Book Read Free

Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

Page 5

by Bianca Iosivoni


  Grace hob das Kinn. »Ich will vorsingen.« Ihre Stimme klang etwas krächzend, aber statt sich zu räuspern, drehte sie sich etwas zur Seite und hustete ein, zwei Mal.

  Interessiert zog ich die Brauen hoch. Sie wusste offenbar sehr genau, wie schädlich Räuspern für die Stimmbänder war. Alles andere hätte mich überrascht, denn auch wenn ich Grace bisher nur selten singen gehört hatte, wusste ich spätestens seit ihrem Auftritt als Titania in unserer ersten Theateraufführung, dass sie ein Profi war.

  »Okay …« Ich machte eine ausladende Geste, die die Jungs und unsere Instrumente mit einschloss. »Dann los.«

  »Mit oder ohne musikalische Begleitung?«, fragte Pax und drehte seine Trommelstöcke zwischen den Fingern.

  »Mit.« Grace ließ ihren Blick über die Bühne wandern. »Das Keyboard.«

  »Aye, aye!« Jesse salutierte spielerisch und nahm seinen Platz vor den Tasten ein. »Du kannst singen, was immer du willst.«

  »Ja«, bestätigte Kane und ließ sich schwer in einen der Sitze fallen. »Aber tu uns allen einen Gefallen und such dir etwas aus, das nicht gerade in den Top Ten ist und eh schon ständig im Radio rauf und runter läuft.«

  Statt einer Antwort hob Grace lediglich eine Braue. Dann ging sie zu Jesse hinüber und flüsterte ihm etwas zu. Ich warf Emery einen fragenden Blick zu, aber die zog nur die Schultern hoch, bevor sie sich ebenfalls setzte. Ich folgte ihrem Beispiel und lehnte mich zurück. Aber so lässig, wie ich mich gab, war ich nicht wirklich.

  Lag es daran, dass ich bereits wusste, dass Grace eine außergewöhnliche Stimme hatte? Oder war es die Vorstellung, dass sie ein Teil dieser Band sein könnte? Aber warum sollte sie das wollen? Der Auftritt in diesem Club war eine Ewigkeit her und in all dieser Zeit hatte sie nie irgendwelche Andeutungen gemacht, dass sie gerne Hazels Platz einnehmen würde. Zugegeben, bis auf die Ausflüge und Unternehmungen mit unseren gemeinsamen Freunden hatten wir auch nie viel miteinander zu tun gehabt. Abgesehen von diesem einen Abend, als der Strom ausgefallen war und irgendjemand auf die wahnwitzige Idee gekommen war, Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Da war ich Grace sehr viel näher gekommen, als ich jemals vorgehabt hatte …

  Ich schluckte hart und schob die Erinnerung daran schneller beiseite, als sie sich in meinem Kopf manifestieren konnte. Aber gegen die plötzliche Hitze in meinem Bauch kam ich nicht an. Ich mied Grace nicht, bloß weil ich wusste, dass sie mich nicht leiden konnte, aber ich suchte auch nicht gerade ihre Nähe. Kuss hin oder her. Und bis heute war ich davon ausgegangen, dass es ihr ähnlich ging. Aber dann überredete sie mich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu einem Bootcamp und sang plötzlich für meine Band vor …? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das für einen von Emerys Streichen halten. Aber die trafen in der Regel immer nur Dylan. Sofern keiner den beiden unfreiwillig in die Quere kam und ebenfalls etwas abkriegte. Trevor hatte wohl noch immer ein Trauma seit der Sache im letzten Frühjahr. Zumindest öffnete er Türen mit sehr viel mehr Vorsicht als zuvor.

  Die ersten Töne des Keyboards holten mich ins Hier und Jetzt zurück. Grace begann mit der Nummer, bevor ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, welches Lied sie da überhaupt sang. Und selbst mit den ersten Worten wurde es mir nicht sofort klar. Erst als sie zum Refrain kam und ihre tiefe, warme Stimme den Raum füllte, erkannte ich es. Scars von Papa Roach in einer langsamen und so gefühlvollen Version, dass sich die Haare auf meinen Armen aufstellten.

