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Charisma

Page 28

by Michael G. Coney


  Später, nachdem ich geduscht und Pablos braunes Jackett und seine Flanellhose angezogen hatte, ging ich zur Bar hinab. Die übliche Gruppe war dort versammelt, um die langen Nachmittagsstunden zu vertrinken. Pablo und Dick begrüßten mich überschwenglich, schlugen mir auf die Schultern und bestellten Scotch.

  Dorinda blickte mich geheimnisvoll an. »Sie sind also entlastet, John«, sagte sie. »Das freut mich. Anscheinend sind von allen Beteiligten viele Fehler gemacht worden.«

  »Ich habe selbst einige gemacht«, sagte ich etwas verlegen.

  »Wir alle haben das getan, John«, sagte sie.

  »Der Vertrag ist unterschrieben, John«, sagte Pablo triumphie-rend. »Und wir haben eine Option für weitere sechs Boote.«

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  »Unter der Voraussetzung, daß sich das Unternehmen als rentabel erweist«, sagte Dorinda lächelnd. »Aber ich denke, daß es ein gutes Geschäft wird, wenn John es führt.«

  »Ich wollte ohnehin darüber sprechen«, sagte ich.

  »Später«, sagte Pablo, als Dorinda antworten wollte. »Was ich jetzt wissen will, John: Was, zum Teufel, hast du eigentlich während der vergangenen zwei Wochen oder so getrieben? Du warst oft zwei Tage hintereinander verschwunden. Saufgelage mit einem verrückten Wissenschaftler. Geschichten von hübschen Mädchen und irgendwelche Aufträge auf den Klippen.

  Spektakuläre Rettung vor dem Ertrinken. Festnahme durch die Polizei. Explodierende Boote. Überall um dich herum Tod und Zerstörung. Du hast dein Leben in letzter Zeit wirklich voll ausgelebt, John.«

  Als ich ihn mir gegenübersitzen sah, hatte ich plötzlich dasselbe Gefühl, das mich bereits in Mariannes Wohnung überfallen hatte. Irgendwie übte ich einen aufwühlenden Einfluß auf die See ruhiger Normalität aus. Sie tranken, rauchten und unterhielten sich, und sie würden niemals in triefendnasser Kleidung eine Straße entlangsprinten oder im Regen durch die Wälder kriechen oder in Gefängniskleidung ins Hotel kommen.

  »Und was deinen letzten Exzeß betrifft«, fuhr Pablo fort, »so sollte es beruhigend für dich sein zu erfahren, daß wir die Hausyachten versichert haben, bevor du mit Dynamit zu spielen begannst. Entsetzlich, das mit Stratton, übrigens.« Er runzelte unglücklich und ein wenig betrunken die Stirn.

  »Laß alle Propangasleitungen erneuern, Pablo«, sagte ich ernst.

  »John«, sagte Dorinda, »bevor Sie irgend etwas tun, etwas Voreiliges, meine ich, möchte ich mit Ihnen über das Hotel sprechen. Ich weiß, daß wir unsere Mißverständnisse hatten, doch Sie werden feststellen, daß man mit mir recht gut auskommen kann, denke ich.«

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  Niemand sprach mehr von Mellors’ Tod, bemerkte ich. Es war, als ob der Mord nie geschehen sei. Pablo hatte sogar im Beisein Dorindas ein paar Scherze über den Tod gemacht, und sie hatte nur gelächelt.

  »Ich habe einen Vertrag vorbereitet«, fuhr sie fort. »Vielleicht können Sie ihn heute nachmittag einmal durchsehen. Ich bin sicher, daß er Ihnen zusagen wird. Sie erhalten einen fünfzigpro-zentigen Anteil an dem Chartergeschäft mit den Hausyachten.«

  Ich blickte Pablo an. Ich bin sicher, er wußte, daß ich vorge-habt hatte, ihn um meinen alten Job zu bitten. Er grinste.

