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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

Page 8

by Bianca Iosivoni


  Ich hatte am Wochenende keinen Tropfen angerührt. Vor dem Auftritt sowieso nicht, und danach war ich wie immer schon so aufgeputscht gewesen, dass jedes bisschen Alkohol dieselbe Wirkung gehabt hätte, als würde man Öl ins Feuer gießen. Obwohl ich mir Samstagabend fast in die Hosen gemacht hätte, da das erst unser zweiter Auftritt mit mir als Leadstimme gewesen war, hatte alles geklappt. Die Jungs und ich kannten uns gut genug, um eine stabile Performance abzuliefern, aber ich spürte selbst jetzt noch das Kratzen in meinem Hals, weil ich es nicht gewöhnt war, so viel zu singen. Vielleicht hatten die Flüche und Beleidigungen, die ich unseren Gegnern vorhin beim Zocken an den Kopf geworfen hatte, auch etwas damit zu tun. Spielte aber keine Rolle, denn jetzt hatten wir endlich unsere Sängerin. Zumindest hoffte ich das.

  Grace schien sich wohlgefühlt und den Auftritt genossen zu haben, aber irgendwie zweifelte ich noch daran, dass sie wirklich in die Band wollte. Ja, sie hatte es gesagt, aber manche Frauen sagten viel und taten nur einen Teil von dem, was sie versprochen hatten. Schon mehrfach erlebt. Meine Mom war die beste, tollste, liebevollste Mutter, die man sich wünschen konnte, aber sie mutete sich ständig zu viel zu und gab Versprechungen, die sie nicht einhalten konnte, weil sie niemanden verletzen wollte. Und Jenny … Jenny war eine ganz eigene Geschichte. Ich glaubte ihr, dass sie es wollte. Dass sie uns wollte. Aber ihr Freiheitsdrang grenzte manchmal schon fast an Angst, auch wenn ich nicht begriff, wovor sie sich fürchtete. Davor, etwas verpassen zu können? Davor, sich nicht austoben und die Dinge tun zu können, die sie wollte? Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich erst Taten sehen musste, bevor ich Grace, die ich im Grunde kaum kannte, tatsächlich glaubte, dass sie ein Teil dieser Band sein wollte.

  »Erde an Mason.«

  Jemand schnippte vor meinem Gesicht herum. Ich starrte auf schwarz lackierte Fingernägel und dann geradewegs in Tates dunkel umrandete Augen. Sie hatte die Stirn gefurcht und den Kopf fragend schief gelegt.

  »Unser Essen ist da.«

  Oh. Ich sah von ihr zu den übervollen Tabletts und den Scheinen, die bereits dort lagen. Verdammt, wie viel fehlte noch? Ich hatte nicht aufgepasst, griff jetzt aber nach meinem Geldbeutel und legte einen Fünfziger dazu. Nur zur Sicherheit.

  Dylan schnappte sich eines der Tabletts und ging schon vor, während ich noch auf mein Wechselgeld wartete.

  Tate räusperte sich neben mir. »Es ist fast schon unheimlich, wie still du heute Abend bist. Bist du etwa immer noch sauer wegen dem bescheuerten Spiel?«

  »Das ist kein bescheuertes Spiel«, knurrte ich. »Es ist ein Kampf ums Überleben. Nur die Besten und Stärksten gewinnen.«

  Sie rollte mit den Augen. »Wenn ich mich nicht eingemischt hätte, würden du und Luke immer noch vor der Kiste hocken und auf irgendwelche fiktiven Gegner ballern.«

  Diesmal verdrehte ich die Augen. »Das sind keine fiktiven Gegner, du Schlauberger, sondern echte Leute wie du und ich. Und sollte mir dieser Kerl eines Tages mal persönlich über den Weg laufen, dann werde ich ihn …«

  »Dein Wechselgeld.« Der junge Typ hinter dem Tresen hielt es mir hin.

