Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition)
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Ich treffe mich mit Hugo zu einem Spaziergang über den verwunschenen historischen Lafayette Cemetery No. 1 im Herzen des Garden District. Im Schatten der Magnolienbäume warte ich auf ihn, während kleine Touristengruppen zu den interessantesten Grabsteinen geführt werden. Mit halbem Ohr höre ich einem der Fremdenführer zu.
»Könnt ihr euch denken, warum alle Gräber auf diesem Friedhof oberirdisch liegen?«, fragt er in die Runde. Als niemand antwortet, erklärt er: »Der Grundwasserspiegel in New Orleans ist deutlich höher als anderswo. Sobald man ein wenig in die Erde gräbt, wird es schlammig. Die Gräber würden mit Wasser volllaufen, die Särge buchstäblich schwimmen.«
Ein paar der Touristen verziehen ihre Gesichter, und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Die Gruppe setzt sich in Bewegung und bleibt vor einem weißen Mausoleum ein paar Meter weiter stehen.
»Na, mein Junge«, sagt Hugo, der auf einmal neben mir aufgetaucht ist, ohne dass ich es bemerkt hätte.
Wenn wir nebeneinanderstehen, ist er locker anderthalb Köpfe kleiner als ich. Im Gegensatz zu seinen sonst üblichen erdigen T-Shirts und schlabbrigen Shorts trägt er heute ein sauberes – wenn auch ungebügeltes – Hemd und eine lange Stoffhose.
Wir setzen uns langsam in Bewegung, darauf bedacht, den Touristengruppen nicht zu nahe zu kommen. Unser Weg führt uns an kleinen und großen, schlichten und verschnörkelten Gräbern vorbei.
»Also, mein Junge, was liegt dir auf der Seele?«, fragt Hugo und biegt in ein Gässchen ein, dessen Großteil im Schatten liegt.
»Ich glaube, ich brauche deinen Rat«, sage ich.
»Das trifft sich gut, denn ich wollte dir ohnehin einen geben«, erwidert er.
Ich runzle die Stirn. »In Bezug worauf denn?«
»Sag doch erst mal, was du auf dem Herzen hast, dann sehen wir, ob mein Rat passt«, sagt er und rückt seinen löchrigen Strohhut zurecht.
Ich bleibe verdutzt stehen. Was redet er da? Doch Hugo spaziert seelenruhig weiter. Beinahe bereue ich, dass ich ihn um Rat fragen wollte, irre, wie er ist. Mit ein paar großen Schritten habe ich ihn wieder eingeholt.
Ich räuspere mich. »Also, es geht um Bonnie.«
»Wusste ich’s doch«, sagt Hugo und fischt aus seiner Hosentasche eine Dollarnote, die er in seinen Geldbeutel steckt.
Ich verdrehe die Augen. Als ob. »Zwischen uns ist etwas passiert«, fahre ich fort.
»Jep.« Er zieht eine weitere Dollarnote aus der Hosentasche.
»Es war … es hat alles verändert, aber irgendwie auch nicht. Es ist schwierig zu beschreiben.«
»Es ist vor allem dann schwierig, wenn du versuchst, darum herumzureden, dass ihr miteinander geschlafen habt«, sagt Hugo, und ich werde rot. »Echt jetzt?« Er blickt mich an. »Ha! Das war nur geraten.« Er zieht eine der Dollarnoten aus seinem Geldbeutel und steckt sie zurück in die Hosentasche.
»Was tust du da?«, frage ich leicht ungeduldig, denn ein bisschen geht er mir auf die Nerven.
»Ich habe verschiedene Wetten mit mir abgeschlossen. Wenn ich gewinne, stecke ich einen Dollar in den Geldbeutel. Wenn ich verliere, kommt er zurück in die Hosentasche.«
Ich schüttle den Kopf, kann aber nicht anders, als laut aufzulachen. »Ich frage mich langsam, ob du wirklich qualifiziert bist, mir einen Rat zu geben.«
»Weil ich ein bisschen Spaß haben will auf meine alten Tage? Das ist sehr engstirnig von dir. Da kommt dein Vater durch.«
»Vorsicht«, sage ich. »Das ging unter die Gürtellinie.«
»Tut mir leid. Hier, nimm das als Entschuldigung.« Er reicht mir einen Dollar, und ich stecke ihn grinsend ein. »Ihr habt es also tatsächlich miteinander getrieben«, sagt er dann.
