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Love is Loud – Ich höre nur dich

Page 3

by Engel, Kathinka


  »Ja«, sage ich. »Er wirkt sehr nett. Und gar nicht so alt. Also schon alt, aber immer noch sehr selbstständig.« Ich will ihr nicht erzählen, dass unsere erste Begegnung nicht gerade rosig verlaufen ist. Ihr Ich hab’s dir ja gesagt -Gesicht brauche ich nicht gleich an meinem ersten Tag. »Und genießt du den Rest der Osterferien?«, frage ich, bevor sie merkt, dass ich geflunkert habe.

  »Die Klassenarbeiten türmen sich auf meinem Schreibtisch«, sagt sie und seufzt. »Und hier ist dein Bruder«, fügt sie dann hinzu und dreht ihr Handy so, dass ich sehen kann, wie ein sehr verschlafen aussehender Adrian in die Küche kommt.

  »Kaffee?«, fragt er heiser.

  »Ich mach dir schnell welchen«, sagt meine Mutter und drückt ihm das Handy in die Hand. Als könnte er das nicht selbst! Aber so ist es schon immer gewesen. Die Ansprüche werden nur an mich gestellt. Ich weiß, dass meine Mutter es gut meint, aber manchmal koche ich innerlich .

  »Hi, Bruderherz«, begrüße ich ihn, und er streicht sich durch die wuscheligen Haare. Adrian ist achtzehn und hat letzten Mai sein Abitur gemacht – obwohl er es auf den letzten Metern beinahe noch vermasselt hätte. Für ihn stand fest, dass er sich nach all der harten Arbeit ein Jahr entspannen müsse, um herauszufinden, was er mit seinem Leben anfangen will. Er ist das komplette Gegenteil von mir. Während ich immer mein Bestes gegeben habe, um nicht aufzufallen und ja keinen Ärger zu kriegen, mich angestrengt habe, etwas aus mir zu machen, lebt er in den Tag hinein. In Momenten, in denen ich mich von der Vernunft leiten lasse, fragt er nicht um Erlaubnis, sondern geht einfach Risiken ein, ohne nachzudenken. Manchmal läuft es schief, und er fällt auf die Schnauze. Aber meistens hat er Glück. Ab und zu habe ich mich dabei ertappt, wie ich mir wünschte, mehr zu sein wie er. Doch im nächsten Augenblick hatte ich stets die Stimme meiner Mutter im Ohr, die mir erklärte, wie wichtig es für eine junge Frau sei, unabhängig zu sein. Wie schwer es für sie war, als unser Vater uns sitzen ließ. Ich bewundere sie dafür, dass sie innerhalb weniger Jahre ein Lehramtsstudium durchzog, weil es etwas Sicheres war. Und ich möchte auf keinen Fall je in die Situation kommen, auf einmal vor dem Nichts zu stehen. Also lasse ich Adrian Adrian sein und gebe mir Mühe, vernünftig zu sein.

  Meine Mutter setzt Adrian einen Becher mit dampfendem Kaffee vor die Nase und nimmt ihm das Handy wieder ab. Sie streicht ihm durch die Haare, und er duckt sich weg.

  »Wie sieht dein erster Tag aus?«, fragt meine Mutter und hält das Smartphone jetzt so, dass ich sie beide sehen kann.

  »Ich weiß es noch nicht genau, ehrlich gesagt. Ich glaube, ich mache mich mit allem vertraut, und dann werde ich Hugo fragen, was er braucht.«

  »Machst du Sightseeing?«, will Adrian wissen .

  »Sie ist doch zum Arbeiten da, Schatz«, sagt meine Mutter.

  »Mal sehen, ob ich mich heute schon in die Innenstadt wage«, sage ich. Denn erstens stimmt es, ich bin zum Arbeiten hier, und zweitens brauche ich vielleicht einen Moment, um mich zurechtzufinden. Das Café, das Faye mir empfohlen hat, wäre vielleicht ein schöner Kompromiss.

  »Ich würde keine Zeit verschwenden«, nuschelt Adrian und schlürft aus seiner Tasse. Das glaube ich ihm sofort.

  »Deine Schwester macht das schon«, sagt meine Mutter. »Sie weiß eben, was von ihr erwartet wird. Bring sie nicht auf dumme Gedanken.«

  »Einer muss es ja tun«, mault er zurück, und innerlich – ich weiß auch nicht – muss ich ihm irgendwie recht geben.

  »Na ja, ich will mich eben erst mal akklimatisieren.«

  Adrian nickt. »Ich gehe mich unter der Dusche akklimatisieren.« Er winkt und steht auf.

