Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)
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»Du mir auch«, stieß ich hervor.
»Wirklich?« Sie kam einen Schritt näher. Dann noch einen. In ihren Augen lag etwas Fragendes, etwas Vorsichtiges. Glaubte sie wirklich, ich könnte sie nach allem, was wir zusammen erlebt und durchgestanden hatten, einfach zurückstoßen?
Wir waren während der Highschool drei Jahre lang zusammen gewesen. Sie war die Erste gewesen, die mich singen und Gitarre spielen gehört und mich ermutigt hatte, es tatsächlich mit einer Band zu versuchen, auch wenn sie sich mehr für Kunst und kaum für Musik interessierte. Ich war an ihrer Seite gewesen und hatte sie im Arm gehalten, als sie sich während der Scheidung ihrer Eltern in den Schlaf geweint hatte. Damals war nicht klar gewesen, ob sie bei ihrer Mom bleiben oder mit ihrem Vater wegziehen würde. In eine andere Stadt, einen anderen Bundesstaat. Aber auch das hatten wir gemeinsam überstanden. Sie hatte mir den Rücken gestärkt, als ich mich wegen der Frage, ob ich zum Militär gehen würde oder nicht, mit meinem Vater, dem stolzen Marine, gezofft hatte. Und sie hatte meine Hand gehalten, als wir meinen Großvater beerdigt hatten. Ich hatte sie bei all ihren Tennisturnieren angefeuert, und sie war zu jedem Konzert gekommen.
Wir hatten uns unsere Zukunft schon ausgemalt: die Highschool abschließen, gemeinsam an der Blackhill University studieren, nach unserem Abschluss heiraten und zusammen an die Westküste ziehen. Nach Santa Barbara oder San Diego, wo ihre Tante lebte. Dort würden wir uns Jobs suchen, ein Haus kaufen und unsere Kinder großziehen. Jahrelang hatten wir daran festgehalten. In ausweglosen Situationen hatte uns dieser Plan Kraft gegeben und uns in guten Momenten noch mehr motiviert. Bis wir irgendwann gemerkt hatten, dass unsere Ziele nicht mehr zueinanderpassten und wir in verschiedene Richtungen wollten.
Aber auch hier hatten wir eine Lösung gefunden: Jenny hatte die lange Reise unternommen, die sie unbedingt hatte machen wollen, und ich war zur Armee gegangen, um die Zwischenzeit zu überbrücken und meinen Dad stolz zu machen. Vor einem Jahr hatten wir schließlich mit dem Studium angefangen. Alle beide – und doch nicht gemeinsam. Jenny war mit ihren Freundinnen zusammengezogen, und ich war in diesem Wohnheim gelandet.
Diesmal hielt ich mich nicht zurück, sondern strich ihr das Haar aus dem Gesicht und hinters Ohr. Sie lehnte sich in die Berührung, ohne meinen Blick loszulassen.
»Wir kriegen das hin«, flüsterte ich, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein. Aber ich wollte daran glauben. Ich musste einfach daran glauben. Ich würde Jenny so viel Zeit und Freiheit geben, wie sie brauchte, aber ich musste mir sicher sein, dass es auch das war, was sie wollte. Dass sie noch immer an unserem Traum festhielt, auch wenn uns so viele Steine in den Weg gelegt worden waren.
Sie nickte stumm und griff nach meinen Fingern. Ihre Hand war warm, die Berührung vertraut. Ich dachte nicht mehr nach, verschwendete keine Zeit mehr auf irgendwelche Worte, sondern lehnte mich zu ihr, um sie zu küssen. Nach all dieser Zeit endlich wieder.
Kapitel 7
Grace
»Ich muss los …« Seufzend machte ich mich von Daniel los und stand auf. Meine Sachen waren in seinem ganzen Zimmer verstreut. Das Kleid fand ich sofort, ebenso die hochhackigen Sandaletten und meinen BH. Nur mein Höschen war nirgendwo zu sehen.