  »Überlege es dir, John«, sagte er. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn du hier bist. Ich glaube, dieses Hausyacht-Geschäft könnte sich zu einer großen Sache entwickeln, und mir wäre es lieb, wenn jemand, den ich kenne, sich hier darum kümmert.«

  »Abgemacht«, sagte ich, und Dorinda und ich waren lediglich zwei Menschen, die einander die Hand schüttelten, und die unangenehme Szene in ihrem Schlafzimmer war vergessen. Aber sie hatte meinen Doppelgänger gesehen, als er nach dem Mord aus dem Zimmer ihres Mannes gekommen war, und geglaubt, daß ich es sei. Wahrscheinlich hielt sie mich nach wie vor für den Mörder. Ich fragte mich, wie sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte…

  In diesem Augenblick fand in meinem Gehirn etwas statt, das ich nur als eine Art Klicken bezeichnen konnte, und hoffte, daß es kein kleiner Schlaganfall war. Ich glaube, daß niemand den Schwindelanfall bemerkt hatte, der mich für einige Sekunden packte; ich ließ Dorindas Hand sofort los und lächelte sie an.

  Sie lächelte zurück; ihre Zähne waren weiß und regelmäßig und wahrscheinlich falsch.

  »Wallace wird sich freuen, wenn er zurückkommt«, sagte sie…

  Ich fuhr sehr vorsichtig; einmal, weil ich jetzt die Wirkung der Drinks spürte, zum anderen beunruhigten mich diese

  Schwindelanfälle. Ich hatte zwei weitere gehabt, bevor ich das

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  Hotel verließ; nichts Ernsthaftes, doch eine deutliche Warnung, daß ich das Ende meiner Kraftreserven erreicht hatte. Ein paar Tage außerhalb von Falcombe würden das wieder in Ordnung bringen, entschied ich und fragte mich, ob Delirium Tremens so begann, mit Schwindelanfällen und Halluzinationen. Dorinda konnte nicht gesagt haben, was ich gehört zu haben glaubte, weil Pablo nicht die geringste Spur von Überraschung gezeigt hatte. Ich sagte mir, daß jetzt alles gut werden würde, nachdem alles geregelt war und meine Sorgen vorüber waren – außer Susanna…

  Ich überprüfte meine Gefühle, als ich den Pfad zur Starfish Bay entlangfuhr und hoffte, einen Glauben an das, was ich jetzt tat, zu entdecken. Ich wollte glauben, daß Susanna vielleicht dort sein könnte; daß sie mir entgegenstürzen würde, wenn ich aus dem Wagen stieg, ihre Arme um meinen Hals schlingen und mich küssen und mir erklären würde, daß irgendein Wunder geschehen sei. Ich versuchte, das zu denken, ich versuchte, mir diese Szene vorzustellen, doch es gelang mir nicht. Immer wieder kam ich auf die unbestreitbare Tatsache zurück, daß es lohnender gewesen wäre, diese Zeit im Bett zu verbringen.

  Dann erinnerte ich mich, daß später Marianne kommen würde, und das munterte mich ein wenig auf. Wir könnten eine Weile auf den Klippen spazieren gehen und den Sonnenuntergang beobachten; der Tag war noch immer schön, und der Anblick des Meeres im Zwielicht ist von den Klippen aus besonders reizvoll.

  Als ich den ersten Blick auf die kleine, felsige Bucht werfen konnte, setzte mein Herz plötzlich einen Schlag aus, weil ein blondes Mädchen am Ufer stand; sie hatte Susannas Figur, was bewies, daß das Schicksal noch nicht damit fertig war, seine lausigen Tricks mit mir zu spielen. Ich versuchte, sie zu ignorieren und verlangsamte meine Fahrt, um den Wagen an der gewohnten Stelle in der Nähe der Bäume zu parken. Das Mädchen blickte auf das Wasser und stand mit dem Rücken zu mir. In ein paar Sekunden würde sie das Heulen der Turbine über dem Schlag der Wellen hören, sich umdrehen, und ihr Gesicht würde häßlich sein, häßlich…

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  Ich fuhr langsam weiter, vorbei an den Bäumen und direkt auf das Mädchen zu, das noch immer aufs Meer starrte, weil irgend etwas in ihrer Haltung, in ihrem Aussehen, in meinem unzuverlässigen Gedächtnis eine Saite anrührte.

  Sie wandte sich um.

