Charisma
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Schließlich erreichte ich die Deckung der Bäume, blieb stehen, lehnte mich gegen den einen dünnen, tropfenden Baumstamm und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während um mich herum große Wassertropfen in den durchweichten Laubteppich fielen. Ich mußte nachdenken. Ich mußte zu irgendeinem Entschluß kommen.
Von Dorinda konnte ich keine Hilfe erwarten. Aus Gründen, die nur ihr bekannt waren, hielt sie mich für den Killer – oder sie war eine verdammt gute Schauspielerin. Diese zweite Möglichkeit gewann immer mehr Wahrscheinlichkeit, je länger ich über sie nachdachte, doch in meiner jetzigen Situation nützte mir das nichts. Was immer Dorindas Grund für ihre Beschuldigung sein mochte, ich mußte ihr aus dem Weg gehen.
Außer ihr kannte ich niemanden in der Stadt gut genug, um von ihm Hilfe erhoffen zu können. Meine einzige Chance waren Pablo und Dick – aber ich hatte keine Ahnung, wo ich die finden konnte. Vielleicht waren sie noch im Hotel oder auf meinem Boot. Doch ganz egal, wo sie sein mochten, Bascus würde sie unter Beobachtung halten und nur darauf warten, daß ich
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versuchte, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich konnte sie nicht einmal anrufen; alle Gespräche liefen über die Rezeption, und ich war sicher, daß Bascus inzwischen einen Polizisten dort hingesetzt hatte.
Ich stand noch immer an den Stamm der Ulme gelehnt und begann zu zittern, als Nässe und Kälte auf die Haut durchdran-gen und sich mit der geistigen und körperlichen Erschöpfung vereinigten. Ich sehnte mich nach dem Vertrauten, nach einem Glas Scotch in einem bequemen Sessel, in Gesellschaft eines Freundes. In der Hotelbar lassen wir während des ganzen Winters ein Kaminfeuer brennen, um dem Raum Atmosphäre zu geben; ich sah es jetzt vor mir, sah das Tanzen und Zucken der Flammen, wenn man sie durch die aufsteigenden Blasen des bernsteinfarbenen Drinks betrachtet. Wärme und Bequemlich-keit, und das summende Geräusch einer trägen, freundlichen Unterhaltung.
Anstelle dessen stand ich zitternd unter einem Baum, ein gejagtes Wild. Ich blickte die hohen Stämme der Bäume an, zwischen denen ich stand; sie wirkten rätselhaft im Zwielicht, und ich konnte nicht glauben, daß dies alles mir geschah.
Ich brauchte irgendeinen Platz, wo ich mich die Nacht über verkriechen konnte. Ich brauchte einen Drink und einen langen, tiefen Schlaf; vielleicht würde ich am Morgen wieder klar denken können. Vielleicht konnte ich dann mit Stratton Verbindung aufnehmen und mich hinaustransportieren lassen. Die Vorstellung einer alternativen Welt, wo ich nichts zu fürchten hatte, erschien mir äußerst reizvoll. Ich konnte mich dort ein wenig umsehen und vielleicht ein paar Hinweise entdecken, die sich auf diese Welt bezogen…
Ich warf einen Blick auf meine Uhr: vier Uhr dreißig. Möglicherweise war Stratton noch in der Station; er schien häufig bis zum Abend zu arbeiten. Ich hatte einen Weg von drei Meilen vor mir, und ein Stück davon führte durch Falcombe, wo Bascus’
Männer vielleicht durch die Straßen streiften.
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Das Krankenhaus lag an meinem Weg und ich beschloß, dort kurz Station zu machen; wenn die Polizei meinen Wagen nicht entdeckt hatte, konnte ich ihn jetzt, wo es dunkel wurde, vielleicht benutzen. Und im Handschuhfach war eine Flasche Scotch.
Die Sicht verschlechterte sich rasch; dünne Baumschößlinge peitschten mir ins Gesicht, als ich den Hang hinauf schritt. Der Boden wurde steinig, und ich fiel mehrmals, wobei ich mir Knie und Hände aufschrammte. Wenig später führte der Weg einen fünfundvierzig Grad steilen Hang hinauf, der aus bemoostem Fels und vor Urzeiten umgestürzten Baumstämmen bestand; ich kroch ihn empor, ohne zu denken, wie ein Tier, zu durchnäßt und zu verdreckt, um noch an menschliche Würde denken zu können.
