Love is Loud – Ich höre nur dich
Page 4
Ich mag es nicht, gedrängt zu werden. In letzter Zeit ist das immer häufiger der Fall. Sie setzt mich unter Druck, ist beleidigt, fordernd. Sie tut so, als könne sie frei über mich verfügen. Als wäre ich ihr Lustknabe, der sofort springt, wenn sie mit dem Finger schnippt. Dabei war von Anfang an klar, dass das zwischen uns nichts Ernstes ist. Nur für den Moment. Da es mir immer weniger Spaß macht, ist es vielleicht an der Zeit, es zu beenden. Aber nicht jetzt. Jetzt muss ich nach Hause, duschen und mich ein wenig ausruhen für die nächste Runde.
Zurzeit wohne ich am Rand der Central City in einer Gegend, die gerade von der Post-Katrina-Gentrifizierung entdeckt wird. Sie ist zu weit weg vom French Quarter, sodass sie lange Zeit nicht wirklich interessant war. Zu viele Lagerhallen, zu viele abgewrackte Bürogebäude. Doch in den letzten Monaten haben zwei hippe Cafés und ein Restaurant, das sich als Fujun (eine Mischung aus Cajun und Fusion) beschreibt, in Laufdistanz eröffnet, sodass es höchstens noch eine Frage von Monaten ist, bis auch dieser Teil der Stadt von Investoren aufgekauft und saniert wird. Solange genieße ich die zentrale Lage und meinen Lieblingsplatz am Ufer des Mississippi, der nur wenige Minuten von meinem Zuhause entfernt ist. Die warmen Steine, das leichte Plätschern des Wassers, die Schreie der Möwen, während ich meine Schwester besuche. Ein paar Meilen weiter unten haben wir nach ihrem Tod die Asche am Fluss verstreut. Ganz legal war es nicht, aber Blythe konnte man nie etwas abschlagen. Erst recht nicht ihren letzten Wunsch .
Oft komme ich erst in den frühen Morgenstunden nach Hause, wenn sich majestätisch die Sonne über dem gigantischen graubraunen Fluss erhebt. Das sind die Momente, in denen ich mich glücklich fühle. Stark. So stark, dass ich Schmerz zulassen kann, ohne daran zu zerbrechen. Die Momente, in denen ich mit Blythe spreche. Ihr erzähle, wie es Jasper und den Kindern geht. Manchmal denke ich, sie könnte die Sonne sein. Aber dann fällt mir auf, dass die auch vor dem Tod meiner Schwester jeden Morgen aufgegangen ist. Obwohl ich mir sicher bin, dass sie früher anders aussah.
Mein derzeitiges Zuhause ist spartanisch, aber mehr brauche ich nicht. Ich bin ohnehin meistens unterwegs und komme vor allem zum Schlafen hierher. Es ist zwar nicht unbedingt wohnlich, aber – gemessen an den Umständen – fühle ich mich hier so wohl wie sonst eigentlich nur bei Bonnie. Selbst bei meinen Eltern ist es, seitdem Blythe nicht mehr da ist, fremder geworden. Das ist nicht ihre Schuld, doch überall dort, wo sich Gedanken an die Vergangenheit unweigerlich anschleichen, um einen irgendwann von hinten anzuspringen, muss man mit Gefühlen vorsichtig sein. Und sei es nur das Gefühl von Zuhause. Ich schnappe mir saubere Boxershorts aus meinem Wäschesack und gehe duschen.
Das Wasser ist kalt, und ich keuche, als es auf meinen Körper trifft. Aber es ist erfrischend und belebend. Als würde die Müdigkeit des gesamten Tages von mir abgespült. Als wäre sie gar nicht in mir gewesen, sondern hätte nur außen an mir gehaftet.
Mit den frischen Klamotten fühle ich mich wie neu geboren, und beinahe bereue ich, dass ich Esmé vorhin habe abblitzen lassen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich gut daran täte, nach dem Gig einfach ins Bett zu gehen. Und genau das wird passieren. Außerdem ist es mir doch ein großes Anliegen, dass sie mit ihrer Annahme über mich nicht recht behält. Meine Unabhängigkeit geht vor. Und wenn ich Esmé zurückweisen muss, um mir selbst zu beweisen, dass ich mich nicht erneut verletzlich mache, dann ist das ein notwendiges Übel, das ich gerne in Kauf nehme. Bonnie wäre stolz auf mich. Vielleicht sollte ich ihr nachher im Cat’s Cradle davon erzählen. Nicht nur, weil sie alles andere als Esmés größter Fan ist. Sie ist meine beste Freundin und war – neben der Musik – auch diejenige, die mich vor einem Jahr aus meinem Loch geholt hat. Mit guten Ratschlägen, mit schmerzhaften Wahrheiten, mit einem gepfefferten Arschtritt. Ich habe ihr zugehört. Jedes einzelne Wort, das sie an mich gerichtet hat, habe ich aufgesogen, auch wenn es manchmal nicht so schien. Einmal fühlte ich mich derart hilflos, dass ich ihr etwas an den Kopf warf, das ich mir bis heute nicht verziehen habe. Wir haben nie darüber gesprochen, und vielleicht hat sie es ja wieder vergessen. Hoffentlich.
