Love is Loud – Ich höre nur dich
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»Hier lässt es sich aushalten, oder?«, fragt Faye.
Ich nicke langsam, immer noch hypnotisiert von dem Anblick, der sich mir links und rechts bietet. Von hinten höre ich ein Schnauben, aber für den Moment will ich mich nicht von Hugos Laune irritieren lassen.
»Die Sklavenhalter haben es hier auch gut ausgehalten, nicht wahr, Faye?«, sagt Hugo.
»Ja, Hugo, ich weiß. Aber lass doch ein einziges Mal die Geschichte Geschichte sein, in Ordnung?«
»Ich meine ja nur, die Sklaven fanden es vermutlich nicht so prickelnd hier.«
»Und? Haben wir Sklaven?«, fragt Faye und blickt in den Rückspiegel.
Hugo lacht leise, doch es wirkt nicht wie der Ausdruck von Freude. Ich schlucke und male mir einen höhenverstellbaren Schreibtisch mit Familienfotos darauf aus. Vielleicht eine Bürotasse mit Motivationsspruch, eine kleine Grünpflanze.
Wir biegen noch ein paarmal ab, bis ich vollkommen die Orientierung verloren habe. Dann halten wir vor einem Haus.
Es ist ebenso prachtvoll wie die anderen Villen, die ich auf der Fahrt bewundert habe. Hinter einem verschnörkelten schwarzen Eisenzaun blicke ich auf ein hellgraues Herrenhaus, das mit weißen Ornamenten geschmückt ist. Im ersten Stock stützen weiße korinthische Säulen einen prächtigen Balkon. Die Fenster reichen vom Boden bis zur Decke und werden links und rechts flankiert von schwarzen Fensterläden. Und sogar die Fenster selbst sowie die Eingangstür sind mit weißen filigranen Giebeln verziert.
»Können wir reingehen?«, fragt Hugo kurz angebunden und wuchtet bereits mein Gepäck aus dem Kofferraum. »Einen Vorteil muss es ja haben, dass wir in diesem absurden Haus wohnen. Und der heißt Klimaanlage.«
Faye gibt einen Code ein, und Hugo öffnet das Eisentor. Ich nehme ihm mein Gepäck ab, was er nur allzu bereitwillig geschehen lässt, und folge den beiden über den gepflasterten Weg. Zu meiner Rechten plätschert ein wunderhübscher kleiner Springbrunnen. Dahinter ragt ein monströser Baum gen Himmel.
»Was ist das für ein Baum?«, frage ich an Faye gewandt. Auch von seinen Ästen hängt dieser gräulich grüne Fluff herab.
»Quercus virginiana«, sagt Hugo.
»Eine Virginia-Eiche«, übersetzt Faye. »Im Süden nennen wir sie auch Lebenseiche. Sie ist der Grund, warum dein Zimmer leider nicht viel Licht abbekommt. Und warum wir den Keller nicht ausbauen können. Die Wurzeln reichen zu tief in die Erde. Victor und ich würden sie gern fällen. «
»Nur über meine Leiche«, sagt Hugo. »Bevor das passiert, kette ich mich daran fest.«
Es ist das erste Mal, dass ich auf Hugos Seite bin. Denn es wäre eine Schande, wenn dieser prachtvolle Baum gefällt würde.
»Sei nicht so dramatisch«, sagt Faye. »Die Stadt stimmt dem mit Sicherheit ohnehin nicht zu. Bei so alten Bäumen liegt es nicht in der Hand der Hausbesitzer.« Sie zuckt mit den Schultern und sperrt die Haustür auf.
»Und was ist das, was von den Ästen herabhängt?«, frage ich, an Hugo gewandt. Vielleicht finden wir darüber eine gemeinsame Ebene.
»Tillandsia usneoides«, sagt er. Doch er scheint meinen fragenden Blick zu bemerken und fügt hinzu: »Man nennt es auch Louisianamoos. Oder Feenhaar.«
»Pass auf, jetzt erzählt er dir gleich die Legende dazu. Lass sie erst mal ankommen, Hugo. Auspacken, duschen, ihre Familie anrufen.«
Ich bin ein bisschen enttäuscht, denn ich hätte gern die Legende dazu gehört. Aber vielleicht ergibt es sich ein andermal. Und die Vorstellung, mir den Flugzeugmief abzuwaschen, ist tatsächlich äußerst verlockend.