Als ich an einer kleinen Höhle vorbeikroch, aus der ein dumpfer Tiergeruch drang, dachte ich an meine Phantasien aus der Kinderzeit über solche Situationen, und ich glaube, daß ich darüber gekichert habe, was zeigte, daß ich trotz allem noch immer ein Mensch war.
Als der Wald sich endlich lichtete, versetzte er mir die letzte Demütigung durch Stacheldraht und eine zerrissene Hose und wurde zur Wiese. Ich blickte umher, keuchend, doch nicht mehr durchkühlt, solange ich in Bewegung blieb, und erkannte, wo ich mich befand. Ich war auf dem großen Campingplatz an der Straße nach Boniton. Das Krankenhaus war nur noch knapp eine halbe Meile entfernt.
Ich ging über das von tiefen Reifenspuren zernarbte Gras und durch das offene Tor. Hier oben, auf dem Bergrücken, war es heller, und die Straßenbeleuchtung wurde eingeschaltet. Die Menschen würden sich umdrehen, wenn sie an einem Freitag-nachmittag um fünf Uhr eine abgerissene, triefend nasse Gestalt durch die hellerleuchteten Straßen Falcombes hinken sahen; und die Menschen würden dem nächsten Polizisten sagen können, in welche Richtung dieser Mann gegangen war. Viele von ihnen würden sich sogar die Mühe machen, einen Polizisten zu suchen, um ihm diese Information geben zu können – Falcombe ist sich
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seines sauberen Stadtbildes sehr bewußt und duldet nicht, daß Gammler die Straßen verunzieren und die Touristen erschrecken, auch nicht außerhalb der Saison. Meine einzige Hoffnung war der Regen, der die Menschen davon abhielt nach draußen zu gehen.
Es gab keine Türnischen, in denen man sich verstecken konnte; die Straße war breit, und die Häuser hatten Vorgärten, die von niedrigen Hecken eingefaßt wurden, also ging ich mit raschen Schritten, und, wie ich hoffte, unauffällig, in Richtung Krankenhaus. Ein braver Bürger, der einen kleinen Unfall gehabt hatte und Behandlung suchte. Nur einige Schnitte und Kratzer, nichts Ernstes.
Ich hatte Glück. Während des ganzen Weges zum Parkplatz des Krankenhauses begegnete ich keiner Menschenseele. Dort trat ich in eine Visiphonzelle, tat so, als ob ich eine Nummer drückte und blickte aufmerksam umher. Mein Wagen stand allein an der Mauer. Die meisten anderen waren beim Vier-Uhr-Exodus fortgefahren worden, so daß er jetzt allein und sehr auffällig dort stand. Es erschien mir unmöglich, daß die Polizei ihn nicht entdeckt haben sollte. Und richtig: Ich sah eine reglose Gestalt im Schutz der Tür zur Ambulanz stehen.
Während ich unentschlossen in der Zelle stand, kam ein Mädchen die Stufen des Haupteingangs herab, blieb stehen, blickte erst zum Himmel empor und dann zu einem kleinen Wagen, der dicht neben der Visiphonzelle geparkt war; zweifellos fragte sie sich, wie stark sie auf dem Weg durchnäßt werden würde. Das Licht fiel auf ihr Gesicht, und ich erkannte Marianne Peters, die mitfühlende Krankenschwester. Der Anblick dieses hübschen und zumindest etwas vertrauten Mädchens, nur wenige Yards entfernt, ließ mich erkennen, wie lausig ich mich fühlte, wie müde und naß ich war, wie sehr ich einen Menschen brauchte, mit dem ich reden konnte. Fast ohne mir dessen bewußt zu werden, verließ ich die Zelle, als sie die Stufen herunterzugehen begann, und wir erreichten den Wagen gleichzeitig.
Sie öffnete die Tür, als sie mich über das Dach des Wagens hinweg auf der anderen Seite stehen sah. Sie sah mich mit
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einem Ausdruck von Erschrecken an, der dem von Verwunde-rung und leichter Besorgnis Platz machte, als sie meinen abgerissenen Zustand bemerkte. Es war dunkel auf dem Parkplatz, und ich glaube nicht, daß sie mich sofort erkannte.