  »Ich glaube, ich mache mich mal daran, meine Sachen auszupacken«, sage ich, als nur noch meine Mutter vor mir sitzt.

  »Gute Idee«, sagt sie und schickt mir einen Luftkuss. »Hab dich lieb, Maus.«

  »Ich dich auch, Mama.«

  »Und meld dich bald wieder, ja?«

  »Mach ich.«

  »Soll ich heute irgendwas Bestimmtes erledigen?«, frage ich Faye, die sich gerade Kaffee in einen To-go-Becher füllt und eine trockene Scheibe Toast im Mund hat. Sie balanciert parallel auf einem Fuß, während sie mit der freien Hand versucht, ihren zweiten Pumps anzuziehen. Die Absätze sind schwindelerregend, und ich frage mich, wie sie es darauf den ganzen Tag aushalten will .

  »Komm erst einmal an«, sagt sie, nachdem sie den Deckel ihres Bechers zugeschraubt und den Toast aus dem Mund genommen hat. »Heute Mittag erwartet dich irgendwann eine Lebensmittellieferung vom Supermarkt. Vielleicht kannst du Hugo schon ein bisschen aus der Reserve locken. Lass dich von ihm nicht irritieren. Er braucht Gesellschaft. Egal, was er sagt.«

  Ich nicke. Sie hat sicher recht, auch wenn es mir davor graut, mit dem alten Mann allein zu sein.

  »Du kannst dich im Haus gern umsehen. Nur unser Schlafzimmer ist tabu. Und Victors Büro.«

  Victor. Ich habe ihn noch nicht getroffen. Er hat das Haus verlassen, während ich im Badezimmer war. Laut Faye ist er kein Morgenmensch. Er joggt jeden Tag in die Arbeit, um dann dort zu duschen. Vorher ist er anscheinend nicht ansprechbar.

  »Wir würden gern heute Abend mit dir und Hugo essen. Victor wartet schon ungeduldig darauf, dich endlich kennenzulernen.«

  Ich habe das Gefühl, als könnte das ein kleines bisschen geflunkert sein, denn Faye weicht meinem Blick auf einmal aus. Aber wahrscheinlich interpretiere ich zu viel hinein.

  »Victor hat vorgeschlagen, etwas vom Thailänder mitzubringen. In der Nähe seines Büros gibt es diesen tollen Laden …«

  »Klingt gut«, sage ich.

  »Oh, und wir haben eine neue SIM -Karte in Victors altes Handy gelegt. Das kannst du benutzen, solange du hier bist.« Sie zeigt auf ein Smartphone auf der Anrichte.

  »Danke«, sage ich und bin erleichtert, dass ich mich nicht selbst darum kümmern muss.

  »Hab einen schönen Tag. Und wenn etwas ist, ruf mich an.« Mit diesen Worten stöckelt sie zur Tür, nimmt sich ihren Autoschlüssel aus der Schale auf der schmalen Kommode neben dem Eingang und verlässt das Haus.

  Auf einmal ist es ohrenbetäubend still. Es ist eine seltsame Vorstellung, aber ich bin ganz allein in einem fremden Haus in einem fremden Land auf einem fremden Kontinent. Nicht ganz allein, fällt mir im nächsten Moment auf. Irgendwo lauert ein schlecht gelaunter alter Mann.

  Ich räuspere mich. Es klingt merkwürdig in dieser makellosen großen Küche, die so wirkt, als würde sie nie benutzt werden. Sie ist sehr modern gehalten, abgesehen von einer Vitrine, in der wertvoll aussehendes Silberbesteck und kunstvoll bemalte Teller stehen. Ich glaube nicht, dass jemals davon gegessen wird. Das dominante Material in diesem Raum ist der schwarze Marmor der Arbeitsplatten und der Kücheninsel, an der ich sitze. Wie auch der Rest des Hauses trifft minimalistische, kühle Moderne auf verspielte Antiquitäten. Es ist ein sehr geschmackvoller Mix, und ich wünschte mir, ich hätte auch so einen ausgesuchten Schönheitssinn wie Faye.

  Ich blicke in den Garten. Der Rasen erstrahlt in sattem Grün. Bestimmt wird er regelmäßig gesprengt. Neben geordneten Beeten mit blühenden Blumen am Fuß der gefliesten Terrasse befindet sich an der gegenüberliegenden Grundstücksgrenze direkt neben einem Schuppen ein etwas wilderer Teil, der aber halb von einem knorrigen Baum verdeckt wird.

