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Love is Loud – Ich höre nur dich

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by Engel, Kathinka


  Tatsächlich spielen wir noch zwei Zugaben. Doch weil es schon kurz vor Mitternacht ist, leert sich die Bar danach rasch. Ich habe meine Gitarre sofort weggepackt und hole mir von Mikey den Hut, den ich hinter der Bar deponiert habe. Jetzt gilt es, schnell zu sein, während die anderen ihre Instrumente und Kabel wegräumen. Jasper ist beschäftigt, sodass ich ein paar Minuten habe, um mich ums Geld zu kümmern. Ich setze mich an den inzwischen leeren Tresen und zähle fünf gleiche Häufchen aus Scheinen ab. Für jeden springen heute achtzig Dollar heraus, was okay ist. Es ist unter der Woche, und auch wenn viele Leute hier waren, sind sie am Wochenende einfach freigiebiger. Leider sind unsere festen Slots montags und mittwochs, aber wir arbeiten uns langsam hin zum Wochenende. So der Plan.

  Mikey stellt mir einen Plastikbecher mit eiskaltem Bier hin, und ich nicke ihm dankbar zu. Endlich setzt die Entspannung ein.

  »Ihr wart richtig stark«, sagt Mikey. »Habt ihr Lust, am Freitag einzuspringen?«

  »Ist das dein Ernst?«, frage ich, und mein Herzschlag beschleunigt sich. Freitag, das wäre ein Traum!

  »Hallo? Natürlich!« Bonnie, die gerade neben mir aufgetaucht ist, klingt ganz aufgeregt. »Ich habe auf jeden Fall Zeit!«

  »Jungs?«, rufe ich Richtung Bühne. »Wir könnten am Freitag noch mal spielen. Was meint ihr?«

  »Echt jetzt, Mikey?«, fragt Curtis. »Hammer, Mann! Dann organisiere ich einen Ersatz für mich auf dieser blöden Firmenfeier. Das ist viel cooler.«

  »Jasper?«

  »Bin am Start. Natürlich bin ich am Start. Danke, Mikey!«

  »Sal? Was ist mit dir?« Ich überkreuze meine Finger.

  »Müsste gehen«, sagt er.

  »Yesss!« Bonnie führt neben mir einen Freudentanz auf.

  »Den ersten Slot kriegen die Jungs von Drum and Brass, aber ihr wärt ab zehn dran.« Mikey weiß, dass das für uns eine riesige Sache ist, und schmunzelt unter seinem langen Bart. »Ihr habt es euch echt verdient. Ihr macht mir selbst an einem Mittwochabend die Hütte voll.«

  Bonnie hüpft neben mir auf und ab und kneift mich in den Arm. »Wie geil, wie geil!«, ruft sie, und auch ich kann es immer noch kaum glauben und grinse vor mich hin.

  »Ich hab dir ein Taxi gerufen, Jasper«, sagt Mikey in Richtung Bühne .

  »Danke dir, dann hole ich mal die Kleinen.« Das ist auch ein Grund, warum wir so gerne im Cat’s Cradle spielen. Hinten im Lager gibt es eine Couch, die groß genug ist, dass Weston und Maya während des Gigs dort schlafen können. Abends ist es oft schwierig, einen Babysitter zu bekommen. Und meistens reicht die Zeit nicht, um sie zu meinen Eltern zu bringen.

  »Leute, das ist der Wahnsinn«, sagt Bonnie, als Jasper und Mikey nach hinten verschwunden sind. »Wie viel springt denn heute für uns raus?«

  »Achtzig«, sage ich leise, obwohl Jasper uns im Nebenraum sicher nicht hören kann. Bonnie, Curtis und Sal sind in meine kleine Ungenauigkeit bezüglich Jaspers Anteil eingeweiht. Sie finden es zwar nicht gut, dass ich ihn hintergehe, zollen mir allerdings gleichzeitig Respekt. Und sie haben Stillschweigen geschworen, weil sie wie ich der Meinung sind, dass es meine Entscheidung ist.

  Ich drücke Bonnie ihren Stapel Scheine in die Hand und mache mich dann mit dem Rest des Geldes auf den Weg zur Bühne.

  »Curtis.« Ich reiche ihm seinen Anteil. »Sal.« Auch er erhält die achtzig Dollar.