Der Bewacher in der Tür zur Ambulanz hatte aufmerksam den Kopf gehoben, als ich aus der Zelle getreten war, doch jetzt war er wieder beruhigt; anscheinend glaubte er, ich sei der Freund dieser Schwester.
»Was… wollen Sie?«
»Ich bin es, Marianne. John Maine. Darf ich mit Ihnen reden?«
»John Maine…? Ach ja. Entschuldigen Sie, Mr. Maine, ich habe Sie nicht erkannt. Hatten Sie einen Unfall?«
»Können wir uns nicht in Ihren Wagen setzen?«
»Natürlich.« Sie stieg ein, schloß die Tür, und ich hörte das Klicken, als sie die Tür auf meiner Seite entriegelte. Ich stieg ein. Es war fast dunkel in dem Wagen, doch ich konnte ihr Profil erkennen, als sie zu dem Polizisten hinüberblickte, dann wandte sie ihr Gesicht mir zu, und es lag im Schatten. Sie trug ihren kurzen, weißen Rock; ihre O
berschenkel leuchteten hell und verletzbar aus dem Dunkel neben mir. Sie strömte eine seltsame Wärme aus. Vielleicht waren meine unangebrachten Gedanken eine Reaktion auf den Horror mit Dorinda und die Flucht, vielleicht auch nicht. Ich seufzte.
»Marianne, ich habe Ärger«, sagte ich zu ihr. Ich mußte ehrlich sein. »Schweren Ärger. Die Polizei ist hinter mir her. Der Mann drüben in der Türnische ist ein Polizist, der auf mich wartet. Sie suchen mich im Zusammenhang mit dem Mord an Mellors. Ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen, doch wenn Sie wollen, daß ich aussteige und Sie in Ruhe lasse, werde ich es tun.
Schließlich kennen Sie mich kaum.«
»Wie, glauben Sie, könnte ich Ihnen helfen?« Es war kein Angebot, und auch keine Zurückweisung. Es war eine vernünftige Frage.
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»Sie könnten mich zur Forschungsstation fahren. Dort bin ich sicher, und Sie können weiterfahren. Ich kann meinen Wagen nicht benutzen, und ich kann auch nicht zu Fuß zur Station gehen; sie würden mich einfangen, lange, bevor ich sie erreichte.«
»Und wenn sie auch die Station bewachen?«
»Dann fahren Sie vorbei und lassen mich hundert Yards weiter aussteigen. Von dort komme ich schon irgendwie weiter.
Niemand wird wissen, daß Sie mich mitgenommen haben, selbst für den Fall, daß sie mich erwischen sollten.«
Sie blickte mich unverwandt an, doch in dem Dunkel konnte ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Sie schien überhaupt nicht aufgeregt zu sein; sie blickte mich nur an. Das vom Krankenhaus herüberscheinende Licht fiel in mein Gesicht, und ich nehme an, daß ich ziemlich wüst aussah, durchnäßt und dreckig, mit wildem Blick und völlig erschöpft.
»Was machen Ihre Finger?« fragte sie und drückte plötzlich auf den Starterknopf. Die Turbine arbeitete kraftvoll, und wir glitten vom Parkplatz. »Sie haben Glück«, fuhr sie fort, ohne meine Antwort abzuwarten; ich bekam den Eindruck, daß sie etwas verärgert war, aber nicht mehr. »Ich habe heute später Schluß gemacht.«
»Sie werden mich also zur Station fahren?« Schließlich konnte sie mich genau so gut zu Bascus bringen.
»Ja«, sagte sie ruhig, und ich glaubte ihr.
»Wollen Sie etwas über Mellors und mich hören?«
»Eigentlich nicht.«
Sie fuhr ruhig und sicher durch den strömenden Regen, und wenige Minuten später tauchten die Lichter der Station vor uns auf. Die Häuser waren zurückgeblieben und hatten hohen Hecken Platz gemacht, und ich überlegte, was ich tun sollte, falls Stratton sich weigerte, mir zu helfen. Marianne hatte die Heizung eingeschaltet, und die Wärme begann durch meine durchnäßten
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Kleider zu dringen, die mir unangenehm am Körper klebte. Ich wollte nicht aussteigen. Plötzlich hatte ich die verrückte Idee, sie zum Weiterfahren zu zwingen, irgendwohin, nur fort von Falcombe. Ich fragte mich, ob sie sich als Geisel sah.