»Musst du wirklich gehen?« Daniel trat hinter mich und setzte sanfte Küsse auf meinen Nacken. Seine Lippen waren warm auf meiner Haut, genau wie das Kitzeln seiner Bartstoppeln. »Kannst du diesen Termin nicht ausfallen lassen? Hier ist es viel spannender.«
Lächelnd wand ich mich aus seiner Umarmung. »Spannend oder nicht, heute ist die allererste Bandprobe, und ich will keinen schlechten Eindruck erwecken, indem ich gleich am Anfang zu spät komme.«
»Bei den Theater- und Musicalproben verstehe ich es ja. Die sind für dein Studium wichtig. Aber eine Band? Die machen das doch sicher alle nur zum Spaß im Studium. Sind die da nicht viel lockerer drauf?« Seufzend fuhr er sich durch das dunkelbraune Haar und brachte es noch mehr durcheinander, als es schon war. Meine Finger zuckten in dem Impuls, hindurchzustreichen. Er musste es mir ansehen, denn er lächelte sofort wieder und schlang die Arme um mich. »Schon gut. Ich weiß, wie wichtig dir das ist. Manchmal bist du einfach zu perfekt.«
Perfekt.
Ich versteifte mich. Da war es wieder. Dieses kleine Wörtchen, das mich seit Ewigkeiten begleitete. Dieses eine Ziel, das ich nie erreichen konnte. Denn Daniel irrte sich. Ich war nicht perfekt. Nie gewesen. Ganz egal, wie sehr ich es auch versuchte.
»Hey …« Sanft hob er mein Kinn an. »Das war ein Kompliment.«
»Ich weiß.«
»Das war nicht negativ gemeint.« Er strich mit dem Daumen über meine Haut. In seinen blauen Augen stand nichts als Ehrlichkeit. »Ich erzähle viel, wenn der Tag lang ist, und das Meiste davon ist eh Mist. Das weißt du, oder?«
Ich nickte und verpasste mir in Gedanken selbst einen Tritt. Ich sollte nicht so empfindlich reagieren. Nur weil dieses Wort einen negativen Beigeschmack für mich hatte, musste das nicht auch für alle anderen gelten.
Lächelnd legte ich die Arme um ihn. »Wie wär’s, wenn wir einfach später da weitermachen, wo wir jetzt aufgehört haben?«
Ein spitzbübisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und brachte diese beiden Grübchen zum Vorschein, die eindeutig Teil seines Charmes waren. Und das wusste er natürlich.
»Versprochen?«, fragte er, seine Lippen ganz nahe an meinen.
Statt einer Antwort kam ich ihm entgegen und presste meinen Mund auf seinen. Der Kuss begann langsam, fast schon träge, wurde aber schnell leidenschaftlicher. Daniels Hände glitten über meine Seiten, fanden den Saum meines Kleides und schlüpften darunter. Ich keuchte an seinen Lippen. Warum wollte ich noch mal weg? Irgendwie war es mir beinahe schon entfallen.
Leider nur beinahe. Mein Pflichtgefühl war zu stark, um sich so leicht ablenken zu lassen, selbst dann, wenn mein Freund mich bereits wieder Richtung Bett dirigierte. Lachend drückte ich gegen seine Brust.
»Später«, wisperte ich und hauchte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen.
»Kann’s kaum erwarten«, murmelte er und ließ mich schließlich los. »Ach, Grace?«
»Ja?« An der Tür angekommen, drehte ich mich mit klopfendem Herzen zu ihm um.
Mein Blick landete zuerst auf seinem Gesicht, zuckte dann aber sofort zu dem Stück weißer Seide, die von seinem Zeigefinger baumelte. Hitze schoss mir in die Wangen.
Er sah von mir zu dem Höschen und wieder zurück. »Hast du vielleicht etwas vergessen?«
Oh Gott. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich kein Wort hervorgebracht. Stattdessen kratzte ich mein letztes bisschen Würde zusammen und ging wortlos zu ihm hinüber, um ihm meine Unterwäsche zu entreißen, aber er zog sie weg. Einmal, zweimal, dann hatte er mich so nahe, dass er seinen Mund ein letztes Mal auf meinen drücken konnte.
»Beeil dich«, raunte er und gab mir den Slip, ohne meinen Blick loszulassen.
Ich nickte, noch immer unfähig dazu, etwas zu sagen, dafür aber mit viel zu weichen Knien. Irgendwie schaffte ich es, mir das Höschen wieder anzuziehen, ohne über meine eigenen Füße zu stolpern.
