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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

Page 6

by Bianca Iosivoni


  Nein, das war ich nicht. Hätte ich mich sonst mein Leben lang bevormunden und mir vorschreiben lassen, was ich anziehen, was ich essen und wie ich auszusehen hatte? Wohl kaum. Und schließlich war da noch diese Sache mit Stephen und der Halloweenparty kurz nach unserem Abschluss …

  Ich holte gerade Luft, um ihr zu antworten, als ich ein dumpfes Geräusch hörte. »Warte mal, da klopft jemand.« Ich stieg über mehrere Paar Schuhe und riss die Tür auf.

  »Hallo, Schönheit.« Mason spazierte an mir vorbei ins Zimmer.

  Sekundenlang starrte ich perplex in den leeren Wohnheimflur vor mir, dann wirbelte ich herum und drückte die Tür hinter mir zu.

  »Was soll das?«, zischte ich und hielt die andere Hand über das Smartphone, damit Gillian nichts mitbekam. »Du kannst nicht einfach so hier reinspazieren! Das ist unhöflich und taktlos.«

  »Du meinst, genauso unhöflich und taktlos, wie mich um vier Uhr morgens aus dem Bett zu holen?« Abwägend sah Mason sich um, steuerte dann das Bett an und ließ sich mit einem Seufzen darauf fallen. Auf meine ganzen dort ausgebreiteten Kleidungsstücke.

  »Es war fünf! Fünf Uhr!«, fauchte ich. »Außerdem telefoniere ich gerade. Und du … du …« Ich fuchtelte in seine Richtung. »Du liegst auf meinen Sachen. Hast du eine Ahnung, was das für Falten gibt?«

  Seine Mundwinkel zuckten. »Falten? Wirklich? Das ist deine größte Sorge?«

  »Ja, weil ich irgendetwas davon noch bei meinem Date morgen anziehen will!«

  »Grace?«, ertönte Gillians Stimme an meinem Ohr. »Alles in Ordnung? Bist du noch dran?«

  »Ich muss Schluss machen«, murmelte ich, ohne den finsteren Blick auch nur für eine Sekunde von dem Eindringling zu nehmen. »Tu mir einen Gefallen und besorg mir einen guten Anwalt, weil ich leider gleich eine Straftat begehen werde.«

  Der Ton, mit dem ich das Gespräch beendete, wurde von Masons Lachen übertönt. Wenigstens richtete er sich auf, blieb aber auf meinem Bett sitzen. Hatte der Kerl überhaupt keine Manieren? Keinen Funken Anstand? Oder war es ihm schlichtweg egal?

  »Eine Straftat? Wirklich? Ich glaube, du und Emery verbringt zu viel Zeit miteinander«, ergriff er das Wort, bevor ich es tun konnte.

  »Runter da!«

  »Okay, okay.« Mit abwehrend erhobenen Händen stand er auf, und ich musste jeden Impuls in mir unterdrücken, zu meinen Klamotten zu stürzen und jede darin entstandene Falte hastig zu glätten. Mason hielt mich sowieso schon für steif und pedantisch. Ich erinnerte mich nur zu gut an mindestens zwei Ereignisse im letzten Semester, bei denen er mir geraten hatte, mich mal locker zu machen. Diese Bestätigung seiner Vorurteile würde ich ihm auf keinen Fall gönnen. »Mit wem hast du überhaupt gesprochen?«

  »Mit meiner Schwester. Was …«

  »Ah … Gillian, richtig? Die auch mit Emerys Bruder Rob und seiner Freundin Bree befreundet ist?«

  »Woher weißt du das?«

  Mason zuckte nur mit den Schultern. »Hat Em mal erwähnt.«

  Ich kniff die Augen zusammen. Ich würde gerne wissen, was sie ihrem Mitbewohner sonst noch alles erzählt hatte. Aber das war ein Thema für ein anderes Mal. Oder besser für nie, wenn es nach mir ging.

  Seufzend legte ich das Handy auf den Schreibtisch. »Was willst du hier, Mason?«

  Hatte er an diesem Nachmittag nichts Besseres zu tun, als einfach in mein Zimmer zu spazieren und sich hier auszubreiten, als wäre es sein eigenes?

  »Die Bandproben sind immer Dienstag- oder Mittwochabend ab acht Uhr, und Sonntagnachmittag ab vier. Wenn wir einen Auftritt haben, öfter.«

  »Schön für euch. Viel Spaß dabei.«

  Er ließ mich nicht aus den Augen. »Warum hast du überhaupt vorgesungen, wenn du gar nicht in die Band willst?«

  »Damit Emery endlich Ruhe gibt und mir nicht länger damit auf die Nerven geht. Okay? Das war alles.«

  Er machte ein Geräusch, das an den Buzzer in einer Gameshow erinnerte, wenn die falsche Antwort kam. Ich starrte ihn ungläubig an.