»Sie gehen ein ziemliches Risiko ein, nicht wahr?« sagte ich.
»Woher wollen Sie wissen, daß Sie mir trauen können?«
»Stellen Sie keine dummen Fragen«, sagte sie mit gepreßter Stimme. Die Anspannung hatte jetzt auch auf sie übergegriffen.
Sie war sich ihrer Lage bewußt gewesen und hatte das Für und Wider gegeneinander abgewogen. Doch jetzt tat es ihr leid, mich in ihren Wagen gelassen zu haben.
Sie ging mit der Geschwindigkeit herunter, als wir an der Umzäunung der Station entlangfuhren.
»Danke«, sagte ich.
»Schon in Ordnung.«
Der Wagen stoppte, senkte sich zu Boden. Der Wächter linste aus seiner Hütte. Ich blickte zu den Fenstern empor; in Strattons Büro brannte Licht. Ich konnte seinen Hinterkopf sehen. Er saß an seinem Schreibtisch und blickte zu etwas auf, das sich außerhalb meines Gesichtsfeldes befand.
Dann trat ein anderer Mann auf ihn zu, hochgewachsen und in einem dunklen Anzug, und er lächelte.
Es war Inspektor Bascus.
Marianne reagierte sofort, als sie den Polizisten erkannte; sie trat sanft auf das Gaspedal, so daß der Wagen sich vom Boden hob und fortglitt, bevor der Wächter Zeit hatte, neugierig zu werden. Ich blickte zurück und sah, daß er sich abgewandt hatte; offensichtlich vermutete er, daß wir nur einen ruhigen, abgelegenen Platz suchten. Ich sagte nichts, und auch sie sprach kein Wort, als wir weiterfuhren und Marianne neben einer Baumgruppe, die uns vor Blicken schützte, erneut hielt.
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Ich blieb ein paar Sekunden sitzen, um genügend Mut zu sammeln, wieder in den kalten Regen hinauszugehen. Es war angenehm warm in dem Wagen, und meine Kleidung begann zu trocknen. Marianne blickte schweigend auf die Straße hinaus.
Die Turbine surrte im Leerlauf. Der Regen trommelte auf das Wagendach.
»Danke«, sagte ich schließlich und griff nach dem Türöffner.
»Was werden Sie jetzt tun?«
»Warten, bis ich Bascus abziehen sehe und dann versuchen, Strattons Aufmerksamkeit zu erregen, ohne daß ein Wächter mich sieht.«
»Ich kenne Stratton nicht gut. Sind Sie sicher, daß Sie ihm trauen können?«
»Ich habe sonst niemanden.«
Sie wandte den Kopf und sah mich an. Im rötlichen Licht der Armaturenbeleuchtung wirkte ihr Gesicht ernst und ruhig.
»Vielleicht könnten Sie mir ein wenig trauen.«
»Ich… ich denke, daß Sie sich da nicht mit hineinziehen lassen sollten.«
»Das hatte ich auch nicht vor. Aber nun stecke ich schon einmal drin, ob ich es will oder nicht. Ich kann Sie nicht einfach hier zurücklassen.« Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
»Wohin fahren wir?«
»Zu meiner Wohnung natürlich.«
Wenig später saß ich in Decken gewickelt in einem warmen Zimmer, trank Scotch und sah einem hübschen Mädchen zu, das das Dinner vorbereitete. Es war fast unglaublich nach der Anspannung und dem Terror der letzten Stunden. Das einzige, was fehlte, war ein offenes Kaminfeuer, aber so etwas gibt es eben nicht in der Wohnung eines unverheirateten Mädchens.
Also sah ich statt dessen Marianne an, und das war auch ein hübscher Anblick. Sie hatte ihre Schwesterntracht abgelegt und trug jetzt einen roten Pullover und eine hellblaue Hose, während
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sie in der Pfanne rührte. Später aßen wir Eier mit Speck und Bohnen, genau das, was ich mir auch selbst koche, genau die Art vertrauter Nahrung, die ich brauchte, um mich wieder auf einen Normalzustand einzupendeln. Wir sprachen nur wenig, doch die Anspannung war abgeklungen, nachdem sie sich entschlossen hatte, mir zu helfen.