Diesmal hielt Daniel mich nicht auf, aber ich spürte seinen brennenden Blick auf mir, bis ich aus der Tür ging. Wahrscheinlich sah man mir nur zu deutlich an, wie wir die letzte Stunde verbracht hatten. Ich brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass ich zerzaust und verschwitzt war, dass mein Make-up verschmiert war und mein Kleid viel zu viele Falten hatte. Hastig versuchte ich, sie mit den Händen zu glätten, und wischte mir die Spuren unter den Augen mit den Fingerspitzen weg, dann machte ich mich auf den Weg.
Glücklicherweise begegnete ich weder Daniels Mitbewohnern, die ebenfalls zum Footballteam gehörten, noch sonst jemandem auf dem Weg nach draußen. Ich hetzte über den Campus und zu meinem Wohnheim. In meinem Zimmer angekommen, warf ich die Collegetasche aufs Bett, duschte und zog mir ein frisches Kleid an. Nachdem ich mich vor zwei Tagen endlich dazu hatte überwinden können, Wäsche zu waschen, gab es auch wieder mehr als genug Auswahl. Ich schminkte
mich neu, flocht mir das Haar zu einem französischen Zopf und zupfte meinen Pony zurecht, bis er wieder meine Narbe bedeckte, dann machte ich mich auf den Weg.
Vom Wohnheim bis zum PAC waren es zu Fuß um die fünfzehn Minuten. Ich schaffte es in unter zehn. Und das trotz des schwül-warmen Augustabends und den ultrahohen Schuhen, in die ich, ohne nachzudenken, geschlüpft war. Wahrscheinlich wären flache Schuhe für die Bandprobe praktischer gewesen, aber alte Gewohnheiten wurde man nur schwer los. Mom hatte mich so früh an High Heels und Pumps gewöhnt, dass ich mittlerweile bezweifelte, dass es überhaupt eine Zeit in meinem Leben gegeben hatte, in der ich flache Schuhe getragen hatte.
Die Probe fand am selben Ort statt wie das Vorsingen. Da Daniel mich so lange abgelenkt und ich danach unter Zeitdruck gestanden hatte, hatte ich gar keine Möglichkeit gehabt, um nervös zu werden.
Jetzt hingegen schon. Denn je näher ich dem Raum kam, desto schneller pochte es in meiner Brust und desto langsamer wurden meine Schritte. Kurz musste ich an den Auftritt der Jungs in diesem Pub letztes Wochenende zurückdenken. Es hatte so viel Spaß gemacht, ihnen dabei zuzusehen. Und als Mason auch noch ausgerechnet dieses Lied gesungen hatte, als wäre jedes einzelne Wort an mich gerichtet … Wie hätte ich da noch Nein sagen können? Lampenfieber und schlechte Erinnerungen würden immer meine Begleiter sein, ganz egal, ob ich auf einer Bühne stand oder nicht. Aber ich wollte nicht länger davor weglaufen. Auch wenn mich die Vorstellung, hinter ein Mikrofon zu treten und zu singen, während die Aufmerksamkeit eines ganzen Saals einzig und allein auf mir lag, nach wie vor in blanke Panik versetzte und schon jetzt die ersten Zweifel an mir nagten, ob ich das tatsächlich schaffen würde.
In der Tür zum Proberaum blieb ich stehen. Die Jungs waren schon da. Jesse stand am Keyboard und klimperte darauf herum, Paxton hatte sich einen Platz in den Sitzreihen gesichert, die Beine auf den Sitz vor sich hochgelegt, die Sticks in der rechten Hand, das Smartphone in der linken. Mason saß ein Stück entfernt auf einem Hocker und stimmte seine Gitarre. Und Kane stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und telefonierte. Instrumente und Soundanlage waren schon aufgebaut, und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie ihre Instrumente direkt daließen und auch nur hier probten oder ob sie ihre Sachen regelmäßig zusammenpackten, woanders unterstellten und jedes Mal wieder mit hierherbrachten. Zumindest beim Schlagzeug könnte das ziemlich umständlich werden.
Bevor ich jedoch weiter darüber nachdenken oder die Fragen laut aussprechen konnte, hob Mason den Kopf. Er blinzelte kurz, dann starrte er mich überrascht an. »Du bist wirklich gekommen.«
Verwundert zog ich die Brauen hoch. »Das klingt fast so, als hättest du daran gezweifelt.«
Und das, nachdem wir inzwischen schon viermal morgens miteinander trainiert hatten und ich auch dort jedes Mal pünktlich aufgetaucht war. Wirklich?