  »Komm schon. Was hast du zu verlieren?«, bohrte er weiter.

  »Oh, ich weiß nicht. Meine Würde vielleicht?«

  Mason zog die Brauen weit hoch. »Scheiße, was hast du auf der Bühne vor? Jetzt will ich nur noch mehr, dass du in die Band kommst. Und ich werde nicht aufgeben, bis du Ja sagst.«

  Ich verdrehte die Augen und gab ein Geräusch von mir, das irgendwo zwischen einem Zischen und einem Schnauben lag. »Du bekommst von mir aber kein Ja. Ich will nicht für Waiting for Juliet singen. Wer hat sich diesen Namen überhaupt ausgedacht?«

  Fragend legte er den Kopf schief. »Wie sollte die Band deiner Meinung nach sonst heißen?«

  »Oh, ich weiß nicht. Mason and the Broken Noses vielleicht?«

  Er gab einen erstickten Laut von sich, halb Schnauben, halb Lachen. Aber wenn ich gedacht hatte, ihn so leicht ablenken zu können, hatte ich mich geirrt, denn Mason gab nicht auf.

  »Du hast gesagt, du wolltest dir etwas beweisen«, erinnerte er mich und machte einen Schritt auf mich zu.

  Ich zwang mich dazu, stehen zu bleiben, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und …?«

  »Was wolltest du dir beweisen?«, hakte er nach, diesmal eine Spur leiser, eine Spur … sanfter.

  Ich war kurz davor, die Augen zu schließen, nur um noch mehr von dieser weichen, klaren Stimme zu hören, gleichzeitig hätte ich mich selbst am liebsten geschüttelt. Seine Stimme tat hier absolut nichts zur Sache.

  »Das geht dich nichts an. Sind wir fertig? Ich habe Dinge zu tun, ein Date vorzubereiten und weiß immer noch nicht, was ich dafür anziehen soll.«

  »Nein. Wir sind nicht fertig.«

  Hätte Mom mir nicht schon vor Jahren so gut wie jedes erdenkliche Schimpfwort ausgetrieben und verboten, wäre mir jetzt wohl einer von Emerys Flüchen durch den Kopf geschossen. Doch so blieb es selbst in meinen Gedanken stumm.

  »Vor Leuten auf der Bühne zu stehen, kann es nicht sein, ich hab dich schon bei mehreren Veranstaltungen performen gesehen. Was dann? Lampenfieber? Singen?« Mason überging meinen Einwand und den indirekten Rausschmiss völlig. Aber was hatte ich erwartet? Für Subtilität war dieser Kerl nicht gerade bekannt.

  »Muss ich es dir buchstabieren? Das geht dich nichts an. Wie oft muss ich es dir noch sagen?«

  »So oft, bis es nicht mehr wie ein Nein klingt. Komm schon, Grace, sag, dass du unsere neue Sängerin wirst.«

  Ich unterdrückte ein Fauchen. »Warum singst du denn nicht? Du hast eine unglaubliche Stimme. Besser als jeder, der …« Ich hielt inne. Gott, hatte ich das gerade laut gesagt?

  Sein Grinsen war Antwort genug. Aber zum ersten Mal zeigte Mason etwas, das ich nie bei ihm vermutet hätte: Bescheidenheit.

  »Ich singe auch, aber ich bin nicht die Leadstimme. Dafür ist meine nicht stark genug, auch wenn sie noch so unglaublich ist«, fügte er amüsiert hinzu. »Außerdem bin ich mit Gitarrespielen, Songs schreiben und der ganzen Organisation schon voll ausgelastet. Die Wahrheit ist …« Er zögerte. Sein Blick irrte durch mein Zimmer, über die gerahmten Bilder mit Fotos und Zitaten von Leuten, die ich bewunderte, über die Sonnenblume in der Vase auf dem Schreibtisch und die Bücher neben dem Bett, bis er mich wieder direkt ansah. »Die Wahrheit ist, dass wir dich brauchen. Mehr als du uns, das ist mir klar. Was auch immer du dir beweisen wolltest, ich denke, du kannst es dir viel besser beweisen, wenn du unsere Sängerin wirst. Im Gegenzug trainiere ich dich weiter. Solange du willst.«

  Ich zog die Brauen hoch. »Du trainierst mich doch schon jeden zweiten Tag, weil du mir einen Gefallen schuldig warst.«

  Seltsam, dass er das Thema nicht schon heute Morgen beim Training angeschnitten hatte, doch allem Anschein nach hatte er sich nur zurückgehalten, um jetzt in mein Zimmer zu walzen und seinen großen Auftritt zu haben.