Wir stellten das Geschirr in die Spülmaschine und machten frische Drinks. Marianne trank Bier. Ich mag es, wenn Mädchen Bier trinken; es liegt Ehrlichkeit in diesem Anblick.
»Und jetzt«, sagte sie, als wir uns gesetzt hatten, »sollten Sie mir alles erzählen.«
Also erzählte ich ihr alles, von Anfang an: von meiner ersten Begegnung mit Susanna, von Stratton und seinen Theorien, von Pablo und Dick und Mellors und Dorinda, von meinen Besuchen auf parallelen Welten – hier erwähnte ich auch, daß ich ihrer Doppelgängerin begegnet sei, und sie errötete kurz – dann von Mellors’ Tod und den darauffolgenden Ereignissen, die zu meiner Anwesenheit in ihrer Wohnung geführt hatten.
Als ich zu Ende gesprochen hatte, blickte sie mich eine Weile schweigend an. Dann sagte sie: »So wie es aussieht, dreht sich alles um Ihre Fischpistole. Glauben Sie, daß sie für den Mord an Mr. Mellors benutzt wurde?«
»Da bin ich ganz sicher. Ich habe die Nummer kontrolliert. Und jetzt weiß auch Bascus, daß meine Pistole die Mordwaffe war.«
»Was aber nicht unbedingt heißt, daß Sie den Mord auch begangen haben.«
»Alle Beweise sind lediglich Indizien, doch das stört Bascus nicht, seit er herausgefunden hat, daß ich gelogen habe. Alle Indizien deuten in meine Richtung, und er hat keinen anderen wirklich Verdächtigen außer Dorinda. Sie hat Gelegenheit gehabt, meine Pistole an sich zu nehmen, und sie kann mit ihr umgehen. Und sie w
ar im Hotel, als Mellors getötet wurde, auf demselben Stockwerk.«
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Marianne blickte mich nachdenklich an. »Glauben Sie, daß sie es getan hat?«
»Nein. Ich weiß, daß es seltsam klingt, aber ich kann sie einfach nicht als Mörderin sehen, nicht jetzt. Da ist etwas in der Art, wie sie von dieser Geschichte spricht, wie sie sich damals verhielt und auch danach. Sie glaubt, ich hätte es getan.«
»Das könnte Tarnung sein.«
»Ich glaube nicht.« Ich dachte einen Augenblick an mein letztes Treffen mit Dorinda, erinnerte mich an ihren Gesichtsausdruck, an das, was sie gesagt hatte.
»Wer käme dann noch in Frage?« sagte sie.
»Ich weiß es nicht. Was glauben Sie? Denken Sie, daß ich es getan haben könnte?«
Sie lächelte. »Es wäre immerhin möglich. Ich glaube, daß Sie einen Mord begehen könnten. Sie hätten Ihr Gesicht sehen sollen, als Sie mir berichtet haben, wie Mellors Ihre Freunde behandelt hat. Und als ich Sie nachmittags auf dem Parkplatz sah – wirklich, Sie haben wie ein Mörder ausgesehen. Es ist eigenartig. Wir haben Mr. Mellors fast als Gott betrachtet. Jeden Tag, wie es schien, sah man ihn in Newspocket, wenn er gegen irgendeine Ungerechtigkeit wetterte, oder sein Bild erschien in der Ortszeitung, mit einem Bericht über eine wohltätige Stiftung, die er gegründet hatte. Ich hätte nie geglaubt, daß er auch eine andere Seite besaß.«
»Wer also hat ihn Ihrer Ansicht nach getötet?« wiederholte ich meine Frage. »Sie kennen jetzt alle Fakten. Sie wissen genausoviel, wie die Polizei. Wer kann es gewesen sein?«
»Der einzige Mensch, der in Frage kommt, scheint Dr. Stratton zu sein«, sagte sie ruhig.
»Aber der hat ein Alibi.«
»Ich weiß. Nennen Sie es eine Vermutung, nennen Sie es Intuition; schließlich kenne ich ihn kaum. Doch irgend jemand muß es getan haben, also ist irgendein Alibi gefälscht. Dr.
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