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Charisma

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by Michael G. Coney


  Sobald sich die Tür hinter uns geschlossen hatte – Dorinda war nicht im Zimmer –, begann Pablo zu sprechen, wobei er jedes Wort sorgfältig betonte. »Wal, ich möchte, daß wir alle vernünftig sind. Heute vormittag sind ein paar harte Worte gefallen, und das tut mir leid.«

  Mellors ließ sich auf den Bettrand fallen. »Mir auch, Pablo. Mir auch. Am besten, wir vergessen die ganze Sache, wie?«

  »Wenn du sagst, wir wollen die ganze Sache vergessen, was schließt das ein, Wal?«

  »Ich meine all die unangenehmen Worte, die da gefallen sind.

  Denken wir nicht mehr daran. Vergessen wir sie.«

  »Einschließlich Ihrer Bergungsansprüche, Wal?«

  »Oh, kommen Sie, Pablo. Ich habe gesagt, wir wollen die Unannehmlichkeiten vergessen. Es ist nichts Unannehmliches in

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  meinem Anspruch. Der ist schlicht und einfach Geschäft. Wir wollen die Geschichte doch nicht noch einmal durchkauen, wie?«

  »Deshalb bin ich aber hier, Wal.«

  Mellors Gesicht bekam einen brutalen Ausdruck. »Dann verschwenden Sie Ihre Zeit, und die meine auch. Ich habe Ihnen meinen Standpunkt klargemacht. Sie haben einen Tag, um darüber nachzudenken, dann melde ich meinen Anspruch an.

  Und denken Sie daran, daß ich in dieser Gegend das Gesetz in der Tasche habe.«

  Mir begann endlich zu dämmern, daß Mellors Bergungsanspruch für mich die Halbierung meiner Provision bedeutete. »Ich glaube, wir sollten die Sache noch einmal gründlich durchdenken, Wal. Ihr Anspruch leitet sich anscheinend zum großen Teil aus der Tatsache ab, daß ich die zu bergenden Boote betrat, während ich in Ihren Diensten stand.« Ich zögerte und stellte fest, daß ich nervös meine Fäuste ballte und öffnete. »Es gibt jedoch nichts Schriftliches, aus dem hervorgeht, daß Sie mein Arbeitgeber sind. Ich habe keinen Vertrag.«

  Mellors blickte mich spekulierend an. »Gut«, sagte er. »Gut.

  Ich wäre Ihnen dankbar, Gentlemen, wenn Sie jetzt mein Zimmer verließen. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.« Als wir gingen, hob er das Visiphon ab.

  Draußen sagte Pablo zu mir: »Ich danke dir, John, aber es war sinnlos, deinen Hals zu riskieren. Wenn du bestreitest, daß eine Bergung stattgefunden hat, kann er sich auf die Zeugen auf der Pier berufen. Erinnere dich daran, wie sorgsam er darauf geachtet hat; daß sie die Situation begriffen. Jetzt wird er dich feuern, denke ich.«

  Das war mir auch klar. Ich dachte an all die Monate, die ich hier gearbeitet und verschwendet hatte. Ich dachte daran, daß Pablo aufs Kreuz gelegt worden war. Als wir die Treppe erreichten, blieb ich zögernd stehen. Ich glaube, wenn ich eine Pistole bei mir gehabt hätte, wäre ich zurückgegangen, hätte ihm eine Kugel in den Magen geschossen und zugesehen, wie er

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  langsam verreckte. Und, wie Pablo gesagt hatte, es würde alle Probleme lösen – wenn ich nicht erwischt wurde…

  Die Szene hatte mich nüchtern gemacht. Ich nahm Pablo beim Arm. »Ich glaube, wir brauchen noch einen Drink«, sagte ich.

  Ich erwachte am nächsten Tag gegen Mittag mit irrsinnigen Kopfschmerzen. Ich konnte nicht glauben, daß es schon so spät war, als ich auf meine Uhr blickte. Vielleicht war ich erst am Morgen ins Bett gekommen. Ich konnte mich erinnern, irgendwann auf den Klippen gewesen zu sein. Ich erinnerte mich, tief unter mir die silbrige Gischt auf dem schwarzen Wasser gesehen zu haben, wo die Wellen gegen die scharfkanti-gen Felsen brandeten. Ich erinnere mich auch an das Gesicht eines Barmannes, der den Kopf schüttelte, an Menschen, die etwas murmelten und sich von mir zurückzogen.