Gespielt nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her. »Ein bisschen vielleicht?« Seine Mundwinkel zuckten bei der Aussage, aber ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie viel Wahrheit darin steckte. Hatte er tatsächlich so wenig Vertrauen in mich? Oder generell in seine Mitmenschen?
Ohne genau zu wissen, was mich erwartete, machte ich einige Schritte in den Raum hinein und blieb etwas unschlüssig stehen.
»Hi Grace.« Pax hob die Sticks zur Begrüßung, ohne von seinem Handy aufzusehen. So wie er mit dem Daumen darauf einhämmerte, musste er in irgendein Spiel vertieft sein.
Jesse warf mir ein gut gelauntes Grinsen zu, und Kane nickte in meine Richtung, ohne sein Telefonat zu unterbrechen. Ich stellte meine Tasche auf einem der Sitze ab und drehte mich zu Mason und Jesse um, die als Einzige schon auf der Bühne waren.
»Also … kann’s losgehen?«
»Gleich.« Mason zupfte weiter an den Saiten seiner Gitarre.
Dafür schnappte sich Jesse ein paar Papiere und brachte sie mir. So aus der Nähe wirkte er viel jünger als alle anderen. Nicht wie jemand, der schon im dritten Jahr auf dem College war, sondern eher wie ein Highschool-Schüler. Könnte aber auch an seinem frechen Grinsen liegen, das immer wieder aufblitzte. Oder an seinen goldblonden Locken.
»Das ist unsere aktuelle Setlist«, erklärte er und deutete auf den ersten Zettel. »Aber Maze meinte, dass wir noch ein paar Duette mit reinnehmen sollen, also ist das nur eine vorläufige Auswahl. Die gelb markierten Songs haben wir schon ein paarmal bei Auftritten gespielt, und die bleiben in der Setlist. Der Rest ist variabel. Wenn du also irgendwelche Vorschläge oder Wünsche hast …«
Ich überflog die Lieder. Die meisten davon kannte ich, da es sich um relativ bekannte Stücke aus mehreren Musikgenres handelte, die sich gut covern ließen. Die unverkennbare locker-rockige Art der Gruppe und Masons Stimme würden ihr Übriges tun. Und meine Stimme. Beim Gedanken daran zog sich mein Magen zusammen.
Ich konnte das. Ich hatte schon mal vor lauter Fremden gesungen und es überlebt. Also würde ich es wieder schaffen.
»Songwünsche am besten zu mir«, kam es überraschend von Mason, der jetzt aufstand und seine Gitarre in den dafür vorgesehenen Ständer stellte. »Ich sammle sie, sortiere vorher aus und dann stimmen wir gemeinsam ab. Auf der finalen Setlist landen nur die Songs, bei denen wir uns alle einig waren.«
Nun, das war beruhigend. Dann musste ich wenigstens keine Lieder singen, die ich nicht ausstehen konnte. Oder nicht singen konnte, weil ich die hohen Töne nicht mehr traf.
Ich presste die Lippen aufeinander, aber auch wenn ich die Gedanken an damals verscheuchen konnte – die Bitterkeit blieb. Nach meinem Unfall hatte ich eine Zeit lang geglaubt, nie wieder singen zu können. Geschweige denn, es überhaupt jemals wieder zu wollen. Doch irgendwann hatte ich mir eingestehen müssen, dass ich ohne das Singen und die Musik nicht leben konnte. Also hatte ich es versucht, hatte geübt und gelernt, die Veränderungen und Einschränkungen in meiner Stimme zu akzeptieren. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten mir meine eigenen Ambitionen nichts als Scham und Reue und hässliche Erinnerungen gebracht. Ich konnte nur hoffen und beten, dass sich das nicht wiederholen würde. Ein Mal hatte ich mich davon erholen, hatte darum kämpfen und weitermachen können. Aber ein zweites Mal?
»Grace?«
Ich riss den Kopf hoch. »Ja?«
Mason deutete mit dem Daumen hinter sich auf die aufgebauten Instrumente, aber sein Blick wirkte seltsam besorgt. »Wir dachten, dass wir am besten mit einem Song anfangen, den du schon mit uns performt hast, und der noch auf der aktuellen Setlist ist.«
Das einzige Mal, dass ich mit den Jungs auf einer Bühne gestanden hatte, war an Elles Geburtstag in diesem Club vor fast einem Jahr gewesen. Aber manche Momente vergaß man nicht. Genauso wenig wie die dazugehörigen Lieder oder das Gefühl, vor einer tobenden Menge Radioactive von Imagine Dragons zu singen.