  Ich blinzelte verwirrt, steckte es automatisch ein und kehrte mit Tate zu unseren Freunden zurück.

  »Dann ist ja gut, dass ich dich von einem Mord abgehalten habe«, kommentierte Tate, bevor sie sich auf der gepolsterten roten Bank neben Elle niederließ.

  Ich schnaubte nur und setzte mich auf die andere Seite des Tisches zu Trevor und Dylan. Wir schütteten die Pommes zu einem großen Haufen in der Mitte des Tisches zusammen, da sowieso jeder bei jedem klauen würde – allen voran Luke bei Elle. Das hatte bei den beiden fast schon Tradition, genau wie die regelmäßigen Streiche zwischen meiner lieben Mitbewohnerin Emery und meinem besten Kumpel Dylan. Wenn man so wollte, hatte ich die beiden zusammengebracht, auch wenn mich das eine angeknackste Nase gekostet hatte. Und einen derben Anschiss von Elle wegen dieses Deals, den ich damals mit Dylan gehabt hatte. Dabei war das wirklich keine große Sache gewesen. Nur ein bisschen Kohle dafür, dass er sich um Emery kümmerte und sie mir vom Hals hielt, indem er sie vom Wohnheim weglockte, wenn Jenny da war.

  Bei diesem Gedanken zog ich mein Handy hervor. Immer noch keine neuen Nachrichten. Verdammt. Wann würde ich endlich aufhören, darauf zu warten, dass sie sich bei mir meldete?

  Nie, antwortete eine leise Stimme in meinem Hinterkopf. Also konnte ich genauso gut auch alle paar Stunden mal nachschauen. Oder auch alle paar Minuten.

  Während ich meinen Burger auspackte, ließ ich meinen Blick über unsere Gruppe wandern. Heute war es überschaubar, da nur der harte Kern hier war. Neben Elles und Tates Mitbewohnerin Mackenzie und ihrer Freundin Desiree, die uns manchmal begleiteten, fehlte heute auch …

  »Ist Grace gar nicht dabei?«, fragte ich in die Runde, bevor ich darüber nachdenken konnte.

  Emery, die am anderen Ende des Tisches saß und sich die Backen mit Burger vollgestopft hatte, schüttelte den Kopf. »Schisch minemiel unnegs.«

  Ich hielt im Kauen inne. »Was?«

  Sie schluckte, trank einen Schluck und antwortete dann für alle verständlich: »Sie ist mit Daniel und ein paar Leuten unterwegs.«

  »Daniel?«

  Sie biss erneut ab. »Ihr Freund«, nuschelte sie.

  Ich runzelte die Stirn. Stimmt, da war ja was gewesen. Ich kannte den Typ nicht persönlich, hatte keinen Schimmer, was er studierte, und hatte ihn nur ein, zwei Mal zusammen mit Grace gesehen. Abgesehen davon wusste ich nur, dass er Sportler war und seinen Arm immer besitzergreifend um sie schlang – ganz besonders, wenn er dachte, dass andere Kerle Notiz von ihr nahmen.

  Eine Serviette traf mich am Kopf. Als ich aufsah, grinste Luke mich an.

  »Dafür, dass sie jetzt eure neue Sängerin ist, weißt du erstaunlich wenig über sie.«

  »Sie ist seit gestern in der Band.« Ich zuckte mit den Schultern. »Das macht uns nicht gleich zu BFFs.«

  Abgesehen davon war ich zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt – und Grace Watkins war nicht gerade ein offenes Buch. Ich wusste immer noch nicht, warum sie überhaupt zugesagt hatte, bei uns zu singen. Oder warum sie sich das Bootcamp-Training antat. Freiwillig.

  »Ich kann ihr gerne texten, dass du sie vermisst«, bot Emery mit einem scheinheiligen Lächeln an.

  Ich warf eine der dünnen Gurkenscheiben nach ihr, die ich aus meinem Burger gepult hatte.