  Ich rollte aus dem Bett und nahm zwei Alka-Selzer, zog mich an, rasierte mich und versuchte, nicht zu denken, versuchte, mich mit trivialen, gedanken- und zeiterfordernden Dingen zu beschäftigen. Ich verbrachte eine Stunde auf diese Weise, dann ging ich auf einen Drink in die Stadt.

  Der Barmann bei Waterman’s blickte mich zurückhaltend an.

  »Wie fühlen Sie sich heute, Mr. Maine?« fragte er.

  Ich murmelte irgend etwas und kippte rasch einen doppelten Scotch. Den zweiten trug ich zu einem Tisch und setzte mich. Ich blickte umher, sah mir die Gesichter der anderen Gäste an und dachte, was für eine lausige, stinkende Bande sie waren, in was für einer lausigen, stinkenden Welt sie lebten. Und ich begann an die anderen Welten zu denken. Ich bestellte noch einen Drink.

  Ich dachte an meine Susanna, die tot war. Ich dachte an das, was sie gesagt hatte: Die Geschichte scheint immer einen Ausgleich zu schaffen. Die Menschen in einer Welt sind fast so wie die Menschen in einer anderen. Ich dachte: Jetzt, in diesen Stunden und Tagen, in einer Welt nach der anderen, bis in die Unendlichkeit, sterben Susannas, sind sie gestorben, werden sie

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  sterben, nur um die Ausgeglichenheit zu bewahren. Sechshundert Menschen sterben bei einem Flugzeugabsturz auf Welt A, also muß die gleiche Zahl auf Welt B umkommen. Und auf Welt C. Und auf Welt D und E. Und es gibt nichts, was man dagegen tun könnte. Die Menschen und die Susannas werden sterben…

  Ich schwöre, daß ich mich erst jetzt an die Susanna in meiner eigenen Welt erinnerte.

  Ich ließ meinen Drink auf dem Tisch stehen, rannte zur Tür und fuhr so schnell ich konnte zur Station. Der vorhergesagte Regen begann zu fallen; meine Sicht wurde dadurch behindert, ich war betrunken, aber ich schaffte es.

  Ich nannte dem Torwächter meinen Namen. »Ich muß Stratton sehen«, sagte ich. »Sofort.«

  Geh Bill Stratton aus dem Weg, hatte meine Susanna mir gesagt…

  »Besucher sind hier nicht zugelassen«, sagte der Wächter, der auf der anderen Seite des Zauns in Sicherheit war. Aber ich hatte Stratton in einem Fenster entdeckt.

  Ich rief seinen Namen, und er blickte in meine Richtung. Er runzelte die Stirn. Er erkannte mich nicht; er hatte mich bisher nur einmal gesehen. Ich schrie wieder seinen Namen, er öffnete das Fenster und verzog das Gesicht, als er von schweren Regentropfen getroffen wurde. »Was wollen Sie?« rief er.

  »Ist Susanna hier?«

  »Susanna? Wer, zum Teufel, ist Susanna? Und wer, zum Teufel, sind Sie, daß Sie hier herumschreien? Dies ist eine geheime Anlage.«

  O mein Gott. »Wenn Sie nicht auf das hören, was ich Ihnen zu sagen habe«, schrie ich zurück, »wird Susanna sterben!«

  Das wirkte. Er kam atemlos zur Pforte. Ich muß zugeben, daß Bill Stratton intelligenter war, als er aussah. Er begriff die Situation sofort und zeigte nicht die geringste Überraschung, daß

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  die parallelen Welten Forschungen nach denselben Richtlinien betrieben. Aber anscheinend war ich zu spät gekommen.

  »Das heutige Experiment ist abgeschlossen«, sagte er, als wir kurz darauf am Fenster seines Büros standen und das Wetter-leuchten am westlichen Himmel beobachteten. »Ich erwarte sie jede Minute zurück. Sie hat ein Hover-Car.«

  Wir warteten mehrere Minuten, dann holten wir den Arzt der Station, luden Sauerstoffzylinder und chirurgische Instrumente in ein Hover-Car und fuhren zur Starfish Bay, während Blitze über den dunklen Himmel zuckten und der Fall wind uns mit Gischt überschüttete. Stratton wirkte älter, erheblich älter, und sehr niedergedrückt. Er liebte Susanna.