  Dann trafen sich unsere Blicke, und als hätte sie diesen Anker gebraucht, hielt Grace sich daran fest. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte nicht wegschauen können. Dafür war ihre Stimme zu einnehmend, und ihre Augen leuchteten viel zu intensiv. Alles an Grace wirkte so … lebendig. Und gleichzeitig unendlich traurig. Sie leierte die Lyrics nicht einfach herunter, sie fühlte den Song, mit jeder Silbe ein bisschen mehr. Und während sie von Narben sang, die uns daran erinnerten, dass die Vergangenheit real war, erwischte ich mich unweigerlich bei der Frage, warum sie es so verdammt gut nachempfinden konnte. Und wer ihr so wehgetan hatte, dass sie ausgerechnet dieses Lied fürs Vorsingen gewählt hatte …

  Als sie fertig war und die letzten Töne verklangen, senkte sich Stille über den gesamten Raum. Keiner sagte ein Wort, und ich konnte meinen Blick noch immer nicht von Grace losreißen, die auf der Bühne völlig verloren wirkte. Ganz anders als die junge Frau, die mich um vier Uhr morgens geweckt und dazu überredet hatte, sie zu trainieren.

  Erst als ich einen Ellbogen in meinen Rippen spürte und Emerys auffordernde Geste Richtung Bühne bemerkte, war ich zu einer Reaktion fähig. Oder zu so etwas Ähnlichem. Ich räusperte mich. Scheiß auf die gesunden Stimmbänder, ich war schließlich nicht der Leadsänger. Den hatten wir nämlich soeben gefunden.

  »Und?« Emery sah ungeduldig in die Runde, während Grace langsam von der Bühne stieg. Bei jedem Schritt schwang der weite Rock um ihre Beine.

  Die Jungs und ich wechselten ein paar Blicke. Ich registrierte das angedeutete Nicken von Kane, Jesses Grinsen und die Art, wie Pax den Kopf schief legte, und zog die Mundwinkel hoch. Dann wandte ich mich an Grace. »Wann kannst du anfangen?«

  Ich hatte nicht mit Jubelschreien gerechnet oder damit, dass sie uns allen um den Hals fallen würde, aber dass sie schlagartig blass wurde und mich anstarrte, als wäre hinter mir der Geist von Solomon Burke aufgetaucht, hatte ich definitiv nicht erwartet. Ich blickte mich kurz um. Nope. Sie starrte tatsächlich mich an. Hatte ich irgendetwas Falsches gesagt?

  »Ich wusste es!« Emery sprang auf und umarmte ihre beste Freundin stürmisch. »Ich wusste, dass du es draufhast und dein Rumgejammere vorhin totaler Quatsch war.«

  Irritiert schaute ich von einem zum anderen.

  »Du bist in der Band«, spezifizierte ich meine Aussage von eben, nur für den Fall, dass Grace mich nicht richtig verstanden hatte.

  »Das … wow.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Eine Hand lag auf ihrem Magen. Vor Nervosität? Übelkeit? Denn Freude sah eindeutig anders aus. »Danke. Aber das habe ich nicht getan, um in die Band zu kommen.«

  »Hast du nicht?«, wiederholte Jesse, und sogar Pax hielt im Herumspielen mit den Drumsticks inne und sah Grace fragend an.

  »Ich wollte mir nur etwas beweisen.« Zum ersten Mal trat ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Danke für diese Möglichkeit und entschuldigt, dass ich eure Zeit beansprucht habe.«

  Ich starrte ihr nach, als sie den Proberaum verließ … gefolgt von Emery, die sich im Gehen noch einmal zu uns umdrehte und etwas ratlos die Schultern hob. Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus.

  »Was … war das gerade?«, fragte Pax verwundert.

  »Ich würde sagen, wir haben unsere Leadsängerin gefunden und gleich wieder verloren«, murmelte Jesse und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

  »Haben wir das?« Kane warf mir einen auffordernden Blick zu.

  »Oh nein, vergesst es. Ich werde ihr jetzt bestimmt nicht nachlaufen und rausfinden, was zur Hölle das gerade war.«

  Wobei ich im Grunde genau das tun wollte. Was sollte dieser Auftritt bitte? Emery würde ich es zutrauen, sich nur einen harmlosen Spaß zu erlauben – aber Grace? Von Humor war das Mädchen bisher so weit entfernt gewesen wie von ihrer Heimat in Montana.

