  Damit ist die Sache wohl beschlossen.

  * * *

  Eine halbe Stunde später verstehe ich Kjers Grinsen deutlich besser. Castledunns ist nicht mehr als eine Ansammlung von Häusern, die sich in geringer Entfernung zur Küste einen sanft geschwungenen Hügel hinauf verteilen. Schon eine ganze Weile ließ sich rechts von uns immer wieder das Meer erahnen, jetzt führt die Straße zwischen Häusern auf der einen und einer niedrigen, breiten Mauer auf der anderen Seite direkt am Meer entlang.

  Als ich Kjer bitte, kurz anzuhalten, parkt er den Pick-up wie schon zuvor einfach am Straßenrand. Worauf sollte er auch achten müssen? Auf der ganzen Strecke haben wir kein einziges anderes Auto überholt, und kaum eine Handvoll kam uns entgegen. />
  Mit den Hüften lehne ich mich gegen die Mauer, hinter der zottiges Gras zum Meer hinunter abfällt. Der Wind, der über die Wellen fegt, bläst mir die Haare aus dem Gesicht. Es riecht nach Salz und nassen Felsen. Kein Stern ist durch die Wolkendecke zu sehen, doch im Licht der Straßenlaternen erkenne ich gerade noch die ersten Ausläufer der Wellen, die auf einen schmalen Streifen Sandstrand treffen. Ich meine, feine Gischt auf dem Gesicht zu spüren, in der Stille der Nacht dröhnt die Brandung so laut, als müssten die Wellen fünf Meter hoch sein. Mit beiden Händen stütze ich mich auf, weil mir plötzlich schwindelig wird. Heute Morgen noch Hamburg. Und jetzt?

  «Kann man ihn von hier aus sehen?»

  «Den Leuchtturm?» Kjer ist ebenfalls ausgestiegen. «Nein. Selbst wenn er noch in Betrieb wäre, die Insel liegt weiter südlich, hinter der Landspitze.»

  Das Schwindelgefühl verfliegt, und was sich jetzt in mir öffnet, trifft mich genauso unerwartet: Es war richtig herzukommen.

  Eine einzige Entscheidung hat mich aus Hamburgs überfüllten Straßen an die Küste des Nordatlantiks getragen. Mein bisheriges Leben verblasst vor dem Gefühl der mit weichem Moos bewachsenen Mauer unter meinen Händen. Dieser Moment hämmert mit einer solchen Wucht neue Eindrücke in mich hinein, dass die letzten Jahre mit einem Mal unwichtig, farblos, beendet erscheinen.

  Hier will ich sein. Hier und nirgendwo anders. Es war eine gute Entscheidung.

  Ein Leuchtturm, eine Insel und ich. Es wird ... es wird ...

  Ich trete einen Schritt von der Mauer zurück und stöhne auf.

  «Schuhe?», höre ich Kjer neben mir.

  Es wird unfassbar großartig werden, sobald ich neue Schuhe habe.

  [...]

  Impressum

  Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2020

  Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

  Zitat auf Seite 150 aus dem Song «Born to be Yours» von Kygo feat. Imagine Dragons. Songwriters: Kyrre Gørvell-Dahll, Dan Reynolds, Wayne Sermon, Ben McKee, Daniel Platzman.

  Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

  Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

  Coverabbildung Shutterstock, Annie Fu/Getty Images

  Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

  Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

  Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

  ISBN 978-3-644-00747-5

  www.rowohlt.de

  Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

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