  Da ich nicht so richtig weiß, was ich mit mir anfangen soll, beschließe ich, zwei Scheiben Toast mit in mein Zimmer zu nehmen. Hier zu sitzen und zu warten, bis Hugo kommt, ist mir unangenehm. Ebenso seltsam fühlt es sich an, durch das leere Haus zu wandern. Ich habe noch genug Gelegenheit dazu, alles kennenzulernen. Adrian hätte mit Sicherheit bereits jeden Raum erkundet. Er wäre bestimmt um halb fünf schon durchs ganze Haus geschlichen. Wobei er nicht einmal schleicht. Er geht. Selbstbewusst und laut. Ich hingegen schleiche selbst jetzt bei Tageslicht die Treppe hinauf in mein Zimmer.

  Laute Musik lässt mich auf einmal aufschrecken. Habe ich geschlafen? Wie kann das sein? Ich blicke auf mein Handy. Es ist später Nachmittag. Dabei wollte ich mir doch nur einen Film auf meinem Laptop ansehen. Und dann – meine Augen ein bisschen ausruhen. Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein.
Dass der Jetlag meine Nächte verkürzt, okay. Aber jetzt auch noch meine Tage? Ich rapple mich schnell auf. Ich habe Hugo allein gelassen. Dabei braucht er doch Gesellschaft. Ich blicke in den Spiegel. Mein sonst so ordentlicher Haarknoten ist einigermaßen zerzaust, also löse ich die Strähnen und bürste mir die langen, glatten Haare. Ich sehe ein wenig ängstlich aus, fällt mir auf. So wie ich immer aussehe, wenn ich unsicher und gehemmt bin. Ich mag dieses Gesicht nicht. Und doch spiegelt es genau das Bild wider, das ich von mir selbst habe.

  Mit geschickten Fingern habe ich meinen Dutt schnell wieder in Ordnung gebracht. Dabei achte ich darauf, dass meine Haare meine Ohren verstecken, die für meinen Geschmack viel zu sehr von meinem Kopf abstehen.

  Ich öffne vorsichtig meine Zimmertür. Die Musik dringt augenblicklich noch lauter zu mir herauf. Bläser, Klavier. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gehört. Ein schneller Rhythmus, eine scheppernde, tiefe Stimme, vorsichtiges Schlagzeug. Die Melodie ist fröhlich, und gleichzeitig klingt sie seltsam wehmütig.

  Ich laufe auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, was vollkommen albern ist, denn bei dem Höllenlärm kann ohnehin niemand meine Schritte hören. Der Musik folgend, gehe ich ins Wohnzimmer, das auf der einen Seite von einer riesigen, beinahe einschüchternden Bücherwand eingenommen wird und auf der anderen Seite ganz im Einklang mit dem Rest des Hauses eine schicke Sitzecke beherbergt. Die Flügeltüren zur Terrasse stehen sperrangelweit offen, und ein Kabel führt von einer Steckdose neben einem alten Sekretär nach draußen. Zögerlich nähere ich mich der Terrasse. Und dort – ich traue meinen Augen kaum – steht ein Plattenspieler auf einem kleinen Tisch. Er ist die Quelle des Lärms, und ich bin kurz unschlüssig, was ich tun soll. Einerseits will ich Hugo nicht verärgern, der offensichtlich schwerhörig ist, so laut, wie er die Musik aufgedreht hat. Andererseits möchte ich nicht, dass die Nachbarn die Polizei rufen oder sich bei Faye und Victor beschweren. Langsam dämmert mir, warum sie mich brauchen. Entschlossen trete ich nach draußen und drehe die Musik leiser.

  »Was zur Hölle?«, ruft es aus der hintersten Ecke des Gartens, und mir schießt Hitze ins Gesicht. Im nächsten Moment taucht Hugo hinter einem knorrigen Baum auf. Er hat wieder seinen Strohhut auf und trägt eine sehr altherrenhafte kurze Hose. Obenrum ist er nackt. »Was soll das?« Er kommt auf mich zu.

  »Entschuldige«, sage ich. »Aber ich glaube, das war zu laut.«

  »Zu laut?« Er hat schon fast den gesamten Garten durchquert. »Zu laut, glaubst du?«

  »Ähm, ja. Die Nachbarn fühlen sich bestimmt gestört.«

  Er lacht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein fröhliches Lachen ist. Ich lächle ihm zu, denn ich kann nicht riskieren, dass er denkt, ich wäre nicht auf seiner Seite. Doch es gibt einfach ein paar gesellschaftliche Regeln, an die man sich halten sollte, wenn man keinen Ärger kriegen will.