  Wir fuhren rasch den holprigen Pfad hinab, und plötzlich grinsten uns die bleichen Steine der zusammengefallenen Hütte an, und die beiden Bäume waren da und verstreuten welkes Laub. Und einer der beiden war zerstört, der Länge nach gespalten wie von einer gigantischen Axt, und das Mädchen lag zusammengekrümmt auf dem nassen Gras.

  Sekunden später blickte der Arzt auf und wischte sich Regentropfen aus dem Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte er.

  Stratton trug die leblose Susanna zum Hover-Car.

  Ich überließ alles andere dem Arzt und nahm Stratton mit auf mein Boot. Es schien das einzig Richtige zu sein. Er konnte die Station und die stummen Anklagen von Alan Copwright, Jean Longhurst und den anderen noch nicht ertragen. Er brauchte Ruhe und einen Drink, und die Gesellschaft eines Mannes, der S
usanna auch verloren hatte…

  Irgendwann sagte er, wie um sich zu verteidigen: »Wir mußten sie dafür verwenden, sehen Sie das nicht ein? Sie konnte ihren Kreis nicht verlassen. Die Menschen mußten zu ihr kommen. Sie war sehr schön…«

  »Ist jemand zu ihr gekommen?« fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

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  »Nein«, antwortete er. »Die Wahrscheinlichkeit war sehr gering.« Er war betrunken und sprach sehr sorgsam. »Es gibt nur einen Typ Mensch, der sie sehen und in ihren Kreis treten konnte.«

  Ich war auch betrunken. Ich hatte das Gefühl, seit Tagen betrunken zu sein. »Ich weiß.«

  »Wer?« fragte er.

  »Ich.«

  Der Regen trommelte auf das Kabinendach, während er mich anblickte, mit seltsam leeren Augen. Ich fragte mich, ob er auf irgendeine Art auf mich eifersüchtig war. Die andere Susanna hatte mich geliebt. Strattons Susanna war mit ihr identisch –

  fast. Das Boot schaukelte leicht auf den flachen Wellen.

  »Sie leben in geborgter Zeit, Maine«, sagte er.

  »Das weiß ich. Ich tue es seit einigen Tagen.« Es kam auf nichts mehr an. Wir hätten Susanna nicht retten können. Sie war zum Sterben verurteilt worden, in dem Augenblick, als meine Susanna starb. Ihre Wege verliefen parallel. Die Mädchen starben, auf allen Welten, bis in die Unendlichkeit.

  Meine Susanna hatte gesagt: Wir haben so wenig Zeit. Aber damit hatte sie nicht sich gemeint. Sie hatte mich gemeint.

  Zwei Menschen können nicht gleichzeitig in derselben Welt leben. Aber ich konnte in Susannas Welt treten.

  Deshalb mußte mein Doppelgänger in ihrer Welt tot sein. Sie wußte das.

  Und die Geschichte wird einen Ausgleich schaffen. Susanna hatte mich gebeten, auf mich achtzugeben und Bill Stratton aus dem Weg zu gehen, weil sie wußte, daß in ihrer Welt Bill Stratton mit meinem Tod zu tun hatte…

  Stratton weinte jetzt schwache, trunkene Tränen. »Ich habe sie geliebt«, murmelte er. Er blickte mich mit rotgeränderten Augen an. »Wieviele von ihr haben wir getötet?«

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  Plötzlich hatte ich genug von ihm, von seinem Gejammer. Ich stand auf. »Wir haben nichts mehr zu trinken«, sagte ich. »Aber es ist noch Zeit, in der Stadt Nachschub zu holen. Kommen Sie mit?«

  Es goß in Strömen, und die Planke, die vom Boot zum Pier führte, war glitschig. Das Wasser ebbte rasch und rauschte unter der Planke hinweg. Die Lichter von Falcombe schimmerten durch einen Regenschleier. Ich sah, wie das Schild der Waterman’s Arms in dem böigen Wind wild hin und her pendelte.

  Die Planke federte und schwankte, als Stratton sie taumelnd überschritt.

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  ALS WIR WATERMAN’S ARMS verließen, war es elf Uhr geworden.

