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Charisma

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by Michael G. Coney


  »Was hast du?« fragte ich sie.

  Sie lachte leise auf. »Ich bin eine Statue. Ich bin das Denkmal für ein wichtiges Ereignis, das unweit dieser Stelle stattgefunden

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  hat, und das, wie ich annehme, sehr bald wieder stattfinden wird. Wie findest du mich im Vergleich zu dem Original, John?«

  »Aber deine Statue hat keinen Ewigkeitswert«, wandte ich ein.

  »Montiere dich ab und sieh dir an, was ich inzwischen getan habe.« Ich zog sie zu dem Baumstamm und deutete auf mein Machwerk. »Sieh dir das an. Bereits in diesem Augenblick divergiert diese Schnitzerei von dieser geheiligten Stelle aus zu einer unendlichen Zahl von Welten. Schon jetzt sind wir berühmt. Wir hätten vor Botschaften demonstrieren oder eine ganze Herde Rhinozerosse retten können – doch dies allein ist wichtig. Dies ist, was ich jeder Welt wissen lassen will. Dies ist die einzige und die einzig reale Leistung der Forschungsstation.«

  Von meinen Worten beeindruckt beugte Susanna sich vor und richtete den Blick ihrer blauen Augen auf die Einkerbungen in dem umgestürzten Baumstamm.

  »Du hast die Formel verraten, du hinterhältiger Schuft«, rief sie. »Aber das macht nichts. Wir wollen sie wieder ausprobie-ren.«

  Und das taten wir dann auch, zum letzten Mal.

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  ALS DIE JUNI-SONNE auf meinen ungeschützten Kopf brannte, wünschte ich, daß ich einen Hut mitgebracht hätte, wie Mellors ihn trug, der massig und mit gespreizten Beinen auf dem Deck stand; in einem Sporthemd und mit einem Stetson-Hut auf dem Kopf sah er wie ein Ölmillionär aus. Schweißperlen glänzten auf seinem feisten Nacken.

  »Das hier ist es, was ich einen hübschen Anblick nenne, nicht wahr, John?«

  Es war nicht klar, ob er damit das Meer meinte, das hellblau und golden schimmernd von der Brise zu weißgekrönten Wellen zerteilt wurde, oder das Land, wo ein dröhnender Bulldozer sich in den grünen Hang der Starfish Bay fraß. Ich zweifelte noch immer, als er mir klarmachte, was er meinte.

  »Ich kann mir keinen besseren Platz für einen Yachthafen vorstellen. Ich werde nie begreifen, warum nicht vorher schon jemand hier gebaut hat.« Er grinste mich an und demonstrierte seinen grobgestrickten Charme. »Lassen Sie sich das eine Lehre sein, John. Wenn eine Sache es wert ist, kämpfen Sie darum.

  Und um diese Bucht habe ich weiß Gott verdammt hart kämpfen müssen.« Links von mir bezeichnete eine keilförmige Wunde im Hang den Platz für den Gebäudekomplex. Weiter inlandig wurde eine rohe Sandstraße begradigt, Hecken und Bäume beseitigt, um Platz zu schaffen. Die zerklüfteten Uferfelsen der Bucht wurden zu kantigen Beton-Piers ausgegossen.

  Dies war die Beute von Mellors’ Sieg. Wie er gesagt hatte, war es ein langer, harter Kampf gewesen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Selbst in unserer Zeit ist es nicht leicht, Land der öffentlichen Hand zu übernehmen, doch Mellors besaß Einfluß, Geld und Ausdauer. Ich fragte mich, ob er sich daran erinnerte, damals die Forschungsstation verdammt zu haben, weil sie dieses Land für ihr Projekt verwendet hatte. Dann fragte ich mich, ob der Mellors, der neben mir stand, diese Verdammung jemals geäußert hatte…

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  Die Station war jetzt nur noch eine Erinnerung; Stratton und sein Team waren abgereist, und das häßliche Gebäude mitsamt dem Land, auf dem es stand, war von Mellors der Stadt Falcombe zum Geschenk gemacht und in ein Altersheim umgewandelt worden. Diese Geste war ein Geniestreich Mellors’

  gewesen, der sehr dazu beigetragen hatte, sein Projekt an der Starfish Bay durchzusetzen.

  Ich deutete. »Sie haben schon Kunden, die darauf warten, daß der Betrieb hier losgeht.« Eine unserer Hausyachten lag in der Einfahrt zur Bucht; vier Menschen standen an der Reling und verfolgten die Bauarbeiten.

  »Wir haben Kunden, mein Junge«, korrigierte Mellors mich jovial. »Ich werde Ihnen einen Anteil an dem Unternehmen geben. Es läuft alles bestens, und ich bin ehrlich genug, um einzugestehen, daß es zum großen Teil Ihr Verdienst ist. Der Ihre und der Ihrer schönen Frau.« Er lächelte oder grinste lüstern und ich versuchte mich zu erinnern, ob ich diesem Mann schon immer vage mißtraut hatte.

  Meine Erinnerung hat mir in letzter Zeit seltsame Streiche gespielt. Manchmal muß ich mir ins Gedächtnis rufen, daß ich nicht mehr derselbe Mensch bin, der ich früher war, daß sich in meinem zusammengesetzten Bewußtsein Eindrücke eines weit entfernten Doppelgängers befinden mochten, der zum Zeitpunkt der Koinzidenz nicht gestorben und dessen Sein deshalb mit dem meinen verbunden war. Aus diesem Grund werde ich immer wieder von déja-vu -Impressionen überrascht und erinnere mich an Orte, die ich nie zuvor gesehen hatte, erlebe Geschehnisse, von denen ich glaubte, daß sie bereits geschehen waren…

  Manchmal frage ich mich, ob die anderen Einwohner von Falcombe dieselben seltsamen Empfindungen haben, wenn sie scheinbar ruhig ihrer alltäglichen Beschäftigung nachgehen.