5
Franzi
Als ich auf mein Handy blicke, erschrecke ich. Die Lebensmittellieferung! Ich habe die Klingel anscheinend nicht gehört und sie verpasst. Nicht nur war dieser Tag ein absoluter Reinfall in Bezug auf mein zukünftiges Verhältnis zu Hugo. Ich habe außerdem Faye hängen lassen. Dabei bin ich doch eigentlich die Vernünftige. Die Verlässliche. Und trotzdem habe ich das Gefühl, als würde alles falsch laufen. Mein großes Abenteuer droht schon am ersten Tag vollkommen nach hinten loszugehen. Und da ist sie wieder, die Sehnsucht nach einem höhenverstellbaren Schreibtisch und einer kleinen Grünpflanze. Vielleicht bin ich einfach keine Abenteurerin. Vielleicht sollte ich den spaßigen Teil des Lebens Adrian überlassen. Adrian. Ich vermisse ihn. Nicht, dass wir ein besonders enges Verhältnis hätten. Aber ein bekanntes Gesicht – und selbst wenn es nur spöttisch schaut – wäre schön. Meine Mutter. Ich reibe mit den Handballen über meine Augen, um die Tränen, die sich dahinter anstauen, am Herausfließen zu hindern. Es sind Tränen der Erschöpfung, Tränen der Wut. Wer lässt ein fremdes Mädchen um die halbe Welt fliegen und ist dann so unverschämt wie Hugo? Meine Stimmung kippt langsam, und ich habe gute Lust, einfach ihn für diesen Reinfall verantwortlich zu machen. Wäre er nicht so ein Griesgram, hätte ich mich gar nicht erst in meinem Zimmer verschanzt .
Ich atme einmal tief ein. Nein, so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Reiß dich zusammen, Franzi. Nach einem Tag kann man noch gar nicht sagen, ob das alles hier eine absolute Schnapsidee war. Bis zehn zu zählen bringt in diesem Fall nichts, aber ich könnte zehn Tage abzählen. Und dann meine Situation noch mal neu bewerten. Ja, das ist eine vernünftige Idee.
»Eins«, sage ich laut zu meinem Zimmer, stehe auf und gehe nach unten. Vielleicht gibt es in der Gegend einen Supermarkt, in dem ich die wichtigsten Lebensmittel einkaufen kann. Ich werde Hugo fragen, was er braucht. Ein Friedensangebot gewissermaßen. Und später werde ich Faye alles erklären. Sie wird es verstehen.
Als ich unten gerade ins Wohnzimmer abbiegen will, um draußen nach Hugo zu suchen, fällt mein Blick in die Küche. Auf der Kücheninsel steht eine Schale mit frischem Obst, die heute Morgen ziemlich sicher noch nicht dort war. Zögerlich trete ich über die Schwelle. Mein nackter Fuß berührt die schwarz-weißen Kacheln, die kühl sind und glatt und irgendwie beruhigend. Auf der Anrichte zu meiner Rechten stehen sauber aufgereiht eine Packung Reis, eine Packung Nudeln, abgepacktes Toastbrot und verschiedene Frühstücksflocken. In einem Hängeregal entdecke ich frisches Gemüse. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Habe ich die Lieferung schlafwandelnd entgegengenommen? Ich öffne die Kühlschranktür, und mir entfährt ein überraschter Schrei. Ein sehr leiser Schrei allerdings, denn ich will keine Aufmerksamkeit erregen. Aber der Kühlschrank ist vollgestopft mit Lebensmitteln! Milch, Säfte und Wein stehen in der Tür. Verschiedene Käse und Schinken, Butter, Marmelade. Erdbeeren, eine seltsame Plastikflasche, die sich bei näherer Betrachtung als Pancake-Mischung herausstellt. Das kann ich nicht gewesen sein. Hat Hugo etwa … ?
In diesem Moment wird die Eingangstür aufgeschlossen.