  Wir bogen von der engen Hauptstraße ab und latschten durch die Pfützen auf dem Pier. Eine einzige nackte Birne brannte; das war eine kürzlich beschlossene Konzession des Stadtrats von Falcombe an mich, den einzigen Menschen, der nach Abschluß der Saison an Bord eines Wasserfahrzeugs wohnte. Die Touristenbeleuchtung hing als dunkle Girlanden zwischen hohe Pfosten an beiden Seiten des Piers.

  Wir gingen über die Planke und traten in die Kabine; ein fader Geruch von Alkohol und Zigarettenrauch hing in der Luft, mit einer kleinen Würze von Propangas. Morgen früh mußte ich nach dem Kocher sehen; wahrscheinlich war irgendwo ein kleines Leck. Ich steckte den Kocher an und setzte Kaffeewasser auf.

  Stratton hatte sich nüchtern getrunken. Er blickte mich trübsinnig an und ignorierte das Bier, das wir von Waterman’s Arms mitgebracht hatten. »Sie leben in geborgter Zeit, Maine«, sagte er wieder.

  Ich wünschte, er würde damit aufhören. Er hatte den Satz den ganzen Abend über ständig wiederholt, und schien auf dieses Schlagwort stolz zu sein. Ich sagte ihm, er solle den Mund halten. Er lächelte mit den Lippen, seine rotgeäderten Augen blieben davon unberührt.

  »Sie haben nichts zu verlieren«, sagte er.

  Ich nahm einen Schluck Kaffee. Er schmeckte gut. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

  »Wir könnten Sie in der Forschungsstation gebrauchen.«

  »Sie meinen, weil ich ersetzbar bin?«

  »Es ist überhaupt kein Risiko damit verbunden. Was heute geschehen ist, war ein Unfall, für den die Chancen eins zu einer Million standen.«

  So vergingen mehrere Stunden.

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  Am nächsten Morgen spürte ich, daß jemand an Deck war, zog ein paar Sachen über und trat hinaus. Der Junge war wieder da und angelte vom Bug aus, seine Köder auf einer feuchten Zeitung ausgebreitet. Sie stanken.

  »Verschwinde! Nimm das Zeug mit. Ich habe dir schon einmal gesagt, daß du hier nichts zu suchen hast.«

  Er ging, und ich machte mir ein leichtes Frühstück. Stratton wurde wach und stöhnte.

  »Jesus, ich habe einen Kopf…«

  »Trinken Sie eine Tasse Kaffee, dann fahre ich Sie zur Station«, sagte ich.

  »Danke. Haben Sie es sich überlegt? Auf der Station auszuhel-fen, meine ich.«

  Ich hatte den ganzen gestrigen Tag über weder Mellors noch Pablo gesehen und deshalb keine Ahnung, ob ich gefeuert worden war oder nicht. Ich war aber fast sicher, daß es so war.

  Doch egal, wie die Situation sein mochte, ich brauchte einen Tag oder zwei ohne das Hotel. Außerdem begann sich in meinem Kopf eine Idee zu formen. »Was genau erwarten Sie von mir?«

  fragte ich vorsichtig.

  »Das sage ich Ihnen, wenn wir dort sind.«

  Wir frühstückten schweigend und fuhren dann schweigend zu dem häßlichen Betonklotz hinaus. Stratton erklärte mir seine Theorien, als wir in seinem karg und klinisch wirkenden Büro saßen.

  »Vor einigen Tagen haben Sie ein Mädchen von Parallelwelt 2, wie wir es nennen, getroffen«, sagte er. »Susanna Lincoln.

  Unsere Welten liegen einander sehr nahe.« Er berichtete mir etwas über die von der Station bisher geleisteten Arbeit; es schien, als ob ihre Experimente etwa den gleichen Stand erreicht hatten wie die auf Welt 2, und auch die daraus gezogenen Schlüsse waren ähnlich, obwohl es so aussah, als ob seine Susanna nicht das Glück gehabt hatte, einen Kontakt zu finden.

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  »Sie mußte dort sitzen und auf jemand warten, der sie ansprach.

  Eine besondere Art von Jemand. Jemand wie Sie.« Er machte eine Pause, steckte sich eine Zigarette an und beobachtete mich.

  Nach seinen Darstellungen waren die Regeln des Spiels äußerst streng. Ich war auf Welt 2 gestorben, also würde ich auch auf Welt 1 bald sterben. Die Geschichte würde für Ausgleich sorgen.