  »Scheiß auf die Nachbarn«, sagt Hugo, der nun die Stufen zur Terrasse hochkommt und die Lautstärke wieder voll aufdreht. Dann wendet er sich um und tänzelt trotz seines schlimmen Beins die Stufen wieder hinunter.

  Sein Benehmen ist absolut unvernünftig, und kurzerhand drehe ich die Musik wieder leiser. Sofort wirbelt er herum. Er blickt mich direkt an, und seine Augen funkeln vor Wut.

  »Vorsicht«, sagt er, kommt zurück und dreht die Musik erneut auf.

  »Aber …«, setze ich an und will die Lautstärke schon wieder runterdrehen. Doch Hugo hebt den Finger, was mich in meiner Bewegung innehalten lässt.

  »Das ist verdammt noch mal Jelly Roll Morton«, ruft er mir über den Krach hinweg zu. »Und du bist verdammt noch mal in New Orleans.«

  4

  Lincoln

  Um mich herum hat sich ein Pulk aus Touristen gebildet. Ich spiele eine Akustik-Version von Britney Spears’ Toxic und nicke dankend, sobald sich jemand aus der Menge löst und mir etwas in meinen Gitarrenkasten wirft. Coverversionen von Popsongs funktionieren am allerbesten, und so habe ich den Großteil des Tages damit verbracht, bekannte Songs auf meine Weise zu interpretieren. Ich würde lieber meine eigenen Sachen spielen, aber niemand bleibt für ein Lied stehen, das er nicht kennt. Nicht im Urlaub. Nicht, wenn man darauf aus ist, Videos an Freunde und Verwandte zu schicken, um ihnen zu zeigen, was sie verpassen. Oder, wenn ich Glück habe, Videos auf einem Travelblog hochzuladen. Zwei Mädchen, die seit ein paar Minuten in der ersten Reihe stehen, beginnen zu tanzen. Erst zaghaft, dann selbstbewusster. Ihre Freunde klatschen begeistert. Davon angestachelt treten sie in die Mitte des Kreises und reiben ihre Körper auf beinahe pornografische Weise aneinander. Es sieht echt scharf aus, aber ich versuche mich davon nicht ablenken zu lassen.

  Als ich den Song beende, klatschen sie begeistert, und ich nuschle ein tiefes, inzwischen heiseres »Dankeschön« in mein Mikro. Eigentlich wollte ich nach Toxic zusammenpacken, mir in der Newsbar um die Ecke ein Glas Wasser holen und mich dann nach Hause begeben, um mich noch mal frisch zu machen, bevor wir heute Abend einen Gig im Cat’s Cradle haben. Aber eine so große Menschenmenge muss ich ausnutzen.

  Ich räuspere mich und sage: »Dieser Song ist für die Ladys.«

  Die Menge johlt. Ich streiche mir durch die Haare, hebe den Blick und lächle verschmitzt. Dann spiele ich die ersten Takte von Perfect, und mein Publikum rastet gänzlich aus. Erneut sehe ich nach oben. Dieser Blickkontakt, das Flirten, ehe ich anfange zu singen, sichert mir nach dem Song noch mal ein paar zusätzliche Dollars. Es ist wie Theaterspielen. Dies ist meine Rolle. Der verwegene Straßenmusiker mit der rauen Stimme. Und für einen kurzen Moment gestatte ich meinen Zuhörerinnen, sich ihrer Fantasie hinzugeben. Der Fantasie, mich und meine verlorene Seele zu retten. Manchmal, wenn ich Zeit habe, lasse ich mich eine Nacht lang retten. Dann ziehe ich mit einer Gruppe junger Frauen durch die Bars und genieße später den Luxus eines Hotelzimmers und die körperliche Nähe zu einer Fremden.

  Nach zwei weiteren Songs merke ich, dass meine Stimme langsam schlappmacht. Der Gig heute Abend ist wichtig, und ich verkünde, dass ich nun zu meiner letzten Nummer kommen muss. Ich wähle Mr. Brightside und fordere alle auf, mitzusingen. Dies ist meine eigene kleine Bühne. Mein Madison Square Garden, meine Carnegie Hall. Die Straßen von New Orleans sind die Show, und die warme Steinstufe, auf der ich sitze, mein Stage-Dive. Es ist alles, was ich immer wollte, und noch viel mehr. Ich fantasiere nicht darüber, gerettet zu werden.