  »Aber nur für ein paar Wochen.« Er tat es mit einem Schulterzucken ab. »Jetzt biete ich dir das Rundum-Sorglos-Paket an. Solange du willst.«

  Ich kaufte ihm diese Nummer keine Sekunde
lang ab. Mason mochte immer so locker und oberflächlich tun, aber es war nicht zu übersehen, wie wichtig ihm diese Band war. Es musste einen anderen Grund geben, warum er so darauf beharrte, dass ich die neue Sängerin wurde. Es konnte wohl kaum daran liegen, dass es auf dem ganzen Campus niemanden sonst gab, der in einer Band singen wollte, oder?

  »Okay. Vorschlag: Wir haben einen kleinen Gig am Samstagabend. Du kommst vorbei, siehst es dir an und entscheidest dann, ob du dabei sein willst oder nicht.«

  »Warum glaubst du, das würde meine Meinung ändern?«

  Er setzte ein entwaffnendes Lächeln auf. »Du wirst schon sehen. Also, kommst du vorbei?«

  »Werde ich dich los, wenn ich Ja sage?«

  »Jepp.«

  »Und wenn ich Nein sage, bequatschst du mich weiter?«

  Er wippte leicht auf den Fußballen auf und ab. »Ich hab heute nichts mehr vor, also – ja.«

  Ich verdrehte die Augen. Das hier war ein Scherz, oder? Das konnte unmöglich mein Leben sein. Dieses ganze Chaos in meinem sonst so wohlgeordneten Zimmer, und mittendrin Mason Lewis …

  »Komm schon, Grace. Was hast du zu verlieren? Denk wenigstens darüber nach. Wir brauchen dich.«

  Sie brauchten mich? Das war ja wohl die berühmte Mason-Dramatik in Hochform. Es gab mit Sicherheit andere, fähigere Leute da draußen als mich.

  Mason kam noch einen halben Schritt näher, und ich musste den Kopf in den Nacken legen, um seinem Blick standzuhalten. Dabei war er nicht mal besonders groß. Trevor, Dylan und Luke überragten ihn deutlich. Aber neben meinen eins achtundfünfzig war jeder groß.

  »Wir können mehr Duette einplanen, wenn du dich damit wohler fühlst«, schlug er vor. »Außerdem sind wir ein gutes Team auf der Bühne, das weißt du genauso gut wie ich.«

  Ich presste die Lippen fest aufeinander. Ich wollte nicht nachgeben, aber ich erinnerte mich sehr genau daran, wie es sich angefühlt hatte, zusammen mit Mason und den anderen Jungs auf der Bühne zu stehen. Es war eine wilde Mischung aus nackter Angst und purer Euphorie gewesen. Ein Wirbelwind aus verschiedensten Gefühlen, wie ein Rausch. Im Nachhinein hatte ich nicht fassen können, dass ich das getan hatte, aber ich war auch irgendwie … stolz auf mich gewesen, dass ich den Mut dazu aufgebracht hatte. Und jetzt wollte ich mich lieber weiter hinter meinen Ängsten verstecken, obwohl die Jungs mich brauchten?

  Ja. Schließlich hatte ich mir nicht ohne Grund vorgenommen, nie wieder zu singen. Zumindest nicht … so. Wenn ich mich dadurch wieder aller Welt präsentierte und verletzlich machte.

  Mason bohrte nicht weiter, sondern sah mich nur bittend an.

  Ich seufzte tief. »Ich denke darüber nach, in Ordnung? Mehr kann ich nicht versprechen.«

  Seine Mundwinkel hoben sich. »Mehr wollte ich auch gar nicht.« Ohne ein weiteres Wort steuerte er die Tür an und öffnete sie. »Ach ja, noch was.«

  Langsam drehte ich mich zu ihm um.

  »Zieh das blaue Kleid für dein Date an.« Er lächelte. »Es passt zu deinen Augen.«

  Dann war er verschwunden.

  Einen Moment lang starrte ich mit hämmerndem Herzen auf die geschlossene Zimmertür, dann drehte ich mich zum Bett um, wo zwischen all den Sachen ein graublaues Kleid mit besticktem Rock lag. Lächelnd schüttelte ich den Kopf und hob es auf.