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  ICH KANN MICH NICHT ERINNERN, aus dem Wagen gestiegen zu sein, doch werde ich niemals den Kuß vergessen, der als verzweifeltes, ungläubiges Tasten begann, als wir uns am Rand der Brandung aneinanderklammerten, und erst eine ganze Zeit später endete, als wir uns voneinander lösten und ich ein Stück zur Seite rollte, um den für eine Konversation notwendigen Mindestabstand herzustellen; zu dem Zeitpunkt lagen wir auf dem kurzen, salzigen Gras direkt am Ufer. Ich blickte in Susannas Gesicht und konnte es noch immer nicht ganz glauben, daß sie da war. Sie lächelte ihr breites, warmes SusannaLächeln.

  »Hallo, Mr. Maine. Wie nett, Sie hier zu treffen.«

  »Sag mal, du wunderbares Geschöpf, was, zum Teufel, tust du hier?«

  Ein wenig Verwirrung zeigte sich in ihrem Gesicht. »Stell keine Fragen, John. Sei glücklich darüber.«

  Also küßten wir uns wieder, während ein ältlicher Professor der Geschichte oder vielleicht der Geologie an unseren aneinander-geklammerten Körpern vorüberschritt und, auf seinen Stock gestützt, d
en gegenüberliegenden Hang hinaufzuschreiten begann.

  Susanna blickte ihm nach, und ihre Augen strahlten mutwillig.

  »Armer, alter Mann. Ich denke, er kann sich nicht einmal mehr vorstellen, wie das ist. Sollen wir es ihm erklären?«

  »Erkläre lieber mir etwas. Wie bist du hierher gekommen?«

  »Ich dachte, du seist derjenige, der hergekommen ist, Darling.

  Wolltest du dich nicht hier mit mir treffen?«

  »Ja, schon, aber… Ich bin nicht, ah, projiziert worden oder wie man das nennt. Ich bin mit dem Wagen gekommen.«

  »Ich auch.« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm.

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  Ein Wagen stand ein kurzes Stück entfernt auf dem Gras. Als ich ankam, war er für mich durch den umgestürzten Baumstamm verdeckt gewesen. Ich starrte ihn an. »In wessen Welt sind wir, Susanna?« dachte ich laut. »Um Gottes willen, wo sind wir?«

  »Ihr Männer seid zu logisch. Mußt du alles wissen? Ich sage dir eines: Der alte Mann, der gerade vorbeigekommen ist, gehört zu meiner Welt. Ich habe ihn lange vor deiner Ankunft den Klippenrand entlanggehen sehen.« Sie stieß mich leicht vor die Brust. »Aber ich weiß, was los ist, du alter Streunet. Du bist schon früher gekommen, konntest das Warten nicht ertragen und bist auf einen Drink in die Stadt gegangen. Ich rieche doch deine Whisky-Fahne. Beim Pub hast du dir einen Wagen gemietet und bist zurückgekommen, um mich zu überraschen.«

  »Susanna, ich habe meine Welt nicht verlassen.«

  Plötzlich wußte sie, daß ich die Wahrheit sagte, und nach einem kurzen, prüfenden Blick wurde ihr Gesicht ernst. »Dann ist es also geschehen«, sagte sie langsam. »Bill Stratton meinte, daß es geschehen könnte. Er hat mir erklärt, daß die Matrizen konvergieren, daß irgend etwas geschehen würde. Nun…« – ein feines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht – »es ist geschehen, und wir sind direkt im Mittelpunkt davon. Hier und jetzt. Wir machen Geschichte, Darling.«

  »Stratton hat auch mir etwas davon gesagt. Was bedeutet das?«

  Sie ergriff meine Hand und zog mit dem Finger Linien in die Handfläche, während sie sprach. Für einen Laien wie mich, der mit dem Fachjargon der Forschungsstation nicht vertraut war, besagten ihre Erklärungen nicht viel – doch Susanna glaubte, was sie mir sagte. »Es ist wahrscheinlich schon früher geschehen, unzählige Male«, sagte sie. »Vielleicht geschieht es in bestimmten Zyklen; ein regelmäßig durchgeführtes Verknüpfen loser Enden. Stelle dir eine unendlich große Zahl paralleler Welten vor – obwohl wir wissen, daß selbst die Bezeichnung

  ›parallel‹ falsch und irreführend ist. Dann stelle dir vor, daß sie

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  konvergieren, daß sie alle durch denselben Punkt von Raum und Zeit führen, bevor sie wieder ihre eigenen Wege gehen.«

  Ich versuchte, ein Bild davon zu formen und es festzuhalten.

