Love is Loud – Ich höre nur dich
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In Hugos Blick blitzt kurz etwas auf. Doch gleich darauf verdreht er die Augen, als könne er nicht glauben, wie wenig Ahnung ich von der Welt habe. »Das hier«, sagt er gelangweilt, »ist Rhododendron viscosum.« Er malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft und übersetzt: »Die Sumpf-Azalee.« Danach zeigt er auf einen hellroten Busch. »Luna Hibiskus. Das Gelbe ist Lindera benzoin, genannt Gewürzstrauch. Daraus gewinnt man Piment.«
Die Sonne, die langsam um den Schuppen herumgewandert ist, wärmt mir inzwischen den Rücken, und es fühlt sich überraschend gut an, Hugo Aufmerksamkeit zu schenken. Wahrscheinlich hat Faye tatsächlich recht, wenn sie sagt, dass er Gesellschaft braucht.
»Ich möchte dich etwas fragen, Franziska«, sagt Hugo plötzlich und kneift die Augen zusammen. Es ist das erste Mal, seit meiner Ankunft, dass er einen Vorstoß wagt. »Warum bist du hier?«
Damit habe ich nicht gerechnet. »Ich habe mich bei dem Programm beworben und wurde angenommen«, sage ich. »Ich schätze also, ich bin deinetwegen hier.« Ich versuche es mit einem freundlichen Lächeln. Außerdem habe ich das Gefühl, dass Ich habe bis zehn gezählt und wollte es immer noch nicht gilt.
»Bullshit.« Hugo steckt sich eine Erdbeere in den Mund. »Das ist absoluter Blödsinn. Erstens kennst du mich nicht, also kann es dir vollkommen egal sein, ob ich allein bin. Und zweitens hat mich niemand gefragt, ob ich überhaupt Gesellschaft will. Also hör auf, so einen Scheiß zu erzählen.«
Ich bin erschrocken über seine Ausdrucksweise und die Kälte in seiner Stimme.
»Also, was ist es dann?« Sein Tonfall klingt etwas sanfter, aber er ist weit davon entfernt, freundlich zu sein. Eher abwartend. Lauernd. Als bereite er sich nur auf meine nächste dumme Antwort vor.
»Ich …«, beginne ich und beschließe, einfach die Wahrheit zu sagen. Soll er mich doch auslachen. »Ich wollte ein Abenteuer erleben, bevor ich für den Rest meines Lebens in einem Büro eingesperrt bin.«
Wie zu erwarten, blickt er mich völlig verständnislos an. Aber immerhin scheint er zu wissen, dass ich diesmal keinen »Bullshit« erzähle. »Und was machst du in diesem Büro?«, fragt er mit gerunzelter Stirn.
»Arbeiten.« Was denn sonst ?
»Und was arbeitest du?«
»Ich habe Informatik studiert. Etwas Sicheres, damit ich einen Job finde, der mir ein ordentliches Leben finanziert. Also etwas in diese Richtung.«
»Das klingt nach hundert Prozent Langeweile«, sagt Hugo.
»Oder nach Sicherheit«, sage ich.
»Oder nach Langeweile. Warum machst du nicht einfach dein Leben zum Abenteuer, statt dich mit einem Jahr zufriedenzugeben?«
Ich blicke ihn an. Er hat bestimmt sein Leben zu einem Abenteuer gemacht. Und wohin hat ihn das geführt? Er lebt bei seinem Sohn, den er nicht sonderlich zu mögen scheint. Dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht, steht außer Frage. Also bin ich mir nicht sicher, ob es ihm wirklich zusteht, über mich zu urteilen. Und doch merke ich, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet.
»So funktioniert das Leben aber nicht«, sage ich und habe das verzweifelte Gesicht meiner Mutter vor Augen, als sie herausfand, dass wir von heute auf morgen vor dem Nichts standen. So etwas wird mir nicht passieren.
»Und wie funktioniert es dann?«, fragt er und legt sich der Länge nach auf die Decke, den Kopf auf den Ellbogen gestützt.