»Natürlich. Dann los.«
Aber ich musste schnell lernen, dass los nicht gleich los hieß bei diesen Jungs. Während Kane fertig telefonierte und Paxton offenbar das nächste Level in seinem Handygame zu erreichen versuchte, machten sich Mason und Jesse an den Soundcheck. Ich nutzte die Zeit für ein paar Stimmübungen. Es war seltsam, das in einem Raum voller Kerle zu tun, die ich kaum kannte. Aber während der ganzen Wettbewerbe früher hatte ich auch nicht den Luxus gehabt, mich allein und in Ruhe vorzubereiten. Damals war mir nur ein kleiner Platz vor einem Spiegel in einem vollgestopften Umkleideraum voller Miss-Anwärterinnen geblieben. Und die konnten mit Worten und Blicken herablassender sein als ein Käfig voller Giftnattern. In den beiden Jahren hatte ich mich aber zumindest mit zwei von den anderen Mädchen angefreundet. Leider lebten sie heute beide am anderen Ende des Landes, und der Kontakt bestand nur noch sporadisch.
Als endlich alle bereit waren – oder Mason uns vielmehr auf die Bühne scheuchte –, zählte Paxton am Schlagzeug an. Dann ertönten die ersten Klänge von Radioactive.
Zu meiner Überraschung hatte es etwas ungemein Befreiendes, in einem Raum voller leerer Sitze zu singen. Paxton gab das Tempo vor, und wir passten uns an. Jesse sah ich nur dann am Keyboard stehen, wenn ich den Kopf zu ihm drehte. Mason und Kan
e nahm ich lediglich aus dem Augenwinkel wahr. Es war beinahe so, als wäre ich völlig allein. Und so konnte ich meine anfänglichen Hemmungen schnell überwinden und mehr von mir in den Song legen.
Als wir zu dem Part kamen, an dem Mason während des Auftritts eine Rap-Einlage gebracht hatte, gerieten wir aus dem Takt. Gitarre und Bass spielten ohne den Part weiter, aber Jesse schien fest damit gerechnet zu haben. Nach einigen chaotischen Sekunden unterbrach Mason uns.
»Ah, verdammt.« Jesse rieb sich über den Hinterkopf, ein entschuldigendes Lächeln auf den Lippen. »Wir spielen es ohne den Teil? Ich war mir sicher, dass der drinnen bleibt.«
»Wir können ihn reinnehmen.« Unschlüssig sah Mason von seinem Bandkollegen zu mir.
Ich zuckte mit den Schultern. Einerseits war es mir tatsächlich egal, da es kaum etwas an meinem Part änderte. Andererseits erinnerte ich mich nur zu gut an diesen Moment. Daran, wie Mason uns alle in seinen Bann gezogen hatte. Wie er mir auf der Bühne näher gekommen war … Wie er meinen Blick festgehalten hatte … Ein, zwei Sekunden lang hatte ich genau wie alle anderen den Atem angehalten, als die Musik stoppte … Dann hatte Paxton am Schlagzeug losgelegt, und wir hatten den Refrain gesungen.
»Okay, lassen wir ihn erstmal raus«, entschied Mason. »Das ist jetzt ja sowieso nur zum Einstimmen. Wenn wir für einen Auftritt proben, kann er wieder mit rein.«
Ich nickte und unterdrückte das kleine Fünkchen Enttäuschung in mir.
»Noch mal von vorne!«, rief Mason.
Paxton zählte an, dann legten wir erneut los. Diesmal brachten wir den Song zu Ende. Wir übten ihn noch zweimal, um uns aufeinander einzustimmen. Oder vielmehr, um mich an die Band zu gewöhnen und andersherum, denn die Jungs waren bereits ein eingespieltes Team. Es klappte überraschend gut. Vielleicht, weil ich schon mal mit ihnen gesungen hatte. Vielleicht aber auch, weil sie es mir leicht machten, mich in die Band einzufinden und ein Gefühl für die Songs, die Instrumente, aber vor allem für die Jungs und ihre Spielweise zu entwickeln.