  Tatsache war jedoch, dass wir sie brauchten. Ihr mochte es vielleicht egal sein, ob sie in einer Band sang oder nicht, aber wir brauchten eine starke Sängerin. Vor allem, da ich uns – ohne dass die anderen davon wussten – bei einem Bandwettbewerb angemeldet hatte, der in zwei Monaten stattfinden würde. Ein Kumpel hatte mir davon erzählt, und wenn wir dort gewinnen würden – Shit, wenn wir es auch nur bis in die Endauswahl schaffen würden –, könnte das alles für uns verändern. Ja, vielleicht war ich zu optimistisch gewesen, dass wir bis zum Vorentscheid eine neue Leadstimme haben würden, aber eine Chance wie diese würden wir so schnell nicht wieder kriegen. Und wenn man es genau nahm, hatten wir ja eine neue Sängerin gefunden. Grace war bisher die Einzige, die uns alle überzeugt hatte, trotz ihrer anfänglichen Nervosität auf der Bühne. Und jetzt sollten wir diese
Chance sofort wieder verlieren? Oh nein. So leicht gab ich mich nicht geschlagen.

  »Schon gut.« Ich seufzte übertrieben und rückte mein Cap zurecht. »Ich rede morgen mal mit ihr. Aber wenn sie mir die Augen auskratzt oder an die Gurgel springt, braucht ihr auch einen neuen Gitarristen und eine neue Zweitstimme.«

  Kanes Mundwinkel zuckten. »Kein Ding, Mann. Das wird auf jeden Fall leichter, als eine neue Sängerin zu finden.«

  »Wichser.«

  Ich packte meine Sachen und machte mich auf den Weg zurück ins Wohnheim. Natürlich hätte ich die dramatische Variante wählen und Grace direkt hinterherlaufen können, aber wenn ich eins mit absoluter Sicherheit wusste, dann, dass ich es nicht unvorbereitet mit Grace Watkins aufnehmen durfte. Sie hatte mich schon mal eiskalt erwischt, aber jetzt stand viel mehr auf dem Spiel: Abgesehen vom Preisgeld, das einen beachtlichen Teil unserer aller Studiengebühren decken würde, und dem Ruhm, als Gewinner aus dem Contest hervorzugehen, ging es auch noch um unsere Zukunft und eine mögliche Karriere im Showbiz.

  Und nach all den Leuten, denen ich beim Vorsingen schon zugehört hatte, wusste ich, dass wir das nur mit Grace in der Band erreichen würden.

  Kapitel 4

  Grace

  Ein gedämpftes Klingeln ließ mich zusammenzucken. Es war Donnerstagnachmittag, und ich stand in dem Chaos, das mein Zimmer war. Normalerweise war ich perfekt organisiert. Auf den wenigen Quadratmetern, die mir zur Verfügung standen, hatte alles seinen festgelegten Platz, und in meinem Kalender standen sowohl meine Kurse als auch jeder andere, noch so kleine Termin und alle anstehenden To-dos. Unglücklicherweise war eines davon Wäschewaschen. Die eine Pflichtaufgabe, die ich immer so weit wie möglich nach hinten schob und am letztmöglichen Tag in den Kalender eintrug, weil ich wusste, dass ich sie dann auch wirklich erledigen würde. Ganz egal, wie sehr ich es hasste.

  Aber jetzt hing ich meinem Zeitplan über eine halbe Stunde hinterher, weil ich nicht unten in den Waschräumen des Wohnheims war, sondern noch in meinem Zimmer, und nach diesem einen ganz bestimmten Kleid suchte, das ich bei meinem Date mit Daniel morgen anziehen wollte. Es war ärmellos, mit einem blütenbestickten Oberteil und einem schlichten Rock, der in einer A-Linie bis über meine Knie fiel. Dazu die schwarzen Riemchensandaletten und …

  Schon wieder dieses Klingeln.

  Ich stürzte zum Bett, schob die aus dem Schrank gerissenen Klamotten beiseite und hielt plötzlich einen weißen, leicht vergilbten Umschlag in der Hand. Für einen Augenblick blieb mir das Herz stehen, dann warf ich ihn ganz schnell in den Schrank. Als ich dachte, dass es schon längst zu spät wäre, um den Anruf noch entgegenzunehmen, fand ich mein Handy schließlich unter einem Stapel heller Blusen. Auf dem Display leuchtete der Name meiner Schwester. Hatten wir für heute ein Telefonat vereinbart? Ich konnte mich nicht daran erinnern, aber dafür hatte ich ja auch meinen Kalender, der … irgendwo war. Wie schafften es andere, weniger ordentliche Menschen, überhaupt jemals etwas zu finden?