»Man ist für sich verantwortlich. Man muss die Zukunft planen. Man muss zusehen, dass man genug Geld hat für Versicherungen und Altersvorsorge. Man braucht ein Dach über dem Kopf. Das funktioniert nicht ohne Geld.«
»Jetzt hör doch mal auf mit diesem Quatsch. Wenn du weiter über Sicherheit, Informatik und Altersvorsorge redest, könnte es sein, dass ich heute den Tag verschlafe. Ich will etwas über dich wissen. Schließlich bist du meine Gesellschaft.«
»Mein Vater hat uns verlassen, da war ich fünf«, sage ich und merke, dass meine Stimme leicht bebt. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Meistens bildet sich ein fester Wutklumpen in mir, wenn ich nur an ihn denke. »Von einem Tag auf den anderen war er einfach weg. Wir hatten kaum Geld, also hat meine Mutter noch mal angefangen zu studieren, um mir und meinem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie ist Lehrerin geworden, wir konnten in eine größere Wohnung ziehen und Urlaub machen. All so etwas. Deswegen weiß ich, wie wichtig es ist, als Frau selbstständig zu sein. Unabhängig. Und dazu braucht man nun mal einen ordentlichen Job.«
Hugo denkt einen Moment nach. Dann sagt er: »Ich wusste gar nicht, dass du zwei Kinder hast.«
»Was?«
»Du hast gesagt, deine Mutter wollte dir und deinem Bruder ein besseres Leben ermöglichen. Das ist großartig von ihr. Aber was hat das mit dir zu tun?«
Ich sehe ihn fragend an. Kann es sein, dass er einfach überhaupt keine Ahnung von dieser Welt hat?
»Wie alt bist du?«, fragt er.
»Einundzwanzig.«
»Und das hier ist dein Abenteuer?«
»Ja.«
»Dein letztes Abenteuer?«
»Ja.«
»Okay, das ist so traurig, dass ich demnächst ein bisschen in mein Kopfkissen heulen werde. Aber dafür ist jetzt keine Zeit, denn wenn du nur ein Jahr hast, dann sind davon gerade sechseinhalb Tage einfach so hopsgegangen. Das heißt, dir bleiben nur dreihundertachtundfünfzigeinhalb.«
»Dreihundertneunundfünfzigeinhalb«, korrigiere ich ihn. »Wegen des Schaltjahrs.« Mit Zahlen und Daten kenne ich mich ein bisschen aus.
»Na, Gott sei Dank«, ruft er aus. »Dann verzieh dich am besten noch einen weiteren Nachmittag in dein Bett und verschlaf die großartigste Stadt der Welt.« Er legt seinen Arm über die Augen und beginnt übertrieben zu schnarchen. »Scherz. Wenn du nicht barfuß gehen willst, zieh dir sofort deine Socken wieder an. Und wenn du nicht in Socken gehen willst, zieh dir Schuhe drüber. Nicht, dass barfuß oder in Socken nicht in Ordnung wäre …«
»Äh, warum?«, frage ich.
»Äh, weil wir in die Stadt gehen.«
»Äh, jetzt?«
»Äh, natürlich jetzt.«
»Okay«, rufe ich und beginne, die Teller einzusammeln.
»Keine Zeit zum Aufräumen. Das machen wir nächstes Jahr!«
Gerade will ich mir den Autoschlüssel des Drittwagens schnappen, den Faye und Victor mir zur Verfügung stellen.
»Was machst du da?«, fragt Hugo.
»Macht man in den USA nicht alles mit dem Auto?«
»In New Orleans fahren nur Trottel wie mein Sohn mit dem Auto.«
Und wie Faye, füge ich in Gedanken hinzu und werfe Hugos Rücken einen tadelnden Blick zu.
»Wir nehmen das Streetcar. Nach dir«, sagt er und hält die Tür auf.
»Warte, ich brauche noch …«, sage ich und krame in meiner Tasche, um nachzusehen, ob ich alles habe.
»Papperlapapp«, sagt Hugo. »Das Einzige, was man wirklich braucht, ist ein Bleistift.«
»Was?«
»Hast du einen Bleistift? Wenn man Ideen hat, muss man sie doch aufschreiben können!«
»Äh, nein … «
»Dann nimm den hier.« Aus seiner Hosentasche zieht er einen winzigen Bleistiftstummel. Er reicht ihn mir, und ich lasse ihn ein bisschen verwirrt in meine Tasche fallen.
Dann trete ich hinaus und fühle mich auf einmal ganz hibbelig. Mein Abenteuer fängt in diesem Moment so richtig an. Erstaunlicherweise mit Hugo an meiner Seite. Und auf einmal wirkt er deutlich weniger angepisst.
»Hier lang«, sagt er, weil ich intuitiv in die falsche Richtung gelaufen bin.