»Bitte«, sage ich, »ich nenne es meinetwegen beim Namen, aber sprich du nicht davon, dass irgendwelche Leute es ›miteinander treiben‹. Das ist mehr, als ich ertragen kann.«
Hugo grinst, nickt aber. »In Ordnung. Ihr habt also Liebe gemacht.«
Ich bin mir nicht sicher, ob es das besser trifft, gebe mich aber für den Moment geschlagen. »Haben wir. Und … also …«
»Hör auf, so herumzudrucksen. Was glaubst du denn, wie dein Vater entstanden ist? Unbefleckte teuflische Empfängnis?« Er reibt sich über einen imaginären Bart. »Lass mich mal überlegen. Das ist in der Tat nicht wahrscheinlich. Und es würde mich von jeder Verantwortung entbinden …«
Ich gehe einfach darüber hinweg. »Sie geht mir seither aus dem Weg. Aber nicht einfach nur so. Sie weigert sich, richtig mit mir zu sprechen. Sie schiebt die Band vor, allerdings glaube ich ihr kein Wort.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es gespürt habe.«
»Den Sex? Das ist relativ normal.«
»Nein, nicht den Sex. Dass da etwas zwischen uns ist.«
»Und wenn es einseitig ist?«, fragt Hugo.
»Was ist dein Plan hier, Hugo?« Ich kann nichts dagegen tun, dass meine Stimme genervt klingt. Er ist überhaupt keine Hilfe.
»Sichergehen«, sagt er. »Kann es sein, dass da zwar etwas ist, die Sorge um die Band aber echt ist?«
»Dann muss ich ihr beweisen, dass die Band nicht in Gefahr ist. Meinen Fehler wiedergutmachen.« Schließlich ist es zu einem Großteil meine Schuld, dass sich die Band vor einigen Monaten beinahe aufgelöst hätte. Dass wir den größten Gig in der Geschichte von After Hours nicht gespielt haben. Dass wir den Durchbruch verpasst haben. »Al Avril hatte uns als Opener für ein riesiges Konzert vorgesehen«, erkläre ich. »Und ich hab’s verkackt.«
Hugo denkt nach. »Okay, das war nicht so schlau.«
»Ach wirklich?« Als wüsste ich das nicht selbst. Als würde ich es nicht selbst täglich bitter bereuen.
»Darum kümmern wir uns dann. Erst müssen wir herausfinden, ob das tatsächlich das Problem ist. Und mit ›wir‹ meine ich dich. Ich kann dir nicht dabei die Hand halten.«
Wenn überhaupt, erleichtert mich das. »Gestern war ich bei ihr«, beginne ich. »Habe ihr mein Herz ausgeschüttet. Sie ist völlig panisch aufgesprungen, konnte mir nicht in die Augen sehen. Und als ich gegangen bin, ist sie weinend zusammengebrochen. Es hat mir alles abverlangt, nicht auf dem Absatz kehrtzumachen, um sie zu trösten. Aber sie hatte mich so vehement weggeschickt, dass ich mich nicht getraut habe.«
Hugo steckt eine Dollarnote in seinen Geldbeutel.
»Wofür war das nun?«
»Du hast recht. Und ich auch. Es ist nicht einseitig.«
»Siehst du«, sage ich voller Erleichterung.
»Wer so viel emotional investiert, der empfindet etwas.«
»Und jetzt?«
»Hier haben sie übrigens eine Szene von Interview mit einem Vampir gedreht«, sagt Hugo und bleibt vor einem weißen Mausoleum stehen, das aussieht wie eine kleine metallene Hütte.
»Nie gesehen«, gebe ich zu.
»Ich auch nicht. Habe es bei einem Fremdenführer aufgeschnappt.«
Ich atme einmal tief ein, versuche, die Fassung zu wahren. Ich schütte ihm mein Herz aus, und Hugo redet über Filme.
»Und wie gehe ich nun vor?«, frage ich. »Ich kann sie ja schlecht dazu zwingen, sich mir zu öffnen.«
»Hm. Das ist die Frage, nicht?«, sagt Hugo. »Kannst du ihr etwas anbieten?«
»Du meinst, ich soll mir ihre Ehrlichkeit erkaufen?«, frage ich einigermaßen perplex.
»Ich würde es ›Tauschgeschäft‹ nennen.«
Ich verstehe immer noch nicht, was er meint.