  Der persönliche Aspekt interessierte ihn nicht. »Es ist eine große Chance«, sagte er. »Susanna mußte auf einen Kontakt warten, Sie haben dieses Problem jedoch nicht. Wir können Sie in Welt 2 projizieren, und Sie können aus dem Zeitkreis hinaustreten. Sie können sich in einer anderen Welt frei bewegen. Stellen Sie sich das vor, Maine!« Er paffte hastig an seiner Zigarette. »Sie können alles erfahren – können die Geschichte mit der unseren vergleichen, können visuelle Bandaufzeichnungen und Tonbänder mitbringen… Unser ganzes Forschungsprogramm würde erheblich vereinfacht.«

  Es war nicht Enthusiasmus, was mich veranlaßte, seinen Vorschlag anzunehmen. Ich hatte meine eigenen Gründe dafür, Welt 2 sehen zu wollen.

  Ich wollte feststellen, wie und warum ich dort gestorben war.

  Susanna hatte angedeutet, daß Stratton irgend etwas damit zu tun gehabt hätte. Ich fragte mich, ob es wirklich möglich wäre, genügend Informationen zu sammeln, um meinen eigenen, zukünftigen Tod zu verhindern.

  Später stand ich in dem Zauberkreis, in dem Susanna gestorben war. Hundert Yards entfernt pulsierte die herbstlich graue See in der kleinen Bucht; Regentropfen klatschten auf das Steinrechteck und fielen von den braunen Blättern und kahlen Zweigen des Baumes, unter dem ich stand. Neben mir lag der zerborstene Stamm des Baumes, der Susanna g
etötet hatte.

  Ich blickte auf meine Uhr, sah, daß ich noch eine Minute Zeit hatte, und widerstand dem Impuls, wie von Teufeln gehetzt wegzulaufen, so weit fort von diesem Kreis, wie ich in sechzig

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  Minuten laufen konnte. Ich hielt mir die ungeahnte Möglichkeit vor, die mir offenstand: die Chance, drei Stunden in einer parallelen Welt zu verbringen. Aber trotzdem wollte ich fortlaufen, und ich hatte noch immer dreißig Sekunden Zeit dazu. Ich hörte ein Rascheln in dem welken Laub über mir, und ein Eichhörnchen lief den Baumstamm herab. Es sprang in das nasse Gras, sah mich dort stehen und lief auf mein Hover-Car zu, wo es stehenblieb, zurückblickte und sich zu der klassischen Eichhörnchen-Pose aufrichtete, die Vorderpfoten an die Brust gepreßt, den Schwanz über den Kopf gerollt.

  Dann war es verschwunden, und der Wagen ebenfalls. Die Szene vor mir verschob sich, eine winzige, abrupte Bewegung, als ob in einem Filmstreifen ein Bild herausgeschnitten worden war. Die See war jedoch noch immer grau, und der Regen trieb nach wie vor ins Land, aber es war ein sehr feiner Regen, fast nur ein Nebel.

  Ich trat in Welt 2.

  Ich stieg rasch zur Kuppe des Hügels hinauf, der die eine Flanke der kleinen Bucht bildet, und ging auf dem Klippenpfad auf Falcombe zu. Wenig später sah ich die Stadt unter mir liegen, feuchte Dächer, die matt neben der Flußmündung glänzten. Ich zog den Hut in die Stirn und stellte den Jackenkragen auf, als ich weiterging. Stratton, mit seiner Vorliebe für das Melodramatische, hatte mein Gesicht mit Theaterschminke leicht verändert; es könnte unschöne Konsequenzen haben, wenn man mich erkannte, hatte er gemeint. Ein Toter, der durch die Stadt schlendert, könnte vielleicht einige Fragen heraufbeschwören.

  Wenig später verbreiterte sich der Pfad zur Straße, die zwischen den Ferienhäusern abwärts führte; hin und wieder begegneten mir Menschen, die jedoch vorübergingen, ohne mich anzusehen. Es war ein eigenartiges Gefühl, durch Falcombe zu gehen: der Ort schien unverändert, die Geschäfte identisch, und ich erkannte viele der Gesichter, die ich sah. Stratton hatte mir gesagt, daß Welt 2 der unseren sehr ähnlich sei, und damit hatte er recht. Die Ähnlichkeit war so unheimlich, daß ich meine Tranportation vergaß – oder vielleicht versuchte ich mir

 

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