Ich drehe um und folge ihm den Gehweg entlang, der aus grauen Steinplatten zusammengestückelt ist. Hier und da sind die Platten auseinandergebrochen oder ragen schief nach oben, sodass man aufpassen muss, wo man hintritt. Die Bäume am Straßenrand bieten ausreichend Schatten und sorgen für eine angenehme Temperatur, die heute sicher die Fünfundzwanzig-Grad-Marke knackt. Die Feuchtigkeit macht mir mehr zu schaffen, aber daran werde ich mich schon gewöhnen.
»Ich weiß, dir gefällt es hier nicht«, sage ich zu Hugo, der schon ein paar Meter zwischen mich und sich gebracht hat und keine Notiz von al
l den Prachtbauten um sich herum zu nehmen scheint. »Aber ich finde es wunderschön.«
»Ich finde es auch schön«, sagt er mit einem Blick auf einen alten Baum hinter dem Zaun zu unserer Linken. »Ich mag nur die Leute nicht. Außerdem zeige ich dir jetzt das richtige New Orleans. Das, wo Musik ist. Dann wirst du schon verstehen, warum das hier nicht mein Lieblingsort ist.«
An einer großen Straße bleibt Hugo neben einem winzigen Schild stehen, auf dem Car Stop steht.
In der Ferne sehe ich eine Straßenbahn. Je näher sie kommt, je mehr ich erkennen kann, desto überraschter bin ich, wie winzig sie ist. Es ist einfach nur ein Wagen. Ein sehr alt aussehender noch dazu .
Hugo hebt den Arm, und das Streetcar hält an. Die Tür springt auf, und er klettert die Stufen hinauf. Ich folge. Der Fahrer blickt mich fragend an.
»Zwei Tagestickets«, sagt Hugo und streckt die Hand nach meinem Geldbeutel aus, den ich ihm einfach überlasse. Er bezahlt und drückt mir dann einen Fahrschein in die Hand. Dann läuft er zu einer der Holzbänke und setzt sich.
»Das ist die St.-Charles-Linie«, sagt er, als ich neben ihm Platz nehme. »Du musst wissen, wo du aussteigen willst, und dann an dieser Schnur ziehen, damit der Fahrer es mitbekommt.« Er deutet auf ein weißes Kabel, das auf beiden Seiten des Streetcars durch den gesamten Wagen gespannt ist. »Aber wir fahren bis zur Endstation, weil wir ins French Quarter wollen. Da hält er ohnehin.«
Ich bin fasziniert von dieser beinahe antiken Art der Fortbewegung. Es rumpelt und kreischt und geht alles andere als schnell voran, aber es hat etwas sehr Romantisches. Links und rechts der Schienen fahren Autos. Es ist, als wären wir auf einer kleinen historischen Insel zwischen dem Verkehr.
Wir erreichen die Station Canal at Carondelet ungefähr zehn Minuten später. Im Vergleich zum ruhigen, verträumten Garden District ist hier die Hölle los. Hotels in Wolkenkratzern, Souvenirshops, Verkehr, Menschenmassen. Mein Kopf kommt gar nicht mit vor lauter Lärm, Farben, Gerüchen. Kurz muss ich innehalten und nach oben zum Himmel blicken, um mich zu orientieren. Doch dann atme ich einmal tief ein und beschließe, mich auf das alles hier einzulassen.
»Kommst du?«, fragt Hugo, der schon halb über die riesige Straße gelaufen ist. Sie wird von Palmen gesäumt, und in der Mitte befinden sich auch hier wieder Streetcar-Schienen. »Statt die Stadt in Nord, Süd, Ost und West zu unterteilen, sagen wir River, Lake, Uptown und Downtown. Da ist River «, sagt Hugo und deutet rechts die Straße hinunter, als ich ihn eingeholt habe.
»Der Mississippi?«
»Nein, der Sissimippi. Natürlich der Mississippi. Das hier ist die Canal Street.« Er zeigt die große Straße auf und ab. »Und hier geht’s in die Bourbon Street. Das ist abends und nachts die Partymeile. Jetzt ist es Gott sei Dank noch etwas ruhiger und weniger vollgekotzt.«
»Vollgekotzt?«
»Ja, was glaubst du denn, was Partymeile heißt? Nachtclubs, Tanzbars, jede Menge Alkohol und nackte Brüste.«
»Nackte Brüste?« Ich kann nicht anders, als zu wiederholen, was Hugo sagt.