  »Hey, Kumpel«, sage ich im nächsten Moment zu Weston, der ziemlich verschlafen an der Hand seines Vaters in die Bar kommt. Maya schläft seelenruhig auf Jaspers Arm weiter. Ich weiß, dass er jedes Mal ein schlechtes Gewissen hat, wenn die beiden zu Auftritten mitkommen müssen. Er denkt, er würde Blythe enttäuschen und seinen Kindern ihre Routine nehmen. Aber für Weston und Maya ist das hier Routine. Und sie wirken nicht, als ginge es ihnen schlecht. Glaube ich zumindest. Außerdem gibt es im Moment keine Alternative.

  Ich fahre Weston über die dunkelblonden Wuschelhaare. » Alles klar?«, frage ich, und er nickt. »Bist müde, was?« Erneut nickt er. »Ich auch, Kumpel, ich auch. Immerhin könnt ihr Taxi fahren.«

  »Ja, ich darf vorne sitzen«, sagt er, und auf einmal sind seine Augen deutlich wacher.

  »Aber schnall dich bloß an, okay?«

  »Natürlich.« Er strahlt.

  »Hier, dein Anteil«, sage ich zu Jasper, doch er grinst nur entschuldigend und zuckt mit den Schultern, um mir zu signalisieren, dass er mit Maya auf dem Arm keine Hand frei hat.

  »Schiebst du’s in meine Hosentasche?«, fragt er. »Wie viel ist es denn?«

  »Hundertsechzig«, sage ich und stopfe das Bündel Geldscheine in die hintere Tasche seiner Jeans.

  »Was? Das ist doch absurd. An einem Mittwoch?«

  »Na ja, es war eben richtig voll. Und die Damen stehen auf mich.«

  »Weil du so ein wunderhübsches Gesicht hast«, sagt Bonnie, um Jasper abzulenken, stellt sich auf die Zehenspitzen und kneift mich in die Backe.

  »Das muss es sein«, pflichtet Jasper ihm bei. »An deinen Gitarrenkünsten kann es jedenfalls nicht liegen.«

  Weston kichert. Für einen Siebenjährigen hat er ein wirklich gutes Gespür dafür, was ernst gemeint und was Bullshit ist.

  »Ich glaube, es liegt an mir«, sagt Curtis mit einem schiefen Grinsen.

  »Sagt Amory das?«, fragt Bonnie. »Du weißt, dass sie ziemlich schlau ist und genau weiß, welche Knöpfe sie bei dir drücken muss, damit du den Fußboden schrubbst, oder?«

  »Und damit ich ganz andere Sachen schrubbe.« Er wackelt anzüglich mit den Augenbrauen .

  »Curtis!«, ermahnt Bonnie ihn und zeigt auf Weston, der sehr interessiert zuhört.

  »Was?«, fragt Curtis. »Weston und ich wissen ganz genau, worüber ich spreche. Stimmt’s?«

  Weston nickt eifrig, obwohl er keine Ahnung hat, worum es geht, und klatscht mit Curtis ab.

  »Mein Mann«, sagt Curtis. Dann winkt er einmal in die Runde. »Also dann, bis morgen zur Probe.«

  Fünf Minuten später bin ich der Letzte in der Bar. Ich trinke mein Bier aus, verabschiede mich von Mikey und schultere meine Gitarre. Obwohl die meisten Bars langsam zumachen, sind noch jede Menge Leute auf der Straße. Manche rauchen, manche lachen, manche torkeln. Es ist eine bunte Mischung aus Touristen, Musikern und Einheimischen, die morgen ausschlafen können. Dafür liebe ich diese Stadt. Meine Stadt. Für die farbenfrohen Verrückten, die zu Freunden werden. Für die krachende Lautstärke, die fast rund um die Uhr in der Frenchmen Street herrscht. Auch in der Bourbon Street, aber um die mache ich meistens einen Bogen, wenn ich dort nicht gerade Geld verdiene. Aus den Kneipen fällt Licht auf die Straße, knallige Schilder strahlen von den Fassaden der alten kreolischen Stadthäuser, die mit ihren verschnörkelten Balkongeländern und oft aufwendigen Bepflanzungen das French Quarter zum schönsten Ort der Welt machen.