  »Hallo, Gillian«, begrüßte ich sie und ließ meinen Blick zum gefühlt hundertsten Mal durch mein schmales Zimmer wandern. Irgendwo musste dieses Kleid doch sein …

  »Hey«, erwiderte sie lang gezogen. Ein skeptischer Tonfall trat in ihre Stimme. »Ist es gerade schlecht?«

  »Nein, alles gut«, erwiderte ich abgelenkt. »Sag mal, Gilly, erinnerst du dich noch an mein schwarzes Kleid? Das mit der Stickerei oben? Ich hatte es an, als wir zusammen in diesem tollen Lokal essen waren.«

  Sie lachte leise. »Du meinst das Lokal, in dem du dich durch die halbe Karte gefuttert hast, weil Mom dich zu Hause auf Smoothie-Diät gesetzt hat? Ich erinnere mich. Was ist mit dem Kleid?«

  »Ich war mir sicher, es wieder mitgenommen zu haben, und wollte es für mein Date morgen Abend anziehen. Aber jetzt kann ich es einfach nicht finden.« Ich zögerte ein, zwei Herzschläge lang, brachte es aber nicht über mich, die Frage zu stellen.

  Auch Gillian schwieg kurz. »Soll ich zu Mom fahren und nachsehen?«

  Ich musste lächeln, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Es war nicht so, dass wir aus einer schrecklichen Familie kamen und eine furchtbare Kindheit gehabt hatten. Im Gegenteil. Unsere Eltern waren reich, dafür sorgten Dads Firmen und Moms frühere Erfolge bei diversen Schönheitswettbewerben, die ihr nicht nur in ihrer Jugend zahlreiche Werbespots und Fotokampagnen eingebracht hatten. Gillian und ich waren ziemlich behütet aufgewachsen und hatten alles bekommen, was wir uns wünschen konnten. Bis auf die Chance, wir selbst zu sein, oder überhaupt herauszufinden, wer wir eigentlich sein wollten.

  Ich schüttelte den Kopf. Das war so dumm. Wir hatten immer ein gutes Leben gehabt. Nur weil es ein paar Schwierigkeiten zwischen uns und unseren Eltern oder zwischen Mom und Dad gab, hieß das nicht, dass wir keine intakte Familie waren. Heutzutage hatte doch jeder Probleme, oder nicht? Da würde ich nicht anfangen, undankbar zu sein. Immerhin hatte mein Vater auch meinen Umzug finanziert – und das, obwohl er dagegen gewesen war, dass ich so weit weg studierte. Aber da er selbst ständig auf Reisen und nie zu Hause war, hatte er das kaum als Gegenargument anbringen können, als ich meine Entscheidung verkündete.

  »Musst du nicht«, beschwichtigte ich Gillian. »Ich finde es schon noch, ansonsten muss ich mir eben ein anderes Outfit zusammenstellen.«

  Etwas, das noch sauber war und nicht im Wäschekorb lag, der bereits einem Turm glich, der bedrohlich schwankte und wahrscheinlich jede Sekunde in sich zusammenfallen könnte.

  »Okay.« Sie sagte es zwar nicht, aber ich wusste, dass sie erleichtert war, sich nicht mit unserer Mutter auseinandersetzen zu müssen. Gillian war schon früher, als ich noch im Haus unserer Eltern wohnte, sie aber schon aufs College ging, so selten wie möglich nach Hause gekommen. Manchmal hatte ich mich gefragt, ob sie sich nur meinetwegen noch dort blicken ließ. Und seit sie mit ihrem Freund Jared zusammengezogen war und ich auf ein College am anderen Ende des Landes ging, beschränkten sich ihre Besuche wirklich nur noch auf Geburtstage, Weihnachten und Thanksgiving. Selbst in den Sommerferien, als ich für einige Wochen wieder in meinem alten Zimmer gewohnt hatte, hatten wir uns immer außerhalb getroffen, nie daheim.

  »Ein Date also? Immer noch mit demselben Kerl? Daniel, richtig? Ist es etwas Ernstes?«

  »Definiere ernst«, gab ich zurück und nagte an meiner Unterlippe. Mit einem Mal hämmerte es heftig in meiner Brust. »Er will mich an Thanksgiving seinen Eltern vorstellen.«

  Ich wusste immer noch nicht, ob ich lächeln oder deswegen in Panik ausbrechen sollte.