»Ja, die Jungs machen sich einen Spaß daraus, Perlenketten an diejenigen zu verteilen, die ihre Brüste entblößen. Dabei kann man diesen Plastikschrott überall umsonst kriegen, wenn man will.«
Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Alles ist hier so bunt, so funkelnd und leuchtend. Die Bilder, die ich mir vor meiner Reise angesehen habe, wurden der Stadt absolut nicht gerecht. Die Fassaden der meist zweistöckigen Häuser sind bunt gestrichen. Orange, rot, gelb. Warme Farben. Auch hier sind die Balkons hübsch verziert und bepflanzt. Auf manchen stehen Leute und trinken. Es scheinen Hostels und Hotels zu sein. Aus einigen Bars ertönt Musik.
»Hier ist eigentlich immer und überall Livemusik«, sagt Hugo. »Egal zu welcher Zeit, du findest garantiert eine Band, die sich lohnt.«
Wir bleiben vor einer Bar stehen, die Lou’s heißt. Auch hier spielt gerade eine Band. Es klingt lustig. Nach schnellem Tanz mit Akkordeon und Waschbrett. Die Melodie ist eingängig und doch leicht fremd. Zumindest für meine Ohren. Frech auf eine traditionelle Art .
»Zydeco«, erklärt Hugo. »Ist entstanden, als sich die Cajun-Musik mit afroamerikanischen Einflüssen vermischt hat.«
»Cajun?«, frage ich.
»Die akadischen Franzosen, die im achtzehnten Jahrhundert aus Kanada vertrieben wurden und sich in Louisiana ansiedelten. Aus ›acadian‹ wurde ›cadian‹ und dann ›cajun‹.«
An einer Kreuzung müssen wir warten, weil eine waschechte Pferdekutsche an uns vorbeizieht. Das Klappern der Hufe und die Glöckchen, die am Halfter angebracht sind, begleiten uns noch gut fünfzig Meter auf unserem Weg durch die Bourbon Street. Schließlich biegen wir rechts ab und gelangen nach zwei Blocks, die ebenfalls aus diesen entzückenden farbenfrohen Häusern bestehen, in denen sich nun vermehrt Touristengeschäfte und Boutiquen befinden, auf einen großen Platz.
»Jackson Square«, sagt Hugo. »Saug ihn auf.«
Ich weiß nicht genau, was er damit meint, aber ich versuche seinem Befehl gerecht zu werden. In der Mitte des Platzes befindet sich ein kleiner Park mit Palmen und Bananenstauden, zu meiner Linken ragt eine Kirche in den blauen Himmel auf. Sie ist ganz in Weiß gehalten mit dunkelgrauen spitzen Türmen und hebt sich damit strahlend von all den Farben ab, die sie umgeben. Denn nicht nur die Häuser sind ansonsten alle bunt, sondern auch die Menschen, die Bilder, die am Zaun des Parks hängen und zum Verkauf angeboten werden, die Sonnenschirme, unter denen Leute Tarotkarten legen oder Karikaturen von Touristen anfertigen. Laute Brass-Musik erschallt aus einer der Nebenstraßen. Als ich den Kopf wende, sehe ich, dass eine ganze Band mit ihren Blasinstrumenten gerade vom Platz wegzieht. Hinterher läuft ein Schlagzeuger, der sich eine gigantische Trommel um den Bauch geschnallt hat und gleichzeitig ein Becken bedient. Es kommt mir vor wie eine große, hemmungslose Party – oder besser: wie ein Festival.
»Das ist es«, sagt Hugo. »Das ist New Orleans.«
»Wow«, entfährt es mir, und ich kann nicht anders, als breit zu grinsen.
Auf der anderen Seite der Kirche hat sich eine Menschentraube gebildet.
»Was passiert da?«, frage ich.
»Keine Ahnung, finden wir es heraus!«
Hugo bahnt sich einen Weg durch die Menschen, und ich folge ihm einfach. Es ist mir ein wenig unangenehm, dass wir uns durchdrängeln, aber niemand scheint sich gestört zu fühlen. Als wir es nach vorne geschafft haben, bin ich zunächst etwas verwirrt, denn vor uns sitzt einfach nur ein Straßenmusiker mit seiner Gitarre. Er trägt ein Unterhemd, darüber Hosenträger. Gerade stimmt er nach. Dann räuspert er sich und blickt auf. Es ist ein hübscher Kerl, das muss man ihm lassen. Seine dunkelblonden Haare sind verstrubbelt und fallen ihm auf der einen Seite neckisch in die Stirn. Er grinst schief und streicht sich die Haare aus dem Gesicht in dem Versuch, sie zu bändigen. Er hat schöne, graublaue Augen.