»Keine Sorge«, sagt Hugo. »Ich habe nicht vor, irgendjemanden mit meinen Altherrengeschichten zu langweilen.«
Er marschiert an uns vorbei ins Haus. Mir fällt auf, dass er tatsächlich leicht humpelt. Im nächsten Moment ist er verschwunden.
2
Lincoln
Einmal pro Woche hole ich meine vierjährige Nichte Maya bei ihrer Tagesmutter Phoenix ab. Phoenix lebt in Tremé, meinem liebsten Stadtviertel von New Orleans, und ist eine Freundin der Familie. Sie passt auf die Kleine auf, seit mein Schwager Jasper sie bei ihren Drag-Auftritten in einem Burlesque-Schuppen auf dem Klavier begleitet hat.
Wie immer bin ich mit meinem klapprigen Fahrrad unterwegs, und wie immer freut sich Maya, mich zu sehen. Ich lasse sie auf meinem Fahrradsattel reiten unter der Bedingung, dass sie sich gut an mir festhält, während ich sie schiebe. Es ist unser Geheimnis.
Jasper lebt mit Maya und ihrem siebenjährigen Bruder Weston in einem kleinen kreolischen Cottage mitten in Tremé. Ich lehne mein klapperndes Fahrrad vorsichtig gegen die Veranda und hebe Maya vom Sattel.
»Hast du Hunger? Wir haben Zeit für ein Sandwich«, sage ich und schließe die Tür auf. Drinnen ist es angenehm kühl, und ich lasse meinen Gitarrenkasten von der Schulter auf eins der alten Ledersofas sinken.
Maya schüttelt den Kopf. Sie spricht nicht gern.
»Hat Phoenix euch was gemacht?«, frage ich.
Wieder schüttelt sie den Kopf.
»Aber du hast gegessen?«
Jetzt nickt sie .
»Pop-Tarts?«
Erneutes Nicken. Dann schleudert sie die Schuhe von den Füßen und läuft schnurstracks in ihr Zimmer.
»Mach es dir nicht zu gemütlich, in fünfzehn Minuten müssen wir zur Bandprobe«, rufe ich ihr hinterher, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich noch hört. Maya hat die Gabe, die Welt einfach auszublenden, wenn sie ihre Ruhe haben möchte. Wir proben in einer Musikschule in der Nähe. Wenn es nicht zu lange geht, sind Jaspers Kinder oft dabei.
Ich nehme den leicht ramponierten Seesack vom Gepäckträger meines Fahrrads, der meine gesamte Wäsche beinhaltet – abgesehen von den Klamotten, die ich an meinem Körper trage. Wenn ich Maya einmal pro Woche, wenn Jasper länger Klavierunterricht gibt, bei Phoenix abhole, darf ich die Waschmaschine benutzen. Ich könnte meine schmutzigen Klamotten mit Sicherheit auch hier waschen, würde ich Maya nicht abholen, aber so habe ich kein schlechtes Gewissen.
Ich kippe den Inhalt meines Seesacks und ein giftig aussehendes grünes Gel in die Maschine und schalte sie ein. Nach der Bandprobe werde ich Jasper und die Kinder zurückbegleiten und die Wäsche mitnehmen.
Wir haben noch zehn Minuten, und da ich weiß, dass Jasper nach einem Tag in der Musikschule inklusive Bandprobe fix und fertig ist, schnappe ich mir den überquellenden Wäschekorb und beginne in der engen Waschküche die sauberen Kleidungsstücke zusammenzulegen. Wenn man bedenkt, dass Jasper ganz allein für Westons und Mayas Erziehung verantwortlich ist, ist es umso beachtlicher, wie ordentlich und organisiert das Haus ist. Ich bewundere Jasper dafür, dass er das alles hinkriegt – die Musik, die Kinder, sich selbst. Er hat sich kein einziges Mal beschwert. Natürlich, anfangs war er traurig. Doch er war vor allem für die beiden da. Und ich für ihn. Nach und nach wuchsen sie wieder zu einer Familie zusammen, in der zwar ein fettes Loch klafft – eines, das einen regelrecht anschreit, wenn man weiß, wie es früher war –, aber eine Familie, die glücklich ist. Zumindest nach außen. Wie es in Jasper aussieht, weiß ich nicht, allerdings versuche ich, ihm der beste Schwager zu sein, der in mir steckt. Und der beste Onkel für die Kinder.