»Erzähl du ihr ein Geheimnis von dir. Das macht dich verletzlich und gibt ihr möglicherweise die Sicherheit, sich dir anzuvertrauen.«
»Und du denkst, das funktioniert?«, frage ich.
»Wenn ja, kriege ich jedenfalls einen Dollar. Ich glaube, das Entscheidende ist, auf einer Ebene zu sein. Wenn sie sich nicht traut, dir zu sagen, was los ist, liegt das womöglich daran, dass sie sich verwundbarer fühlt, als du es bist.«
Mir entfährt ein leicht bitteres Lachen. »Im Moment habe ich eher das Gefühl, dass ich derjenige bin, der sich von morgens bis abends zum Affen macht, seine Emotionen auf der Zunge trägt, Ketten verschenkt und sich wieder und wieder um Kopf und Kragen redet.«
»Das mag schon sein«, sagt Hugo. »Aber du kennst nun mal nur deine Sicht der Dinge, oder?«
Ich denke einen Augenblick nach. Es stimmt. Natürlich kenne ich ausschließlich meine Perspektive. Doch genau deswegen habe ich versucht, mit Bonnie zu sprechen.
»Ich denke, du solltest es einfach mal ausprobieren«, sagt Hugo, und obwohl ich ihm den Triumph eigentlich noch nicht gönne, nicke ich. Sofort findet eine weitere Dollarnote den Weg aus seiner Tasche in den Geldbeutel.
»Das kannst du unmöglich vorhergesehen haben!«
»Das vielleicht nicht. Aber ich habe geahnt, dass ich am Ende genau das Richtige sagen würde. Und ich finde, das ist mir bravourös gelungen.«
Ich schüttle amüsiert den Kopf. »Du bist der seltsamste Mensch, der mir je untergekommen ist.«
»Na, na, ist das eine Art, mit seinem Großvater zu reden?«, fragt Hugo mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen.
»Danke«, sage ich. »Ich werde es auf jeden Fall ausprobieren.« Denn eine andere Möglichkeit sehe ich im Moment tatsächlich nicht.
»Lass mich wissen, wie es gelaufen ist«, erwidert er. »Und bevor ich es vergesse: Faye würde dich und die Kinder gerne zu uns zum Essen einladen. Sie schlägt einen der nächsten Samstage vor. Oh, und Al und ich kennen uns übrigens schon ewig.«
Ich sehe ihn sprachlos an. Damit rückt er jetzt heraus?
»Al Avril?«, sagt er, weil er meinen offen stehenden Mund offenbar nicht einordnen kann. »Ich würde ihn mal anhauen, vielleicht einen Gefallen bei ihm einlösen …«
»Einen Gefallen …« Ich kann kaum glauben, was ich da höre.
»Ich habe ihn mit seiner ersten Frau zusammengebracht. Und mit seiner dritten. War dieselbe. Die beste, die er je hatte. Dumm nur, dass er das immer erst gemerkt hat, wenn sie schon wieder weg war.« Er zuckt mit den Schultern, als hätte er nicht gerade von dem mächtigen Al Avril gesprochen. Einem der einflussreichsten Clubbesitzer der Stadt.
»Danke«, sage ich und sehe ihn mit vor Rührung brennenden Augen an.
»Nichts zu danken, mein Junge«, sagt er. »Das ist das Mindeste, wo ich es doch versäumt habe, dir als Kind dauernd Dollars zuzustecken. Irgendwann muss man mit seinen großväterlichen Pflichten ja mal anfangen.«
Und ohne Vorwarnung zieht er mich in eine Umarmung. Er klopft mir unbeholfen auf den Rücken, und ich tue es ihm gleich. Dann spüre ich, wie er mir etwas in die Hosentasche stopft.
»Der war noch übrig von der Wette, die ich verloren hatte«, sagt er, und ich meine zu sehen, dass er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischt.
37 – Bonnie
Heute
Unter meinen Schritten vibriert die metallene Leiter leicht. Das Geländer hat sich tagsüber unter der sengenden Sonne aufgeheizt, sodass ich mich mit meiner rechten Hand kaum festhalten kann. In der Linken trage ich ein großes Einweckglas. Ich bin erleichtert, als ich hinter der Mauer die letzten Meter nach unten springe. Sicher lande ich auf dem Kies.