»Ich bin zu Hause«, ruft Faye. Ihre Stimme ist unverkennbar. Hoch und mädchenhaft, auf entzückende Art. »Hi, Franziska.«
Sie kommt in die Küche, und ich schließe schnell den Kühlschrank und versuche, meinen perplexen Gesichtsausdruck mit einem Lächeln zu vertreiben.
»Wie schön, wenn man nach Hause kommt und direkt von einem freundlichen Gesicht begrüßt wird«, sagt sie. »Geht’s dir gut?«
»Äh, ja«, erwidere ich. »Wie war dein Tag?«
»Stressig. Ein Meeting nach dem anderen. Wein?« Sie öffnet die Kühlschranktür, die ich gerade geschlossen habe, und nimmt den Weißwein aus einem der Fächer. »Vielen Dank fürs Einräumen.«
»Äh, also das war …« Doch ich komme nicht weiter, denn Faye tänzelt mit der Weinflasche ins Wohnzimmer.
»Victor wird jeden Moment hier sein«, sagt sie und lässt sich aufs Sofa fallen. »Ich bin am Verhungern. Du auch?«
 
; Tatsächlich dauert es keine Viertelstunde, und ich habe auch Victor kennengelernt. Ein großer, schlanker Mann mit silbergrauen Haaren, den ich auf Mitte fünfzig schätze. Seine Schritte sind laut und forsch, sein Anzug sitzt ebenso wie sein Krawattenknoten perfekt, und seinen Händedruck spüre ich immer noch.
»Entschuldigt die kleine Verspätung«, sagt er mit einer Stimme, die nicht zulässt, dass man ihn nicht entschuldigt. Er ist nicht laut, aber auf eine selbstverständliche Weise autoritär.
Nachdem Faye und ich gemeinsam den Tisch gedeckt haben – Victor hat sich frisch gemacht, Hugo, seinem erdigen T-Shirt nach zu urteilen, wohl nicht –, bedient sich jeder aus den Alu- und Pappschachteln, die in der Mitte des ovalen Tischs stehen. Ich habe keine Ahnung, was die verschiedenen Speisen sind, aber ich nehme einfach irgendwas.
»Gute Wahl«, sagt Victor und zwinkert mir zu. »Das Nam Tok Moo ist die Spezialität des Old Siam. Für Leute, die es scharf mögen, absolut perfekt.«
Bei meiner Mutter gab es nie scharfes Essen, sie sagt, sie versteht nicht, warum man gerne Schmerzen im Rachenraum hat, wenn es doch auch ohne geht. Sie sollte allerdings das Nam Tok Irgendwas mal probieren, denn es explodiert geradezu in meinem Mund vor lauter verschiedenen Geschmäckern.
Victor scheint es aufzufallen, denn er nickt und sagt mit vollem Mund: »Nicht zu viel versprochen, oder?«
Es ist tatsächlich scharf, aber nicht unerträglich. Und für diesen Geschmack wäre ich bereit, tatsächliche Schmerzen auszuhalten. Es ist frisch. Saftig. Zitronig und zwiebelig. Und irgendwie … ganz neu.
»Wie war dein Tag, Schatz?«, fragt Faye ihren Mann.
»Ich habe Andrew Pendergast bei teuerstem Champagner und Kobe-Rind zwei Stunden lang Honig ums Maul geschmiert, ohne dass er auch nur einmal den Auftrag erwähnt hätte. Unsäglicher Kerl.«
»Victor versucht schon seit ein paar Wochen diesen gigantischen Auftrag an Land zu ziehen«, erklärt Faye an mich gewandt. »Zwei Lagerhallen, die in Büros und Co-Working-Spaces umgebaut werden sollen.« Die Tatsache, dass sie mich in das Gespräch mit einbezieht, erfüllt mich mit einem warmen Gefühl. Zum ersten Mal an diesem Tag glaube ich, ich könnte mich hier tatsächlich wohlfühlen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Hugo uns keinerlei Aufmerksamkeit schenkt.
»Man sollte meinen, dass die größte und erfolgreichste Maklerfirma der gesamten Südstaaten die einzig logische Wahl wäre«, sagt Victor genervt. »Und ich bin mir sicher, er hat die Entscheidung längst getroffen. Aber bis er sie verkündet, lässt er sich auf Firmenkosten ausführen.«
Hugo saugt geräuschvoll eine lange Nudel in seinen Mund und erntet einen tadelnden Blick von seinem Sohn. Nicht einmal Manieren hat er.
»Du hast ihn sicher bald so weit«, beschwichtigt Faye.