»Fünf Minuten«, rufe ich in Mayas Zimmer. Sie hat zwar noch kein Zeitgefühl, aber zumindest eine ungefähre Ahnung davon, dass fünf Minuten nicht allzu viel sind. »Nimmst du dein Malzeug mit?« Weston, der bereits in die zweite Klasse geht, hat meistens noch Hausaufgaben zu erledigen. Doch Maya muss sich selbst beschäftigen, damit sie sich nicht zu Tode langweilt.
Auf dem Klavier im Wohnzimmer liegen zwei Ohrenschützer, die ich in Mayas Rucksack stecke. Wenn die Kinder zur Bandprobe oder zu Gigs kommen, besteht Jasper darauf, dass sie sie aufsetzen. Daneben steht das Schwarz-Weiß-Foto von Blythe. Es ist das gleiche, das ich für die Trauerfeier ausgewählt habe, weil sich sonst keiner dazu imstande sah. Es stammt aus einer glücklichen Zeit. Sie blickt lächelnd über ihre Schulter in die Kamera und sieht wunderschön aus. Ihr dunkelblondes Haar weht im Wind, und Sonnenstrahlen streifen ihr Gesicht. Ich fahre mit dem Finger einmal über das Foto, um den Staub abzuwischen. Meine Schwester. Meine kl
uge, schöne Schwester.
Dieser ungeheure Schmerz, der einem die Luft zum Atmen nimmt und einem das Gefühl gibt, das Leben sei vorbei, nimmt zwar irgendwann ab – die Welt dreht sich weiter, und man lernt, aufs Neue zu lachen –, aber dennoch schnürt es mir jedes Mal die Kehle zu, ein Bild von ihr zu sehen. Ich lasse mich auf den Klavierhocker sinken und schlage mit der linken Hand einen Ton an. Er durchschneidet die Stille auf sanfte, heilsame Weise. Etwas, woran sich die Erinnerungen festhalten können. Deswegen spiele ich ihn wieder und wieder.
Jaspers Klavier muss dringend gestimmt werden. Das F, das durch den Raum hallt, hat einen seltsam verzerrten, beinahe metallischen Klang. Ich nehme mir fest vor, Geld für einen Klavierstimmer zusammenzukratzen. Auch wenn ich gerade nicht weiß, woher ich es nehmen soll. Doch es findet sich immer eine Lösung. Vielleicht bitte ich meine Eltern um Hilfe. Nicht, dass bei ihnen viel zu holen wäre, aber manchmal kann ich mir ein bisschen was leihen.
»Kommst du, Maya?«, rufe ich mit einem Blick auf die Wanduhr. »Wir müssen uns wirklich beeilen!« Ich verstehe gar nicht, wo die Zeit hin ist. Aber wie jede Woche sind wir auf einmal viel zu spät dran.
Beim zweiten Chorus haben wir unseren Sound wieder. Die ersten Takte waren ein bisschen steif, aber jetzt fliegen meine Finger über das Griffbrett der Gitarre, und meine Stimme ist auch wieder voll da. Ich orientiere mich an Jaspers Begleitung und spiele nur einzelne Akkorde dazu. Bonnies Kontrabass gibt einen schnalzenden Rhythmus vor, und Curtis’ Bewegungen am Schlagzeug sind eine faszinierende Mischung aus Dreschen und Streicheln.
»This is all that I want«, singe ich, und Bonnie stimmt mit ein. »All that I need. A little bit of melody, some groove and a beat.«
Es ist unser fetzigster Song, den wir uns meist bis zum Ende eines Abends aufheben.
Nach dem zweiten Chorus spielt Sal eins seiner berühmten Trompetensoli, und obwohl das hier nur eine Probe ist, reißt es uns alle mit. Jasper und ich begleiten ihn mit vereinzelten Akkorden, und Curtis streicht sanft über seine Becken. Selbst Weston und Maya blicken auf. Maya klatscht – auf zwei und vier, wie ich es ihr beigebracht habe. Die Melodien, die Sal spielt, sind so pointiert, so durchdacht und – ich kann es nicht anders sagen – rund. Wüsste ich nicht, dass er in diesem Moment improvisiert, ich könnte schwören, es ist vorkomponiert.
Wir sind alle leidenschaftliche Musiker. Berufsmusiker, die sich mit anderen Jobs über Wasser halten, wenn es sein muss. Sal ist jedoch mit Abstand der Beste von uns. Eigentlich hätte er es schon längst über die Frenchmen Street hinaus schaffen und mit berühmten Bands oder Orchestern durch die Welt touren müssen. Aber Sal ist immer noch hier. Und obwohl wir keine Ahnung haben, warum er mit uns spielt, sind wir doch froh, dass er Teil der Band ist.