  Häufig begegne ich Inspektor Bascus; erst in der vergangenen Woche kam er ins Hotel, um Eintrittskarten für den Polizei-Ball zu verkaufen. Ich kaufte zwei Tickets, und er bedankte sich höflich und sagte, er hoffe, mich öfter zu sehen – anscheinend waren wir uns nie zuvor begegnet. Und der Junge Tim – was

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  denkt er, wenn er von dem Pier aus angelt und mich vorbeigehen sieht? Ich sehe kein Wiedererkennen, keine Dankbarkeit in seinen Augen; und wie kann ich ihn an etwas erinnern, das vielleicht nie geschehen ist? Carter, der Portier, ist fort; hat er je existiert? Im vergangenen Monat habe ich die Gehaltslisten durchgesehen, und es scheint, als ob unser Portier, Robbins, seit über einem Jahr bei uns ist…

  Bevor Stratton abreiste, habe ich mit ihm über all diese Dinge gesprochen; es fällt mir manchmal schwer mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß Stratton nach wie vor lebt.

  Nachdem er sich von seinem Schock erholt hatte, daß ich von dem Projekt der Station wußte – er versicherte mir, mich nie zuvor gesehen zu haben –, erklärte er mir ohne jede Spur von Sarkasmus, daß die verbreitete Konzeption von divergierenden, alternativen Welten nicht die ganze Geschichte sei. Seiner Ansicht nach sei es möglich, daß sie sogar periodisch konvergier-ten. Er könne das allerdings nicht belegen – wie denn auch? Es sei völlig unmöglich, daß ein Mensch eine der parallelen Welten besuche… Weil es die Paradoxe gibt, verstehen Sie.

  Meine Frau stand neben dem umgestürzten Baumstamm und sah den Arbeitern zu, die Ketten um ihn legten. Sie wandte sich mir zu, und ich fühlte ein leichtes Beben in meiner Brust, als sie lächelte, dieses Beben, das mir versicherte, daß sie sehr schön war und ich sie sehr begehrenswert fand – in letzter Zeit vielleicht noch mehr, da die geschwollenen Brüste unter ihrem leichten Kleid mich an das Kind erinnerten, das sie trug. Ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit stieg in mir auf; ohne ihre Liebe hätte ich den vergangenen Winter nicht überstanden.

  »Komm, sieh dir das an«, sagte sie.

  Ich trat dicht neben sie, und sie deutete auf die rauhe Borke des Baumstamms. Es war etwas in das Holz hineingeschnitzt: ein ungeschickt ausgeführtes Herz, das von einem Pfeil durchbohrt wurde. Darunter zwei Initialen, auch roh eingeschnit-ten, doch gut lesbar: JM… SL.

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  Im Gegensatz zu den anderen Erinnerungen verblaßte diese nicht, sondern wartete ständig auf einen noch so kleinen Luftzug der Erinnerung, um wie eine Äolsharfe aufzuklingen. Ich hätte vom ersten Augenblick an wissen müssen, daß sie nicht wirklich war; nichts so Perfektes kann wirklich sein. Sie war ein Charisma, eine rasche Vision von Leben und Schönheit und Liebe, die durch mein Leben geflogen und dann vergangen war –

  gegen Ende des vergangenen Jahres, ein Schmetterling im Herbst… Oh, ich hatte mir eingebildet, sie zu besitzen –

  mehrmals hatte ich sie in meinen Händen gehalten und törichterweise geglaubt, daß halten besitzen bedeutet und dieses Besitzen ewig gilt.

  Sie war das Kind eines Experiments. Als das Experiment vorbei war, war auch sie
vorbei; und jetzt fiel es mir schwer zu glauben, daß sie jemals existiert hatte. An jenem letzten Novembertag, als ich endlich in das veränderte Falcombe zurückkehrte, war sie nicht bei mir. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist; wenn ich es gewußt hätte, wäre ich auch dorthin gegangen. Irgendwo, irgendwo war das geschehen, was wir nicht vorausgesehen hatten – und in der Koinzidenz der Welten war kein Platz für sie.

  Natürlich habe ich überall nach ihr gefragt während dieser schrecklichen Wochen, als alles fremd war, als Tote durch die Straßen gingen, und ich allein war in einer Welt, die nur ich verstehen konnte. Ich fragte umher, doch niemand kannte sie, niemand hatte sie jemals gekannt. Sie nannten es einen Nervenzusammenbruch und verordneten ein paar Wochen Ruhe

  – aber man muß es eben aus ihrer Sicht sehen. Sie hatten ihr eintöniges Leben gelebt, wie immer, und in ihrer durchschnittli-chen Erinnerung hatte ich das auch getan, bis ich eines Nachmittags von den Klippen in die Stadt gekommen war, etwas von Mord und parallelen Welten schrie, und von einem wunderschönen Mädchen namens Susanna…

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  »He, das sind deine Initialen, du Betrüger!« rief Marianne lachend und blickte mich mit ihren warmen, braunen Augen ein wenig fragend an.

  »Ein Zufall, Darling«, murmelte ich, als wir zurücktraten und die Ketten sich strafften und den riesigen Stamm auf den wartenden Lastwagen zogen.

  Sie lachte wieder, beruhigt, und ich küßte sie auf die Wange, als wir fortgingen. Ich fühlte mich glücklich, weil es in ihrer Erinnerung keine Susanna gab. Sie erinnerte sich nicht, einmal gesagt zu haben, Susanna sei der Geist einer Möglichkeit – und ich wollte nicht, daß ein Geist in ihr spukte.

  Ende

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