  Kapitel 5

  Grace

  Waiting for Juliet performten am Samstagabend nicht in einem Club voller Menschen wie beim Auftritt an Elles Geburtstag letztes Jahr. Es war auch keine Verbindungsparty voller betrunkener Leute, die in diesem Zustand nicht mal etwas so Simples wie Dur von Moll unterscheiden konnten. Zu meiner Überraschung fand der Gig in einem Pub statt, der mir bisher völlig entgangen war. Und das, obwohl ich schon mehrmals in der Stadt daran vorbeigelaufen war. Die Beleuchtung war gedämpft, und ich brauchte ein paar Sekunden, bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten. Erst dann konnte ich Details wahrnehmen.

  Dunkle Holzmöbel, gemütliche Sitzecken mit gepolsterten Bänken, robuste Tische und Hocker. Eine lange Bar mit unzähligen Flaschen in einem gläsernen Regal dahinter. An einer Wand hingen lauter Autoschilder, allerdings nicht aus den Staaten, sondern aus der ganzen Welt. Die Kundschaft schien eher in meinem Alter zu sein, was auf den ersten Blick nicht recht zum Setting passen wollte, aber ich bemerkte auch zwei grauhaarige Kerle, die an einem der Tische saßen und Karten spielten. Die Stimmung war angenehm entspannt. Leise Rockmusik ertönte im Hintergrund. Zwei Kellnerinnen servierten Essen und Getränke. Niemand war over- oder underdressed, weil es gar keinen Dresscode zu geben schien. Da waren Mädels in Partyklamotten genauso wie Leute in Jeans und Holzfällerhemden. Dieser Ort war völlig anders als die wenigen Bars, die ich bisher in Huntington kannte. Aber vor allem schien er frei von irgendwelchen dubiosen Typen zu sein, die nur auf das Eine aus waren.

  Trotzdem zuckte ich zusammen und wirbelte herum, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte.

  »Hey.« Abwehrend hielt Mason die Hände hoch. »Lass mich am Leben. Schön, dass du tatsächlich hergekommen bist.«

  Hatte er etwa daran gezweifelt?

  Ich reckte das Kinn vor. »Ich halte meine Versprechen.«

  Selbst wenn das bedeutete, an einem Samstagabend allein in einen Pub zu gehen, in dem ich nie zuvor gewesen war, und einer Band zuzuhören, deren Mitglieder ich kaum kannte. Als ich Daniel bei unserem Date davon erzählt hatte, war er wenig begeistert gewesen. Vor allem, weil er nicht mitkommen konnte, sondern heute Morgen schon um sieben Uhr mit den anderen Jungs vom Footballteam in ein Trainingscamp gefahren war. Natürlich hätte ich Emery oder Myung-hee mitnehmen können, aber ich wollte mir ganz allein eine Meinung bilden. Oder eher herausfinden, ob Mason meine Meinung bezüglich der Band ändern konnte. Und das, ganz ohne dass jemand ständig auf mich einredete.

  Langsam zog Mason die Brauen hoch. Obwohl er sich heute Morgen rasiert haben musste, war der dunkle Bartschatten deutlich zu sehen. Genauso deutlich wie dieses Piercing seitlich an seiner Unterlippe. Ein kleiner Ring aus Metall, der sich an meinen Lippen erstaunlich schnell erwärmt hatte und … Ich riss meinen Blick von seinem Mund los und zwang mich dazu, ihm wieder in die Augen zu sehen.

  Jetzt lächelte er. »Ich wusste gar nicht, dass das ein Versprechen war«, raunte er mit gesenkter Stimme.

  War es vorhin auch schon so warm hier drin gewesen? Ich widerstand dem Drang, meinen Cardigan auszuziehen, und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. Dadurch wurde mir zwar nicht weniger warm, aber ich fühlte mich sicherer auf den Beinen. Entschlossener.

  »Wann geht es denn los?«

  »In ein paar Minuten.« Er deutete Richtung Bühne. »Wir haben dir einen Ehrenplatz frei gehalten.«

  Skeptisch beäugte ich den Arm, den Mason mir jetzt zum Einhaken hinhielt. Als ich nicht reagierte, nahm er einfach meine Hand und legte sie auf seinen Arm, als wären wir bei einem Debütantinnenball. Wobei ich nicht glaubte, dass Mason damit sonderlich viel Erfahrung hatte. Dann führte er mich Richtung Bühne. Beim Anblick der anderen Bandmitglieder und der bereits aufgebauten Instrumente versteifte ich mich unwillkürlich, auch wenn das hier keine Bühne im klassischen Stil war, sondern nur eine minimal erhöhte Plattform am anderen Ende des Pubs. Und das Publikum bestand auch nicht aus Kritikern und Jurymitgliedern, die wie die Aasgeier darauf warteten, dass man einen Fehler machte, sondern aus ganz normalen Leuten, die sich auf einen schönen Abend freuten.