  Eine Sekunde lang glaubte ich, es vor mir zu sehen. Ich sah eine unendliche Zahl dreidimensional verlaufender, paralleler Linien, unendlich lang. Dann bogen sie alle langsam aufeinander zu, und die Raum-Zeit wurde zu einer gigantischen Kugel, doch noch immer unendlich – und die parallelen Linien wurden zu einer unendlichen Zahl von Diameter dieser Kugel.

  Im Zentrum der Kugel überschnitten sie sich alle. Und dieser Punkt befand sich hier, wo Susanna und ich uns befanden. Und jetzt.

  Schon in diesem Augenblick mochten die Linien bereits wieder divergieren. Aber wir hatten uns an dem Punkt getroffen, wo die Welten einander trafen, was bedeutete, daß wir wirklich zusammen waren.

  Ich sagte Susanna, was ich dachte.

  »So etwa hat es auch Bill Stratton beschrieben«, sagte sie.

  »Und jetzt haben sich alle unsere Doppelgänger in uns beiden verdichtet: nur du und ich sind noch da. Es gibt keinen anderen John mehr und keine andere Susanna.« Sie blickte mich verwundert an. »Es gibt keine Welten mehr zwischen uns. Wir mußten uns hier treffen.«

  Wir dachten eine Weile darüber nach, dann fuhr sie fort:

  »Natürlich ist das alles jetzt rein akademisch. Unsere Forschungen haben lediglich nachweisen können, daß es parallele Welten gibt – doch diese Erkenntnis besitzt keinerlei praktischen Wert.

  Die Hoffnung, daß es uns vielleicht möglich sein würde, in die Zukunft zu blicken, hat sich wegen dieses Konvergierens nicht erfüllt. Vor einem Monat mag Welt 25 vielleicht zehn Tage in der Zukunft gelegen haben, doch jetzt stehen wir genau da, wo wir begonnen haben, mit nur einer Welt.«

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  »Und was geschieht jetzt?« fragte ich. »Wenn wir nach Falcombe zurückgehen, in wessen Welt sind wir dann, in deiner oder in der meinen?«

  Sie grinste. »Weder, noch. Es ist ein Querschnitt aller Welten.

  Eins jedoch ist sicher, jeder Mensch ist fest davon überzeugt, daß alles völlig normal ist; also posaune nicht überall herum, daß du von allem möglichen überrascht bist. Wir werden feststellen, daß jeder Mensch eine völlig logische Erklärung für alles hat, was während der letzten Tage geschehen ist – und, was noch erstaunlicher ist, wir werden feststellen, daß alle ihre Berichte untereinander zusammenpassen.

  Wir leben zu diesem Zeitpunkt in einer einzigen Welt. Es gibt nur einen Raum, eine Zeit, ein einziges Exemplar jedes Menschen. Doch von diesem Zeitpunkt an werden die Ereignisse wieder divergieren.«

  »Du wirst Stratton kündigen, nicht wahr?« fragte ich tastend.

  Ich wußte so wenig von ihr. Sie mochte eine Karrierefrau sein.

  »Natürlich. Das Projekt ist ohnehin abgeschlossen, so weit ich das beurteilen kann.« Sie drückte meine Hand und zog mich auf die Füße. »Komm, wir wollen ein Stück gehen, bevor es zu dunkel wird. Da kommt jemand, verdammt. Erzähle mir, wodurch du in diese Sache hineingezogen worden bist.«

  Ein Hover-Car stoppte bei den Bäumen, ein dunkelhaariges Mädchen stieg aus und stand unsicher neben der offenen Tür.

  Ich gab ihr kein Zeichen; sie war zu weit entfernt, als daß ich ihren Gesichtsausdruck hätte erkennen können. Ich fühlte mich plötzlich sehr unruhig. Sie schien in unsere Richtung zu gehen, als wir langsam den Pfad zu den Klippen hinaufstiegen. »Aus rein eigensüchtigen Motiven«, sagte ich. Ich begann mich wieder als Bastard zu fühlen. »Ich wollte dich suchen, und ich wollte herausfinden, wie ich sterben würde. Und später wollte ich auch feststellen, wer Mellors getötet hatte.«

  Ihre Hand hing schlaff in der meinen. »Wer war es?«

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  Wieder ein Klicken in meinem Gehirn! Sekundenlang ver-schwamm alles vor meinen Augen, dann wurde das Bild wieder klar. Wir hatten die Hälfte des Weges zu den Klippen hinter uns.