  Nach einem Gig bin ich oft zu aufgekratzt, um gleich nach Hause zu fahren. Das ist vermutlich der Hauptgrund, warum ich so oft nachts sehr zu ihrem Entzücken bei Esmé auftauche. Aber nicht heute Abend. Heute zieht es mich noch an meinen Geheimplatz am Fluss, um mit Blythe zu sprechen. Ich will ihr sagen, dass sie sich um Weston und Maya keine Sorgen machen muss. Dass Jasper zwar oft ein schlechtes Gewissen hat, ich aber alles daransetze, ihm zu zeigen, was für ein toller Vater er ist. Sie soll wissen, wie prächtig sich ihre Kinder entwickeln. Wie verantwortungsvoll und gleichzeitig witzig Weston ist, wie klug und entzückend Maya. Und ich will ihr von der Band erzählen. Von unserem Slot am Wochenende; davon, wie großartig alles läuft. Davon, wie Bonnie sie vermisst; und davon, dass ich sie nicht vergessen werde. Nie.

  7

  Franzi

  Auch in den nächsten Tagen wache ich immer noch vor Sonnenaufgang auf, was dazu führt, dass ich mich am Nachmittag oft vor Erschöpfung hinlegen muss.

  »Zwei«, sage ich.

  »Drei.«

  »Vier.«

  »Fünf.«

  Ich zähle einen Tag nach dem anderen ab, in der Hoffnung, dass meine Beziehung zu Hugo besser wird. Ich nehme ihn mit zum Einkaufen und lasse ihn die Musik im Auto aussuchen. Doch er sitzt nur mürrisch neben mir und schimpft über die amerikanische Konsu
mgesellschaft.

  Wie gerne würde ich die bunten Regale des gigantischen Supermarkts genau unter die Lupe nehmen, all die fremden Produkte kennenlernen, die zu einem guten Teil aus rosafarbenen Marshmallows zu bestehen scheinen.

  Ich überrede Hugo zu kleinen Spaziergängen durch den Garden District, während der er gegen ungleiche Güterverteilung oder die Gentrifizierung wettert.

  »Ist das hier eine reiche Gegend?«, fragte ich bei einem unserer ersten erzwungenen Streifzüge, in der Hoffnung auf ein Gespräch.

  »Richtig ekelhaft reich«, sagte er. »Aber weiter unten gibt es auch ein paar bescheidenere Irish Channel Houses.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das, was heute der Garden District ist, waren früher Plantagen. Im neunzehnten Jahrhundert wurde das Land dann an scheußliche reiche Amerikaner verkauft, die nicht mit den lauten Kreolen im French Quarter leben wollten. Allesamt absolute Langweiler.«

  Damit war für ihn die Unterhaltung beendet.

  Heute Morgen zwinge ich mich, noch ein wenig liegen zu bleiben, und zum ersten Mal gelingt es mir, tatsächlich noch etwas vor mich hin zu dösen. Endlich wenigstens ein kleiner Fortschritt bezüglich meines Schlafrhythmus.

  »Sechs«, sage ich zwei Stunden später laut zu meinem Spiegelbild, während ich mit meinen frisch geföhnten Haaren wieder meine Segelohren verdecke. Vor einigen Wochen war ich kurz davor, meine Haare abzuschneiden. Ich stand schon vor dem Friseursalon, drauf und dran hineinzugehen. Doch dann zählte ich und drehte wieder um. Meine Mutter liebt meine Haare. Vermutlich, weil sie einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt trägt. Man will immer das, was man nicht hat.

  Als ich in die Küche komme, ist Faye mit ihrem Blitzfrühstück bereits fertig. Wir verabschieden uns gerade noch, dann bin ich wie jeden Morgen allein mit meiner Kaffeetasse am Küchentresen.

  »Du bist wach«, ertönt plötzlich Hugos Stimme hinter mir. »So kennt man dich ja gar nicht.«

  Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. In Momenten wie diesen wäre ich gern schlagfertig, aber meistens fällt mir erst viel zu spät ein, was ich Witziges hätte erwidern können. Ich würde Hugo gern fragen, ob er schon einmal einen Jetlag hatte.

  »Ich mache French Toast. Hast du Hunger?«

  Etwas ungläubig blicke ich ihn an. Er trägt heute ein sauberes hellblaues Hemd und eine schicke dunkelgraue Stoffhose. Kein Vergleich zu seinem normalen Aufzug.

  »Und? Was ist nun? Das Angebot steht nicht ewig.« Er zieht eine Rührschüssel aus einer der Küchenschubladen.

  »Äh, was ist French Toast?«, frage ich und beiße mir im gleichen Moment auf die Zunge. Da war es schon wieder, dieses Äh, das ich krampfhaft versuche loszuwerden. Bisher nur mit mäßigem Erfolg.