»Natürlich habe ich ihn bald so weit. Und ich mache drei Kreuze, wenn ich seine Visage nicht mehr jeden zweiten Tag zum Essen sehen muss.« Er lacht, aber es klingt nicht fröhlich.
»Und, Dad«, wendet sich Victor jetzt an Hugo, obwohl ich mir sicher bin, er hätte es besser gelassen. »Wie ist es, nicht mehr den ganzen Tag allein zu sein?«
Ich merke, wie mir Hitze ins Gesicht schießt. Objektiv betrachtet, habe ich mich bislang überhaupt nicht um Hugo gekümmert – wenn man mal davon absieht, dass ich versucht habe, die Nachbarn von seiner Musik zu verschonen. Andererseits: Wer kann es mir verübeln, so wie er sich benimmt? Trotzdem wünschte ich, ich hätte wenigstens die Gelegenheit gehabt, Faye zu erzählen, dass ich unglücklicherweise den Tag verschlafen habe.
»Ist neu«, sagt Hugo und schiebt sich mit zwei Essstäbchen eine ordentliche Ladung Nudeln in den Mund.
»Und wie ich sehe, hast du dich richtig in Schale geworfen.« Victor deutet auf das schmutzige T-Shirt. »Wenigstens zum Essen, Dad …«
»Lass ihn doch«, unterbricht ihn Faye.
»Ich wollte nur sagen, dass ich es schön fände, wenn man sich wenigstens zum Essen etwas anzieht, das nicht vor Dreck steht, aber da bin ich mit meiner Meinung wohl allein.« Victor hebt abwehrend die Hände. »Ich nehme mal an, in Deutschland trägt man bei Tisch auch nicht unbedingt Erde, die von einem T-Shirt zusammengehalten wird. Oder, Franziska?«
Ich bin etwas überrumpelt davon, dass ich auf einmal mitten in einen Konflikt zwischen Victor und seinem Vater geraten bin. Ich gebe Victor recht, will aber Hugo nicht noch mehr gegen mich aufbringen. »Äh«, mache ich und ärgere mich, dass ich so unbeholfen reagiere, »mich stört es nicht.« Ich hoffe, das war diplomatisch genug, um niemanden zu verärgern.
»So höflich«, sagt Victor. »Das gefällt mir. Du wirst einen guten Einfluss auf ihn haben.«
Ich habe keine Ahnung, ob das ein Kompliment ist, aber Hugo schnaubt jedenfalls. Was auch sonst?
»Hast du dich denn schon nützlich machen können?«, fragt Victor nun wieder an mich gewandt.
Erneut fühle ich mich ertappt und will gerade ansetzen zu sagen, dass der Jetlag mir zu schaffen macht. Doch Faye ist schneller.
»Sie hat sich großartig um die Lebensmittellieferung gekümmert.« Sie lächelt mich freundlich an.
Ich blicke mit hochrotem Kopf zu Hugo. »Äh, ehrlich gesagt, das war …«, beginne ich und nehme mir fest vor, meine Sätze nicht mehr mit Äh zu beginnen.
»Überschlagt euch nicht gleich vor Begeisterung. Ein trainierter Affe hätte das hinbekommen«, sagt Hugo mit vollem Mund.
Wie bitte? Ich blicke Hugo an, aber er ist wieder mit einer langen Nudel beschäftigt, die er noch lauter als zuvor einsaugt.
»Was denn?«, fragt Hugo. »Man wird doch wohl noch ein bisschen Spaß haben dürfen beim Essen. Probier das Pad Thai«, sagt er dann und reicht mir die Schale.
»Äh, okay«, sage ich höchst verwirrt von dieser Situation. Hugo hat mich gedeckt. Nicht unbedingt auf eine nette Art, aber immerhin. Und nun bietet er mir Pad Thai an.
»Äh, bitte«, sagt Hugo.
»Äh, danke«, gebe ich zurück.
»Äh, gerne.« Er grinst in sich hinein, und erst jetzt merke ich, dass er sich über mich lustig macht.