  »Hey!«, rief sie gespielt entrüstet, dabei wussten wir doch beide, dass sie sich sofort auf die ekligen Dinger gestürzt hätte, wenn sie neben mir sitzen würde. Und ich überließ sie ihr jedes Mal liebend gerne.

  Doch jetzt türmten sich die grünen Scheiben nur auf dem Verpackungspapier vor mir. Nachdem ich meinen Burger von dem Zeug befreit hatte, biss ich rein.

  Die Gespräche am Tisch wechselten von Grace und der Band zu unserem Auftritt an Elles Geburtstag, dann dazu, was wir am Labor Day unternehmen wollten. Eine hitzige Diskussion entbrannte darüber, ob wir wie jedes Jahr wieder zelten gehen würden oder diesmal etwas anderes unternehmen wollten. Tate grinste über irgendetwas, das Dylan ihr zurief, Elle hielt ihren Burger in der einen und ihr Smartphone in der anderen Hand, weil sie gleich losrecherchierte, Trevor beobachtete das Treiben wie so oft schweigend, und Luke zog Emery mit irgendetwas auf, das sie knallrot anlaufen ließ. Verdammt. Und das hatte ich verpasst? Dabei nahm ich doch liebend gern jedes bisschen Munition in die Hand, das es gegen meine Mitbewohnerin gab.

  »Ihr könntet alle nach Montana kommen«, schlug Emery vor. »Dylan war begeistert, als er an Thanksgiving da war. Und jetzt in den Semesterferien. Nicht wahr?«

  Alle Blicke richteten sich auf Dylan. »Was?«, entgegnete er defensiv und lächelte Emery dann wie der liebevolle Freund an, der er war. Alles andere hätte ihm sicher auch einen Fußtritt von ihr unterm Tisch eingebracht. »Es ist schön da. Es gibt Berge.«

  »Berge, na klar«, murmelte ich und schob mir den letzten Happen in den Mund.

  »Oder wir machen einen Roadtrip«, warf Luke ein. »Ohne festes Ziel, wi
r fahren einfach drauflos.«

  Tate gab ein Geräusch von sich, das stark nach einem Erstickungsanfall klang. »Ich liebe euch, Leute, aber wenn ich mehrere Tage lang mit euch in einer Blechbüchse gefangen bin, werde ich als Einzige lebend zurückkommen.«

  »Welches Auto nennst du hier eine Blechbüchse?«, protestierte Luke.

  Grinsend packte ich meinen zweiten Burger aus. »Das war das Netteste, was du je zu uns gesagt hast, Tate.«

  Sie warf mir eine übertriebene Kusshand zu – und zeigte mir dann den Mittelfinger. Jepp, das war Tate, wie wir sie alle kannten und liebten.

  Luke machte einen weiteren Vorschlag, genau wie Elle, die ein paar Zeilen von ihrem Smartphone ablas. Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als ich ein Leuchten aus dem Augenwinkel wahrnahm. Das Display meines Handys blinkte mit einer neuen Nachricht auf, dann erlosch es wieder.

  Mein Herz begann zu hämmern. Völlig lächerlich. Wahrscheinlich war es nur einer der Jungs wegen der nächsten Bandprobe oder jemand aus einer der Gruppenarbeiten, die man uns schon in der ersten Semesterwoche aufgezwungen hatte. Gruppenarbeiten waren schon stressig genug, aber dann auch noch eine Chatgruppe dazu? Die Hölle. Trotzdem wischte ich mir jetzt hastig die fettigen Finger an einer Serviette ab und griff nach meinem Handy.

  Keine Nachricht von Pax, Jesse oder Kane. Keine aus der Seminargruppe. Die einzige neue Nachricht war von Jenny.

  Können wir uns sehen?