  Ich wandte mich um und blickte zur Bucht hinab. Marianne war wieder in ihren Wagen gestiegen. Wenn sie fortgefahren war, würde alles in Ordnung sein, fühlte ich. Schuld ist ein perverser Hunger, der nur von Vorwürfen lebt. Von jetzt an bis zum Ende meiner Tage würde ich nun mit Susanna leben können. Ich hoffte, daß ich auch mit mir würde leben können.

  »Lassen wir das«, sagte ich. Der Wagen fuhr den gegenüberliegenden Hang hinauf. »Überlegen wir uns lieber, was wir jetzt tun können.« Ich zwang Fröhlichkeit in meine Stimme. »Wir befinden uns hier im Zentrum des Geschehens. Wir machen Geschichte. Etwas wie dieses werden wir nie wieder erleben.

  Durch alles, was wir jetzt tun, können wir vielleicht alle Welten für alle Zeit beeinflussen.«

  »Was wollen wir anstellen?« rief Susanna mit einem fröhlichen Hüpfer. »An die Vereinten Nationen schreiben und Ägypten verdammen?«

  »Die Atombombe noch einmal verdammen?«

  »Das Rhinozeros vor der Ausrottung bewahren?«

  »Vor der chinesischen Botschaft demonstrieren?«

  »Und Blumen ins Haar stecken?«

  »Eine Öllache auf dem Meer beseitigen?«

  »Für Arthur W. Shrike stimmen?«

  »Es läßt mich sehr bescheiden werden, Susanna«, sagte ich ernst, »wenn ich erkenne, wie wenig ich als Individuum die Geschichte beeinflussen kann –
selbst, wenn ich die Gelegenheit dazu habe.«

  »Wir sind eben zu gut, zu anständig«, jammerte sie. »Mein Gott, wir würden Jahre brauchen, um einen Eindruck in der Geschichte zu hinterlassen. Es ist eine Schande, daß zwei so gute Menschen ihre Köpfe an der gleichgültigen Wand des

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  Schicksals einrennen müssen. Wenn wir nur Bastarde wären.

  Dann könnten wir auf irgendeinen Knopf drücken oder einen Premierminister ermorden. Dazu braucht man nur eine Minute.«

  Wir standen dort, zwei Weltenerschütterer am Rand der Klippen oberhalb von Falcombe und schüttelten metaphorisch impotente Fäuste vor der gedankenlosen, gleichgültigen Menschheit. »Das ist mehr als genug, um jeden Menschen zum Trinken zu treiben«, bemerkte ich.

  »Das finde ich auch.«

  »Zufällig habe ich, wie ich mich erinnere, eine Flasche im Wagen.«

  Wir gingen den Pfad wieder hinab und stiegen in meinen Wagen. Es spricht für die therapeutische Wirkung von Scotch, daß meine vorübergehende Einfallslosigkeit schon in weniger als einer halben Stunde verschwand.

  »Ich habe eine Idee«, sagte ich und küßte sie auf die Wange, so daß ein kleines Scotch-Rinnsal aus ihrem Glas über ihr Kinn tropfte. »Es gibt nur eins, was wir tun können«, sagte ich. »Es hat alles, was wir brauchen. Ich werde unsere unauslöschbare Spur ins Buch der Geschichte ätzen, und gleichzeitig ein Symbol für die Überlegenheit des Individuums über alle solchen Trivialitäten wie Krieg und Umweltverschmutzung und den Austausch scharfer Noten zwischen den Mächten setzen.

  Entschuldige mich.«

  Leicht schwankend half ich ihr aus dem Wagen und ging zu dem umgestürzten Baum, griff in meine Hosentasche und zog ein Messer heraus. Ich arbeitete eine Weile, und als ich fertig war, mußte ich mich auf das kalte Gras setzen, weil ich von einem Lachkrampf geschüttelt wurde. Schließlich ging ich zu Susanna zurück, die schwankend neben den Trümmern der Einsiedlerhütte stand und ernst auf das Meer hinausstarrte.

 

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