Wir sind im absoluten Flow. Jeder von uns spielt sich in eine Art Trance, die in der musikalischen Kommunikation ihren Ausdruck findet. Wir sind laut, wir sind glücklich, wir sind richtig gut. Der Klang von New Orleans vermischt sich in unserem Spiel mit Singer/Songwriter-Einflüssen, Funk und Blues. Es ist unser Sound, der uns zusammengebracht hat und zusammenhält. Ein Band, das dicker ist als alles, was ich kenne, als alles, was ich je erlebt habe. Es ist ein erhabenes Gefühl – man kann es kaum anders beschreiben als den Ausdruck von allem, was uns ausmacht. Pompös und wild. Schmerzhaft und schön. Arm und doch so reich. Wir haben so gut wie nichts, und doch haben wir in diesem Moment alles.
Am Abend sitzen wir zusammen im Garten hinter Jaspers Haus. Als Blythe sich noch um die Pflanzen kümmerte, war dieser Ort eine richtige Oase. Blüten überall. Jetzt ist er ziemlich überwuchert. Selbst der alte Wohnwagen in der hinteren Ecke, der schon seit Blythes und Jaspers Einzug hier steht, und von dem niemand so recht weiß, wohin damit, ist bereits zur Hälfte von irgendwelchen Ranken verdeckt .
»Glaubt ihr, Sal ist genervt, dass wir ihn jedes Mal wieder fragen, ob er mitkommen will, obwohl völlig klar ist, dass er ablehnt?«, fragt Bonnie in die Runde.
Wir wissen so gut wie nichts über unseren Trompeter. Er ist bei jeder Probe und bei jedem Gig dabei, danach verschwindet er allerdings Gott weiß wohin.
»Möglich«, sagt Jasper und zuckt mit den Schultern. »Aber ich fände es, ehrlich gesagt, noch komischer, wenn wir ihn nicht mehr fragen würden.«
»Er kann ja auch einfach Bescheid sagen, wenn wir ihm auf die Nerven gehen.« Curtis ist meistens der Pragmatischste von uns allen. Nur manchmal brennt bei ihm etwas durch. Doch seit einiger Zeit ist es besser geworden. Ungefähr seit er angefangen hat, mit seiner Mitbewohnerin zu schlafen. Aber diese Beobachtung teile ich nicht mit ihm.
»Meint ihr, er hat eine Familie?«, fragt Bonnie weiter. Es ist nicht das erste Mal, dass wir über Sals Privatleben spekulieren.
»Vielleicht eine, die nichts über ihn weiß. Und jedes Mal, wenn er zu Hause gefragt wird, ob er mitessen will, grunzt er und verschwindet«, schlage ich vor, und alle lachen. »Apropos zu Hause …« Ich stehe auf und strecke mich. Mein Rücken knackt. Das kommt von der unbequemen Position, in der ich den Großteil des Tages verbracht habe. Mit meiner Gitarre auf dem Schoß auf dem Steinboden vor Saint Mary’s im French Quarter. Aber es hat sich gelohnt. Die Touristensaison läuft gerade wieder an, und heute waren die Passanten ziemlich spendabel. Die Monate der Entbehrung scheinen endgültig vorbei zu sein.
»Vergiss deine Sachen nicht«, sagt Jasper und nickt mir zu.
»Danke, dass ich die Waschmaschine benutzen durfte«, setze ich an, aber er winkt ab.
»Jederzeit, Mann, das weißt du doch. «
Ich bin froh, dass Jasper sich nicht fragt, warum ich keine eigene Waschmaschine habe. Warum kein Geld für den Waschsalon. Er darf nichts von meiner Wohnsituation erfahren. Und vor allem darf er nicht herausfinden, dass ich keine Alternative habe. Dass ich mir nicht einfach irgendwo ein Zimmer mieten kann, weil mir das Geld fehlt. Denn dann müsste ich erklären, wieso. Und das könnte ziemlich in die Hose gehen. Ich werfe Jasper noch einen letzten Blick zu und verschwinde nach drinnen.
3
Franzi
Das also ist ein Jetlag. Ich bin vollkommen fasziniert. Es ist halb fünf Uhr morgens, und ich liege hellwach im Bett. Durch die Fensterläden dringt nicht der vorsichtigste, zaghafteste Lichtschein. Dieser Tag ist noch so weit davon entfernt, einer zu werden, dass ich regelrecht orientierungslos bin. So fühlt es sich an. Wenn man mit dem Wohnwagen nach Italien fährt, weiß man vielleicht im ersten Moment nicht, wo man ist, wenn man am nächsten Tag davon aufwacht, dass man den Ellenbogen des kleinen Bruders im Gesicht hat. Aber man weiß immerhin, dass es Tag ist.