Dies hier ist eigentlich Links Ort. Hier kommt er her, um mit Blythe zu sprechen. Um sie auf dem Laufenden zu halten, ihr von der Band, von Jasper und den Kindern zu berichten. Ich weiß das, weil er es mir erzählt hat. Selbst bin ich noch nie hier gewesen, aber ich schätze, wenn es für Link funktioniert, kann es nicht schaden, es mal auszuprobieren. Denn eines ist sicher: Ich muss mit ihr sprechen. Muss ihr erzählen, was passiert ist, mich bei ihr entschuldigen. Wahrscheinlich weiß sie es ohnehin. Doch sie soll erfahren, wie unendlich leid es mir tut. Dass es nie wieder geschehen wird, obwohl die Sehnsucht mich von innen heraus auffrisst. Denn wenn ich nicht darüber spreche, explodiere ich irgendwann. Vor Wut, vor Frustration.
Ich überquere die stillgelegten Streetcar-Schienen und laufe über den Schotter zum Ufer des Mississippi. Die Sonne geht inzwischen unter, steht allerdings noch hoch genug, um als tief orangefarbene Kugel die Umgebung in ein sanftes Licht zu tauchen.
Ich räuspere mich. Einmal, zweimal. Lasse mich auf die Steine sinken. Das Plätschern des graubraunen Flusses hat eine beruhigende Wirkung auf mich, auch wenn mir das Herz bis zum Hals schlägt.
»Also«, sage ich, »ein bisschen albern ist es ja schon.«
Ich schlucke.
»Hi, Blythe.« Ihren Namen auszusprechen fällt mir schwerer als sonst. Das ist nur natürlich angesichts der Schwere der Schuld, die ich auf mich geladen habe.
Wieder räuspere ich mich. »Ich hab dich lieb. Ich hoffe, du weißt das.« Obwohl ich mich in den letzten Tagen ab und zu bei dem Gedanken erwischt habe, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich sie nie kennengelernt. Sie nicht und Jasper nicht. Ich schlucke, denn so etwas will ich eigentlich nicht denken.
Ich setze mich in den Schneidersitz, das Einweckglas auf dem Schoß.
»Ich habe …« Meine Stimme bricht, und ich nehme einen neuen Anlauf. »Ich habe mit Jasper geschlafen«, sage ich. »Und ich weiß, ich kann es nicht zurücknehmen, aber ich will, dass du weißt, wie unendlich leid es mir tut.«
Tränen brennen hinter meinen Augen. Als hätte ich in der letzten Zeit nicht schon genug geweint.
»Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Das ist mir klar. Aber du musst mir glauben, wenn ich sage, dass nichts auf der Welt mir mehr bedeutet als unsere Freundschaft. Du warst so ein wichtiger Mensch für mich. Du warst mein Vorbild, mein Fels in der Brandung.«
Ich halte inne, horche in mich hinein. Was auch immer Link hier findet, für mich scheint es nicht zu funktionieren. Die Reue, die Sehnsucht, die unbändige Wut auf meine Situation, unverändert kämpfen die Gefühle in mir miteinander.
»Wir haben uns geküsst«, fahre ich fort, schließlich habe ich nichts zu verlieren. »Kurz, bevor du gestorben bist. Während du um dein Leben gerungen hast, haben wir uns geküsst. Ich habe es geliebt. Und mich selbst dafür gehasst. Das musst du mir glauben. Bei Jasper war es die schiere Überforderung. Bei mir war es Liebe, die nie hätte sein dürfen. Ich weiß das, und ich versuche, stark zu sein. Aber manchmal ist mein Herz stärker als mein Wille. Dafür hast du jedes Recht, mich zu verabscheuen.«
Hinter mir höre ich knirschende Schritte auf dem Schotter. Dann: »Bonnie?«
Ich drehe mich um. Link steht vielleicht zwanzig Meter von mir entfernt und blinzelt in die untergehende Sonne.
»Was machst du denn hier?«, fragt er.
Er hat mich ertappt. Ich spüre, wie sich eine unangenehme Hitze in mir ausbreitet.
»Ich …«
Link kommt näher, ein überraschtes Lächeln im Gesicht. »Das ist ja ein Zufall«, sagt er.