  Endlich spiele ich den letzten Akkord und bedanke mich überschwänglich bei meinem Publikum. Jeder, der noch einen Schein in meinen Gitarrenkasten legt, bekommt ein persönliches Dankeschön. Jeder (und jedem), die eine Handynummer dazuflattern lässt, zwinkere ich zu und lasse sie einmal mehr von ihrem romantischen New-Orleans-Abenteuer träumen. Mache ich ihnen falsche Hoffnungen? Täusche ich sie? Nein. Denn wir wissen alle, dass das hier ein Spiel ist. Ein Geben und Nehmen. Ich gebe ihnen meine Stadt, meine Musik und einen Funken Sex, an den sie sich zurückerinnern können. Und ich bin nicht der Einzige. Denn jetzt, wo es wieder richtig warm ist, sind all die Leute auf der Straße zurück, die hier ihr Geld verdienen. Wenn sie nicht gerade Straßenmusik machen, malen sie verzerrte Karikaturen von Touristen, schreiben innerhalb einer Minute für einen Dollar einen Mehrzeiler oder legen Tarotkarten. Eine gespaltene Stadt, denke ich. Da gibt es diejenigen, die in ihr und von ihr leben, und dann die anderen. Die das Geld mitbringen. Geld, das mich, aber auch Jasper, Weston und Maya ernährt. Bonnie, Curtis und Sal.

  »Und wenn ihr heute Abend noch nichts vorhabt«, rufe ich, während ich die Geldscheine in meine Hosentasche stopfe, »ich spiele mit meiner Band ab halb zehn im Cat’s Cradle in der Frenchmen Street.«

  Kurze Zeit später hat sich die Menge verlaufen, und ich betrete die Newsbar, ein etwas schickeres Diner am Jackson Square. Ich habe Glück, denn Esmé steht hinter dem Tresen und poliert Gläser.

  »Ich dachte schon, du kommst heute nicht«, sagt sie und lächelt mich an. Ihre dunklen Locken fallen ihr über die Schultern und rahmen das schmale Gesicht mit der eleganten Nase und den sexy Lippen ein.

  »Kriege ich ein Glas Wasser? Am besten lauwarm?« Irgendwie muss ich es schaffen, meine Stimme wieder so weit hinzukriegen, dass
ich heute Abend zwei Sets durchstehe.

  »Du kriegst alles von mir«, erwidert sie.

  Hinter der Bar ist die Wand verspiegelt, und ich betrachte mich darin. Meine Haare sind strähnig, und ich bin verschwitzt. Aber langsam kehrt die Bräune, die ich über den Winter verloren habe, wieder in mein Gesicht und auf meine Arme zurück.

  Esmé dreht den Hahn auf. Als das Wasser die richtige Temperatur hat, hält sie ein Glas drunter und reicht es mir.

  »Nimmst du mich heute Abend mit zu dir?«, fragt sie und zwinkert mir aufreizend zu.

  Ich schüttle den Kopf. Wir haben schon so oft darüber gesprochen. Niemals würde ich Esmé mit zu mir nach Hause nehmen. Nicht, dass ich mich schämen würde, aber ich will keine Komplikationen. Ich habe keine Lust auf ihre Fragen. Auf Mitleid oder Unverständnis. Auf Lösungsvorschläge und gut gemeinten Quatsch wie »Du hast etwas Besseres verdient« oder »Zieh zu mir, bis du etwas Adäquates gefunden hast«. Ich kenne Esmé gut genug, um zu wissen, dass sie Dinge nicht einfach so hinnimmt. Auch sie würde mich am liebsten retten. Aber selbst wenn ich darauf Lust hätte, Esmé bedeutet Ärger.

  »Du könntest auch zu mir kommen …« Sie lehnt sich über den Tresen und fährt mir mit ihrem Zeigefinger langsam über die Lippen und dann tiefer, meinen Hals und die Brust hinunter.

  Sanft nehme ich ihre Hand und lege sie auf die Bar. Ich bin zu verschwitzt, um in Flirtlaune zu sein. »Heute geht es wirklich nicht«, entgegne ich. »Nimm’s mir nicht übel, aber ich brauche etwas mehr Schlaf, als du mir gestattest.«

  Sie kichert und zuckt mit den Schultern. »Du überlegst es dir ohnehin noch mal anders.« Sie dreht mir den Rücken zu und geht lasziv in die Hocke, sodass ihr ohnehin schon kurzer Rock noch weiter nach oben rutscht.

  Ihre Gewissheit, ich könne ihren Reizen nicht widerstehen, nervt mich ein bisschen. In Momenten wie diesen erinnere ich mich daran, warum man sich von Esmé fernhalten sollte. Warum Bonnie und all die anderen von unserer Liaison nicht gerade begeistert sind.

  »Sei kein Spielverderber.« Esmé wendet sich wieder mir zu, schiebt die Unterlippe vor und klimpert mich mit ihren langen Wimpern an.

 

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