Ich wälze mich auf die Seite. Vielleicht kann ich noch ein bisschen dösen? Aber nein, natürlich nicht. Mein Körper glaubt mir nicht, dass noch Schlafenszeit ist. Und mein Kopf ist sich, ehrlich gesagt, auch nicht ganz sicher, ob die Tage in New Orleans nicht vielleicht einfach in der Finsternis beginnen.
Es hat keinen Zweck. Ich gebe auf. Dann wird es eben ein langsames Annähern an den Rhythmus hier. Im Dunkeln taste ich nach meiner Nachttischlampe und knipse sie an. So richtig habe ich mein Zimmer gestern durch den Nebel dieser erschlagenden Müdigkeit und der Nervosität gar nicht wahrgenommen. Nachdem Faye mir alles gezeigt hatte, bin ich einfach nur in mein duftendes Bett gefallen. Es drangen noch leise Stimmen von unten zu mir herauf. Kurz glaubte ich, Faye und Hugo würden sich streiten, aber das kann auch ein Traum gewesen sein. Denn daran, dass Hugos Unfreundlichkeit mich bis in meinen Schlaf verfolgt hat, erinnere ich mich. Es war ein wirrer Traum. Jedes Mal, bevor ich ihm etwas entgegensetzen konnte, ermahnte meine Mutter mich, zu zählen. Und das tat ich. Doch immer, wenn ich bei zehn angekommen war, hatte Hugo sich schon wieder eine neue Gemeinheit ausgedacht, auf die ich nicht reagieren konnte, weil ich erst zählen musste.
Mein Zimmer ist nicht sonderlich groß, aber gemütlich und stilvoll eingerichtet. Mobiliar und Deko sind in Weiß, Türkis und Gold gehalten. Ein weißer Ziertisch mit geschwungenen, goldenen Beinen steht unter einem goldgerahmten Spiegel. Von dem antiken Holzschreibtisch mit goldenen Beschlägen blickt man bei Tageslicht durch die Krone der Lebenseiche auf die von Bäumen gesäumte Straße. Davor steh
t ein passender Holzstuhl, der mit türkisfarbener Seide bezogen ist. Links neben dem Bett führt eine Tür in einen begehbaren Kleiderschrank. Doch gestern war ich nicht mehr in der Lage, alles auszupacken, sodass mein Gepäck nach wie vor am Fußende des Bettes steht. Es ist ein weißes Metallgestell, das über und über mit türkisfarbenen Zierkissen belegt war.
Da ich nun einmal wach bin, beschließe ich, meine Mutter anzurufen. Gestern hatte ich nur noch Kapazitäten für eine kurze WhatsApp-Nachricht, die ich auch an meine beste Freundin Lara geschickt habe. Und so angle ich nach meinem Handy und betätige die Videocall-Funktion.
»Franziska!«, schallt es mir leicht blechern entgegen. »Wie geht’s dir? Wie ist die Familie? Und das Haus?«
»Hi«, sage ich als Erstes. Dann, als ihr Gesicht weniger pixelig wird: »Eins nach dem anderen. Ich bin gerade erst aufgewacht.«
»Wie viel Uhr ist es bei dir?«, fragt sie gleich weiter .
»Viertel vor fünf«, sage ich.
Sie keucht leise und schlägt sich die Hand vor den Mund. »Arme Maus«, sagt sie. »Ich hoffe, du gewöhnst dich bald an die Zeitverschiebung. Die USA sind eben einfach das andere Ende der Welt.« Sie klingt nicht unfreundlich, während sie das sagt, allerdings meine ich doch einen leisen Vorwurf herauszuhören. Du hättest eben nicht ans andere Ende der Welt gehen sollen, will sie eigentlich sagen.
Ich erinnere mich an die vielen Diskussionen, die ich mit ihr hatte. An die vielen Stellenangebote, die sie mir ausdruckte und hinlegte. Aber ich wollte das hier. Weit weg. Etwas von der Welt sehen, ehe die Zukunft beginnt, für die ich so hart gearbeitet habe.
»Hast du denn den alten Mann schon kennengelernt, um den du dich kümmern sollst?«