6
Lincoln
»Vielen Dank, dass ihr heute Abend da wart«, sage ich etwas heiser ins Mikrofon, während die anderen den Rhythmus unseres letzten Songs beibehalten. Zumindest den letzten des regulären Sets. Wir spielen bestimmt noch ein paar Zugaben. »Wenn es euch gefallen hat, kommt wieder ins Cat’s Cradle, denn wenn wir nicht hier sind, spielen andere tolle Bands auf dieser Bühne.« Hinter dem Tresen sehe ich, wie Mikey, der Besitzer der Bar, mir lächelnd mit seinem Glas Wasser zuprostet. Vermutlich ist es deswegen so angenehm, mit ihm zusammenzuarbeiten. Weil er während seiner Schichten nie trinkt. »Heute habt ihr am Keyboard meinen beinahe ekelhaft attraktiven Schwager Jasper Hughes gehört.« Jasper, der bei der Hochzeit Blythes und damit auch meinen Namen angenommen hat, spielt ein kurzes leichtes Solo. »Fragt ihn gern nach seiner Nummer, aber glaubt ihm, wenn er sagt, dass er nach Hause zu seinen Kindern muss.« Ein Wooohoo erschallt aus der Menge, und Jasper versucht mir einen Tritt zu verpassen. Es ist unser Spiel. Das war es schon immer, auch als Blythe noch lebte. Damals war es leichter, aber es fühlte sich seltsam an, nach ihrem Tod damit aufzuhören.
»Am Kontrabass Bonnie Bailey, die Einzige von uns, die komplett in ihr Instrument hineinpassen würde.« Auch Bonnie erntet Wooohoo-Rufe bei ihrem Solo, allerdings vor allem vom männlichen Anteil des Publikums. Sie ist mit ihren dick geflochtenen langen, schwarz-weißen Box Braids und dem feinen Gesicht niemand, den man so schnell vergisst. Besonders nicht, da sie ihren riesigen Kontrabass mit sich herumschleppt. Wenn ich sage, sie würde in ihr Instrument passen, ist das nicht übertrieben.
»Unser Virtuose am Schlagzeug, Curtis Sullivan!«, rufe ich, und er wirbelt mit seinen Stöcken über das Schlagzeug.
»Und an der Trompete, der verdammt talentierteste Musiker im gesamten Bundesstaat: Salomon Wallace!« Sal haut eine funky Melodie raus, und die Menge kreischt. Ich frage mich oft, wie viele Leute eigentlich nur wegen Sal zu unseren Auftritten kommen. Aber solange sie das tun, kann es uns egal sein.
»Und an der Gitarre«, sagt jetzt Jasper in das Mikro, das vor seinem Keyboar
d steht, »der begabteste – sorry, ich meinte, der begehrteste Junggeselle der Stadt, Lincoln Hughes! Wenn er behauptet, er müsse nach Hause zu seinen Kindern, hört nicht auf ihn. Er ist nur schüchtern.«
Das Publikum lacht.
»Wir sind After Hours«, beende ich die Vorstellung. »Und wir freuen uns über eure Begeisterung und noch ein bisschen mehr über euren Cash!« Ich hebe den Zylinder hoch, der schon die ganze Zeit am Rand der Bühne darauf wartet, dass Leute Geld hineinwerfen. So funktioniert die Musikszene in New Orleans. Die meisten Clubs und Bars verlangen keinen Eintritt, dafür wirft man nach einem Gig fünf Dollar – oder mehr – in den Hut. In unserer Band bin ich derjenige, der Abend für Abend herumgeht. Die Wahl fiel auf mich, weil sich alle einig waren, dass die Frauen mir gegenüber am großzügigsten seien. Und ich habe nicht diskutiert. Denn nur so habe ich die Kontrolle darüber, wie wir das Geld verteilen, ohne dass Jasper es merkt.
Während die anderen den Rhythmus, den sie während meiner Band-Vorstellung durchgehalten haben, nun wieder zu einem Song ausbauen, springe ich mit einem Satz von der Bühne und bahne mir langsam mit dem Hut einen Weg durch die Massen. Trotz Klimaanlage ist es warm zwischen den ganzen Körpern. Doch Berührungsängste sind hier fehl am Platz.
»Ihr wart richtig geil«, rufen sie mir zu. »Ihr rockt wirklich.« Von einigen werde ich tatsächlich nach meiner Nummer gefragt, aber ich lächle nur und bedanke mich. Es sind unzählige Hände, die Geld in den Hut werfen. Das Cat’s Cradle war heute wieder einmal brechend voll. Die oder der ein oder andere klopft mir auf die Schulter, tippt mich an und lässt eine Hand etwas zu lange irgendwo auf meinem Körper liegen. Manchmal fassen sie mir sogar ins Gesicht. Ich versuche freundlich zu bleiben. »Ansehen, nicht anfassen«, sage ich dann, um die unangenehme Situation mit einem Witz zu überspielen. Je enger es ist, desto mehr Finger spüre ich auf mir, aber heute benehmen sich sogar die Touristen ausnahmsweise mal ordentlich, und ich muss nur zweimal mit einem anzüglichen Grinsen androhen, dass »Anfassen extra kostet«. Sie verstehen meinen Witz und wenden sich sofort ab.