  »Hier.« Mason führte mich zu einem Tisch, der seitlich direkt an der Bühne stand und von wo aus man den besten Ausblick darauf hatte. Niemand anderes saß dort, es lagen nur ein paar Jacken und ein Rucksack herum. Offenbar hatte man diesen Platz für die Band frei gehalten. »Brauchst du noch etwas? Was zu trinken vielleicht? Snacks?«

  Gegen meinen Willen musste ich lächeln. So bemüht hatte ich Mason noch nie erlebt. Allerdings hatten wir auch nie besonders viel miteinander zu tun gehabt. Unsere Begegnungen waren immer eher flüchtig gewesen, sowohl in unserem Freundeskreis als auch in unseren Kursen und den Proben für die Aufführungen.


  »Ich brauche nichts, danke.«

  »Alles klar.« Er warf mir ein Lächeln zu und fuhr sich mit der Hand durch das Haar – oder rieb sich eher über den Kopf, weil es so kurz war. Zum ersten Mal seit ich ihn kannte, schien er vor einem Auftritt wirklich nervös zu sein, so, wie er auf den Füßen vor und zurück wippte, sein Blick immer wieder zur Bühne zuckte und er seine Hände kaum stillhalten konnte. »Dann bis gleich.«

  »Hey«, rief ich ihm nach, als er schon mit einem Bein auf der kleinen Bühne stand. »Hals- und Beinbruch!«

  Er zwinkerte mir zu, dann wandte er sich ab und stieg zu den Jungs auf die Bühne. Paxton hatte schon seinen Platz am Schlagzeug eingenommen und wirbelte die Sticks zwischen den Fingern. Wie Mason und ich studierte er ebenfalls Musik- und Theaterwissenschaften, auch wenn er schon ein Senior war und im Frühjahr seinen Abschluss machen würde. Kane war mir bei der Einführungsveranstaltung schon im PAC aufgefallen, allerdings hatte er sich anscheinend auf Musik spezialisiert. Was genau Jesse studierte, wusste ich hingegen nicht, genauso wenig, wie alt oder in welchem Jahr er und Kane waren.

  Während Mason ein paar Worte mit den anderen wechselte und sie ihre Plätze an den Instrumenten einnahmen, ließ ich meinen Blick ein weiteres Mal durch den Raum wandern. In den letzten Minuten war es merklich voller geworden. Alle Tische waren besetzt, an der Bar drängten sich die Leute, und manche hatten nur noch einen Stehplatz bekommen. Wenn sie nicht gerade wegen der billigen Drinks hier waren, dann war die Band bekannter, als ich angenommen hatte. Und das auch abseits vom Campus.

  Ich gab einer der Kellnerinnen ein Zeichen und bestellte mir eine Cola light. Sie nickte mir zu und eilte an den nächsten Tisch. Noch bevor mein Getränk kam, wurde die Beleuchtung etwas gedimmt und ein Strahler auf die provisorische Bühne gerichtet. Mason stand ganz vorne, eine Hand an seiner Gitarre, eine am Standmikrofon. Seine Stimme zitterte ganz leicht, als er die Gäste begrüßte, aber er machte das mit seinem Charme und seinem Lächeln wieder wett. Wahrscheinlich war es nicht einfach für ihn, nach Hazels Weggang plötzlich ganz vorne im Rampenlicht zu stehen, trotzdem konnte ich ihn mir unglaublich gut auf einer großen Bühne vorstellen, umringt von laut kreischenden Fans, die nicht nur von der Musik verzaubert wurden, sondern auch von ihm. Und von den anderen Mitgliedern der Band. Von Jesses frechem Grinsen, von der Hingabe, mit der Paxton das Schlagzeug spielte, und von Kanes stiller, geheimnisvoller Art – und seinen vielen Tattoos. Ich war nicht der Typ Frau, der auf tätowierte Kerle stand. Allein die Vorstellung davon, Farbe mit tausenden Nadelstichen unter die Haut gejagt zu bekommen, ließ mich schaudern. Leider milderte das nicht meine Neugier darauf, endlich zu erfahren, welche Wörter sich auf Masons tätowiertem Arm befanden. Im Licht des Scheinwerfers war der tiefschwarze Violinschlüssel deutlich zu erkennen, aber die Wörter auf seiner Haut blieben weiterhin ein Geheimnis.

 

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