  »Oooh, dann ist es ernst. Das heißt aber auch, dass du ihn mal nach Hause mitbringen musst. Wobei … lieber nicht. Mom wird ihn grillen.«

  Und das war nicht mal übertrieben. Es hatte einen Grund, warum wir beide nie jemanden mit nach Hause brachten. Und die Sache zwischen Daniel und mir war erst ein paar Monate alt. Zu frisch, um sie Moms unverhohlenen Seitenhieben auszusetzen.

  »Aber vielleicht bringst du ihn in den nächsten Ferien ja trotzdem mal mit. Zur Not könnt ihr auch bei Jared und mir übernachten. Wir kriegen das schon irgendwie hin.«

  Ich blinzelte überrascht. »Meinst du das ernst?«

  »Natürlich. Aber abgesehen vom Kleid und von deinem Date – was gibt’s Neues, Schwesterherz? Das Semester hat gerade erst begonnen, und wir haben ewig nicht mehr miteinander telefoniert.«

  Ich lachte auf. »Wir haben uns letzte Woche zu Hause in Missoula gesehen.«

  »Aber nicht telefoniert«, beharrte sie. Dann wurde ihre Stimme weicher. »Es ist so seltsam, dich den ganzen Sommer über da gehabt zu haben, und plötzlich bist du wieder Tausende Meilen entfernt. Keine Ahnung, wie Rob das hinkriegt.«

  »Ich wette, Rob vermisst Emery genauso sehr wie du mich«, neckte ich sie und setzte mich aufs Bett. Obwohl noch immer ein einziges Chaos um mich herum herrschte, merkte ich, wie ich dank des Telefonats ruhiger wurde. Gelassener. »Ich habe ein paar interessante Rollen in Aussicht. Und … ich war bei einem Vorsingen.«

  »Einem Vorsingen? Für ein Musical?«

  »Nein, für
…« Ich hielt inne, befeuchtete mir die Lippen und setzte ein zweites Mal an. »Für eine Band.«

  Stille.

  Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Ein überraschtes Lachen vielleicht. Ungläubige Fragen. Skepsis und womöglich ein kurzer Vortrag darüber, dass ich damit nur meine Zeit verschwenden würde. Aber sicher nicht Schweigen. Dass ich dabei nicht mal Gillians Gesicht sehen konnte, machte mich nur noch nervöser.

  »Es ist nichts«, beeilte ich mich hinzuzufügen. »Ich bin nur hingegangen, weil Emery mich dazu überredet hat. Du weißt schon … um meine Angst zu überwinden.«

  Uh, falsches Thema. Darüber wollte ich noch weniger reden, als mir anhören zu müssen, dass ich mein Leben mit einem sinnlosen Studium und der Hoffnung auf einer Karriere in einem viel zu flatterhaften Business verschwendete. Wobei diese Tirade eigentlich Moms Part war. Von meiner großen Schwester erwartete ich maximal eine Light-Version davon, und die hätte auch ganz andere Gründe als die meiner Mom.

  »Gracy, was damals passiert ist …«

  »Du warst nicht dabei«, fiel ich ihr etwas zu schrill ins Wort. »Du hast keine Ahnung, was damals passiert ist.«

  »Du hast recht. Ich war nicht dabei. Ich weiß nur, was du mir erzählt hast. Aber ich finde, das mit der Band ist eine gute Sache.«

  »Das Vorsingen für eine Band ist eine gute Sache?«, wiederholte ich ungläubig. »Wo bleiben die Vorurteile? Was, wenn das wilde Rocker sind? Wenn ich auf Partys voller Drogen lande, mich krankenhausreif betrinke, mir Intimpiercings stechen lasse und das Ganze in einer Orgie mit heißen Groupies endet?«

  Ein ersticktes Geräusch. Lachte sie etwa?

  »Hast du irgendetwas davon vor?«, hakte Gillian nach und schaffte es irgendwie, todernst dabei zu klingen.

  »Nein …?«

  »Dann überlasse ich diese Sorgen unserer Mutter. Ich vertraue dir. Du bist klug genug, um zu wissen, was gut für dich ist und was nicht.«

 

‹ Prev