»Ich hatte keine Ahnung, dass du noch hierherkommst«, murmle ich und versuche, das Glas vor seinen Blicken abzuschirmen, »jetzt, wo du nicht mehr hier wohnst …«
»Ich bin immer hierhergekommen.«
»Sorry, ich wollte dich nicht stören. Ich kann wieder gehen.«
»Nein, bleib«, sagt er. Er ist nun bei mir angekommen und mustert mich mit sorgenvoller Miene. »Ich bin froh, dich hier zu treffen.« Er setzt sich neben mich. »Was ist mit dir?«
»Ach nichts. Ich wollte nur … mit Blythe sprechen«, sage ich leise.
»Und?«
»Was und?«
»Hat es geholfen?«
»Nein.«
»Das tut es selten«, sagt er und lacht leise.
»Warum machst du es dann?«
»Aus Gewohnheit …«
Einen Moment schweigen wir.
»Was hast du dabei?«, fragt er dann und zeigt auf mein Glas, das ich immer noch auf dem Schoß habe.
»Sachen, die mich an sie erinnern.« Ich schlucke.
»Zeig mal.«
Ehe ich weiß, was ich tue, reiche ich ihm das Glas. »Ich habe seit Jahren nicht mehr hineingesehen.«
»Seit Jahren?«, fragt er.
»Seit wir die Asche verstreut haben.«
Er schraubt den Deckel auf.
»Unsere Freundschaftsbänder«, sage ich, als Link die beiden Kordeln herausholt.
»Und was haben wir hier?« Er hebt einen vollgekritzelten Block hoch.
»O Gott, gib den her«, sage ich. »Da stehen unsere gesammelten Geheimnisse drin.«
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»Denkst du, auf diese Weise kriegst du ihn jemals wieder?«, fragt Link grinsend.
»Glaub mir, du willst nicht lesen, was in Teenagerköpfen vor sich geht«, sage ich und muss ein bisschen lachen, obwohl es mir schwer ums Herz geworden ist. »Was ist noch drin?« Inzwischen überwiegt so etwas wie Neugierde.
»Eine Kassette.« Er holt ein Tape hervor, dessen Band vollkommen verknotet heraushängt.
»O Gott!«, sage ich und vergrabe mein Gesicht in den Händen. »Weißt du, was da drauf ist?« Ich muss lachen. »Das sind Songs, die wir aus dem Radio aufgenommen haben.«
»Aus dem Radio?«, fragt Link und sieht mich fragend an.
»Das stammt aus einer Zeit, bevor wir eine Internetverbindung hatten. Sobald im Radio ein Song kam, den wir mochten, haben wir auf Record gedrückt. Manchmal sind es nur die letzten zwanzig Sekunden eines Songs. Oft quatscht jemand rein. Wir haben die Kassette trotzdem so oft gehört, dass sie irgendwann so aussah.« Ich ziehe an dem kaputten Band, das zwischen meinen Fingern knistert.
»Wie surreal«, sagt Link, und das ist es wohl. Dann holt er den nächsten Gegenstand aus der Kiste. »Eine abgebrochene Rakete?«, fragt er. »Wollen wir sie zünden?«
»Nein!«, sage ich etwas zu schnell und zu vehement. »Die ist bei Blythes und Jaspers Hochzeit übrig geblieben. Sie hat sie mir geschenkt und gesagt, wir zünden sie, wenn …« Mein Hals wird auf einmal eng. »… wenn ich so glücklich bin wie sie.«
»Das ist so typisch«, sagt Link und lacht. »Bedeutsame Rituale, Glück teilen. Das ist zu hundert Prozent Blythe.«
Er hat recht. Genau so war sie. Und während sie Glück teilen wollte, kralle ich es mir und beanspruche es für mich allein.
»Und dann ist da noch das hier.« Link zieht einen in der Mitte gefalteten Briefumschlag aus dem Glas.
Mit einer schnellen Bewegung reiße ich ihn ihm aus der Hand. Er sieht mich etwas überrascht an.
»Ich habe ihn noch nicht gelesen«, sage ich kleinlaut und stopfe ihn in meine Hosentasche.
»Ist er von …«
»Ja.« Ich fühle mich auf einmal richtig beschissen. Ein Brief von Blythe. Von Links Schwester. Für ihn muss es Wahnsinn sein, ihn nicht zu lesen. Aber nachdem, was ich ihr angetan hatte, habe ich es nicht übers Herz gebracht. Ihn nicht zu lesen war anfangs so etwas wie eine Strafe. Ich hatte ihre Abschiedsworte nicht verdient. Dieser Gedanke manifestierte sich in meinem Bewusstsein. Bis heute habe ich es nicht über mich gebracht, ihn zu öffnen.