  »Äh, das ist Toast, den man in eine Ei-Milch-Mischung tunkt und dann brät.«

  Mir entgeht nicht, dass er mich wieder nachmacht. Aber ich versuche, seiner Unhöflichkeit nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Außerdem nervt es mich selbst auch, dass ich keinen normalen Satz rausbringe, obwohl mein Englisch eigentlich gut genug ist.

  »Ich muss mich erst an die Fremdsprache gewöhnen«, sage ich in einem Ton, der eigentlich entschuldigend klingen soll, aber ein bisschen säuerlich herauskommt. Pech gehabt. Er macht ja auch kein Geheimnis daraus, dass er keine Lust auf meine Anwesenheit hat.

  »War ich zu gemein? Fieser alter Mann«, schimpft er mit sich selbst, und wieder habe ich das Gefühl, dass er mich nicht ernst nimmt.

  Da wir das nächste Jahr miteinander verbringen müssen, beschließe ich, dass ich die Vernünftige von uns beiden sein werde. »Ich würde gern mit dir frühstücken«, sage ich deswegen und hoffe, dass er nichts Blödes darauf erwidert.

  Doch er nickt nur, holt Milch und Eier aus dem Kühlschrank und vermischt beides in der Rührschüssel. Dann lässt er ein Stück Butter in der heißen Pfanne zerlaufen.

  »Kann ich helfen?«, frage ich. Vielleicht lebe ich ihm einfach vor, dass man mit Freundlichkeit weiter kommt als mit Unhöflichkeit .

  »Du kannst den Toast einweichen«, sagt er und tritt einen Schritt zur Seite, sodass ich an die Schüssel komme.

  Es ist eine ziemliche Sauerei, die hellen Brotscheiben in der Ei-Milch-Mischung einzuweichen. Jedes Mal, wenn Hugo einen Toast aus der Schüssel fischt, tropft er alles voll.

  »Das machen wir nach dem Frühstück weg«, sagt er und sieht seelenruhig dabei zu, wie von seinen Händen eine kleine Pfütze aus gelber Pampe auf den Boden läuft. Immerhin haben wir in den letzten beinahe zehn Minuten ganz friedlich nebeneinandergestanden. Diese neu gewonnene Eintracht will ich nicht zerstören.

  Der Duft der gebratenen Toastscheiben erfüllt die Küche, und als ein kleiner Stapel von sechs Scheiben fertig ist, reicht Hugo mir zwei Teller.

  »Essen wir im Esszimmer?«, frage ich und wische mit einem Papiertuch schnell den Tellerrand ab, den er mit rohem Ei bekleckert hat.

  Hugo schnaubt. »Ins Esszimmer gehe ich nur mit dreckigen Klamotten. Heute essen wir draußen.«

  Ich runzle die Stirn, verkneife mir aber einen Kommentar. Aus einer Schublade hole ich Besteck und gehe dann durchs Wohnzimmer nach draußen, dicht gefolgt von Hugo, der in der einen Hand den Teller mit French Toast trägt und in der anderen eine Schale Erdbeeren. Außerdem hat er sich eine Flasche mit Ahornsirup in die Hosentasche gesteckt. Ich will gerade den Terrassentisch decken, da schüttelt er den Kopf.

  »Iss du ruhig hier. Bäh. Ich mache ein Picknick.«

  »Ein Picknick?«

  »Du kannst Fragen stellen oder mitkommen.«

  »Aber ich habe keine Schuhe an«, protestiere ich, doch Hugo zuckt mit den Schultern.

  »Ich auch nicht.« Er wackelt mit seinem nackten Fuß.

  Ich glaube nicht, dass ich jemals einen alten Mann barfuß gesehen habe. »Okay, warte kurz«, sage ich und entledige mich meiner Socken. Dann folge ich ihm in den Garten.

  Wir gehen auf den verwachsenen Baum zu, hinter dem sich Hugos Schuppen befindet. Je näher wir kommen, desto mehr erkenne ich, dass Hugo sich hier hinten anscheinend seine ganz persönliche Ecke eingerichtet hat. Was auf den ersten Blick verwildert erscheint, ist auf den zweiten ein kleiner Gemüse- und Kräutergarten, der zwar nicht gerade ordentlich, aber doch gepflegt wirkt.

  Hugo verschwindet für einen Moment im Schuppen. Als er wieder herauskommt, hat er eine Decke unter den Arm geklemmt. Er führt mich um den kleinen Holzbau herum, und mir verschlägt es fast die Sprache. Dieser Ort ist so anders als alles, was ich bislang vom Garten oder dem Haus gesehen habe. Das Gras ist hier höher, und an der Hecke, die den Garten vom nächsten Grundstück trennt, wuchern Blumen in bunten Farben.