»Hat jemand einen Wunsch?«, fragt er. Seine Stimme ist tief und ein bisschen heiser. Doch keiner sagt etwas. »Kommt schon, y’all, nicht so schüchtern!«
Sein Lächeln wird breiter, und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, er sieht mich direkt an. Ich blicke mich um und verstehe. Jedes Mädchen, jede Frau hat dieses Gefühl. Er flirtet mit der Menge. Mit allen gleichzeitig. Und er macht seine Sache richtig gut. So gut, dass ich fast wünschte, seine Aufmerksamkeit gelte mir persönlich.
»Du vielleicht, du hast schließlich den letzten Song verpasst. Und jetzt ist die Gitarre frisch gestimmt. Kann also nur gut werden. «
Ein paar Leute lachen, und mir wird heiß. Wieder sehe ich mich um, doch nun sind mehrere Augenpaare auf mich gerichtet. Meint er wirklich mich? Ich habe keine Ahnung, was er spielen soll. Und jetzt ist mein Kopf auf einmal leer. Großartig. Das ist mir seit meiner letzten mündlichen Prüfung an der Uni nicht mehr passiert. Ich spüre, wie Hugo mich mit seinem Ellbogen anstupst.
»Na komm«, raunt er.
»Äh«, sage ich. Und dann das Erste, was mir in den Sinn kommt. »Jelly Roll Morton?«
»Good old Jelly Roll«, sagt der Gitarrist mit seinem lang gezogenen New-Orleans-Akzent und schenkt mir e
in Lächeln, das sich in mir weiter ausbreitet. »Eine NOLA -Legende. You got it. « Er senkt seinen Blick auf die Seiten und beginnt zu spielen. »Wer aus New Orleans ist, kennt diesen Tune. Für alle anderen: Der Song heißt Doctor Jazz. «
Beifallsrufe erschallen aus der Menge, während der Gitarrist seine Hände über die Gitarrensaiten wandern lässt. Erst langsam, aber er nimmt immer mehr Tempo auf, und als das Vorspiel vorbei ist, fliegen seine Finger nur so über das Instrument. Dann beginnt er zu singen.
»Hello Central give me Doctor Jazz
He’s got what I need, I’ll say he has …«
Er blickt auf, und diesmal bin ich mir sicher, dass er mich ansieht.
»When the world goes wrong and I’ve got the blues
He’s the guy who makes me put on both my dancin’ shoes …«
Seine Singstimme ist wie seine Sprechstimme. Angenehm tief. Leicht kratzig. Stimmen werden immer mit Samt verglichen. Und seine Stimme ist ebenfalls wie Samt – was für ein Klischee –, aber Samt, den man gegen den Strich streichelt.
Ich merke, wie Hugo neben mir im Takt nickt. Und auch ich kann mich nicht wirklich dagegen wehren, dass mich die Musik einnimmt. Ich bin wahrhaftig keine große Tänzerin. Ich fühle mich dabei immer unwohl und unter Beobachtung. Bei allen anderen wirkt es leicht und natürlich. Sie wissen, wie sie sich im Takt bewegen, und sehen dabei lässig und sexy aus. Ich bin absolut steif in der Hüfte und habe das Gefühl, nur noch aus Gliedmaßen zu bestehen, von denen ich nicht weiß, wo sie hingehören. Aber hier ist es anders. An der Seite von Hugo, diesem mürrischen Mistkerl, ist es mir auf einmal viel weniger peinlich, als es zu Hause je möglich gewesen wäre. Er sieht mich an und verzieht seinen Mund zu einem Lächeln, das bis zu seinen Augen hochwandert. Das ist eine Premiere, und mir fällt auf, dass er sehr sympathisch wirkende Lachfältchen um die Augen hat. Anscheinend hat er früher mal mehr gelächelt.
Hugos Nicken wird zu einem Wippen und das Wippen zu Bewegungen und die Bewegungen zu einem Tanz. Andere Leute lösen sich aus der Menge und tun es ihm nach. Sie tanzen tatsächlich hier auf dem Platz zu einer Musik, von der ich nicht einmal wusste, dass man dazu tanzen kann! Ich stehe zwar noch am Rand, aber auch ich bin in Bewegung. Es ist, als würde mein Körper auf einmal wissen, was er tun muss, um sich nicht bescheuert zu fühlen. Sobald dieser Gedanke richtig in meinem Kopf angekommen ist, versteife ich mich wieder. Das bin gar nicht ich. Das ist albern. Ich wippe wieder nur und trete einen Schritt zurück. Und noch einen. Und dann hinter einen dicken Kerl, der ein I got f****** drunk in NOLA -Shirt trägt.