  Hugo breitet die Decke aus und lässt sich im Schneidersitz darauf nieder.

  »Nicht dein Ding?«, fragt er, als er meinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkt. »Magst du vielleicht noch mal Äh machen?«

  Ich setze mich ebenfalls, reiche ihm einen Teller und Besteck und mache Äh. Denn ich weiß wirklich nicht, was ich hierzu sagen soll. Die Farbenpracht der Blüten, das satte Grün des hohen Grases. Dies ist ein Ort, der vor Lebendigkeit strotzt.

  »Mir gefällt es«, sage ich und lasse mir von Hugo einen French Toast auf meinen Teller legen.

  »Mir auch«, sagt er. »Victor hasst es. Und Faye hasst es aus Loyalität mit.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber mir ist es egal.«

  Ich finde es unfair, dass er Faye in diesen albernen Streit mit seinem Sohn hineinzieht. Es ist nicht ihre Schuld, dass die beiden offensichtlich nicht miteinander können. Und bislang bin ich auch noch unschlüssig, wie viel Schuld Victor an der Sache trägt. Andererseits ist Hugos Ich mache, was ich will -Einstellung auch ein wenig bewundernswert. Dieses Ihr könnt mir nichts. Dieses Ich esse mit meinen guten Kleidern auf dem Boden, und unter eurem Kronleuchter trage ich ein schmutziges T-Shirt. Auch wenn Letzteres vielleicht etwas unhöflich erscheinen mag.

  »Du machst das ganz falsch«, sagt er auf einmal und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

  »Was meinst du?«, frage ich.

  »Das mit dem Ahornsirup. Die Toasts müssen schwimmen. So, siehst du?« Er nimmt mir die Plastikflasche mit dem Sirup au
s der Hand und kippt sich so viel von der goldbraunen Flüssigkeit auf seinen Teller, dass die Toasts tatsächlich darin ertrinken. »Du solltest mir vertrauen«, sagt er und gibt mir die Flasche zurück.

  Hugo erinnert mich in diesem Moment an Adrian, der sich auf seine rote Grütze immer so viel Vanillesoße kippt, dass man die Früchte nicht mehr schmeckt. Ich frage mich jedes Mal, warum er nicht gleich die Vanillesoße pur löffelt.

  »Habe ich dich vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, oder warum denkst du so lange darüber nach?«, fragt Hugo mit vollem Mund.

  »Was? Nein!«, sage ich.

  »Weißt du, manchmal schadet es nicht, einfach nur zu machen, ohne groß darüber nachzudenken.«

  Ich schlucke. Das ist genau die Art von Gedanken, die dazu führt, dass man irgendwann in der Zukunft vor dem Nichts steht. Risiken müssen abgewogen werden. Allerdings schätze ich, ist das Risiko von zu viel Ahornsirup eines, das ich einzugehen bereit bin. Also tue ich es Hugo nach, und er nickt zufrieden. Ich schiebe mir eine Gabel in den Mund, der Ahornsirup tropft auf mein Bein, doch ich habe keine Zeit, um mich darüber zu ärgern. Denn – es schmeckt himmlisch! Der Geschmack des dunkelbraun gebratenen Toasts zusammen mit dem Sirup, die Konsistenz des eiigen Brots … Es ist unglaublich süß und erinnert mich an einen Geschmack aus meiner Kindheit. Vermutlich aus einer Zeit, als ich selbst noch rote Grütze in Vanillesoße ertränkte, sodass sie über den Rand der Schüssel lief. Als mir Geschmack noch wichtiger war als Etikette.

  »Mmmmhhh«, machen wir gleichzeitig, und ich muss lachen, weil sich in meinem Mund alles vor Süße zusammenzieht. Es ist ein erleichtertes, erleichterndes Lachen. Eines, fällt mir auf, das bedeutet, dass ich mich zum ersten Mal seit meiner Ankunft nicht allein fühle. Ist es ein Lachen der Verbundenheit?

  »Und? Hatte ich recht?«, fragt Hugo, und ich nicke begeistert.

  Eine Weile essen wir schweigend, tropfen mit Sirup und genießen die Stille. Dann frage ich: »Was sind das für Blumen?« Denn ich erinnere mich daran, dass die Konversation vor dem Haus über den Baum und das Feenhaar bei meiner Ankunft hier so ungefähr die einzige Unterhaltung zwischen uns war, die einigermaßen geglückt schien.

 

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