  Darauf hatte ich seit mehr als drei Wochen gewartet. Seit Jenny ohne Vorwarnung beschlossen hatte, dass es wieder mal Zeit für eine kleine Pause zwischen uns war und sie mit zwei Freundinnen für ein paar Tage an die Ostküste gefahren war. Seither hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht wäre es klüger, sie warten zu lassen, damit sie wusste, dass ich nicht jedes Mal sofort angerannt kam, wenn sie sich meldete. Bis morgen wäre akzeptabel. Oder auch nur ein, zwei Stunden. Okay, vielleicht auch nur ein paar Minuten.

  Meine Finger flogen über den Bildschirm, bevor ich überhaupt realisierte, was ich da tat.

  »Hey, Maze!«, rief Luke.

  Ich hob kurz den Kopf, bevor die nächste Serviette in meine Richtung flog. »Hm?«

  »Bist du dabei?«

  »Wobei?«, fragte ich abgelenkt und schickte die Antwort an Jenny ab. Sie bestand aus zwei wohlüberlegten Fragen, an deren Formulierung ich lange gefeilt hatte: Wann? Wo?

  Ja, gut, ich war beim Texten nicht der Romantischste. Ich schickte keine Trillionen Emojis und Memes, wie Luke es so gern machte, und schrieb auch keine ewig langen Texte wie Dylan. Obwohl ich nach wie vor davon überzeugt war, dass er sie im Auto diktierte, statt sie tatsächlich zu tippen. Ich sparte mir die Romantik und guten Texte lieber für die Songs auf, an denen ich arbeitete. Songs, die immer noch nicht fertig waren, obwohl ich Tate schon im letzten Semester danach gefragt hatte, ob sie meine Musik während ihrer Sendung beim Campusradio spielen würde. Das würde sie. Nur hatte ich ihr bis heute nichts geliefert.

  »Ins Schwimmbad einbrechen, danach raus aufs Feld fahren, nackt ums Lagerfeuer tanzen und zum Sonnengott beten«, kam es von Luke.

  Im selben Moment leuchtete mein Smartphone mit einer neuen Nachricht auf: Jetzt. Bei dir?

  »Klar, bin dabei«, murmelte ich, ohne aufzusehen und stand auf. »Ich muss los. Bis später, Leute.«

  Luke rief mir etwas nach, aber ich hörte ihm nicht mehr zu. Die anderen würden alle in Lukes Auto passen, um nach Hause zu kommen. Zur Not konnte man auch laufen, denn der Campus war nicht allzu weit entfernt, also musste ich mir um meine Freunde keine Sorgen machen. Jetzt zählte nur noch das Treffen mit Jenny. Das Wiedersehen, auf das ich so lange gewartet hatte.

  Sie wartete vor dem Wohnheim auf mich. Obwohl es alles andere als kalt war, trug Jenny eine dünne Jacke, weil sie selbst im Sommer ständig fror. Sie bemerkte mich nicht sofort, sondern hatte ihr Smartphone in den Händen, starrte darauf hinab, als würde sie auf eine Antwort von mir warten, und nagte an ihrer Unterlippe. Ich beschleunigte meine Schritte.

  Die Sonne ging gerade unter, und die letzten Strahlen tauchten ihre schlanke Gestalt in ein weiches Licht, das ihrem braunen Haar einen bronzefarbenen Schimmer verlieh. Als sie den Kopf hob, trafen sich unsere Blicke – und ihre Mundwinkel hoben sich.

  Der Sommer war auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen. Ihre Haut war gebräunt, das lange Haar etwas heller als den Rest des Jahres über. Und wenn ich ganz genau hinschaute, würde ich die vielen kleinen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken erkennen können, die sie so hasste, ich aber einfach nur niedlich fand. Unter der dünnen Jeansjacke trug sie ein Sommerkleid und hohe Sandalen, die sie fast so groß machten wie mich.

  »Hi«, begrüßte sie mich und klang so atemlos, wie ich mich fühlte.

  Und das, obwohl ich nur die paar Schritte vom Parkplatz zum Eingang gelaufen war. Trotzdem raste mein Puls und es fiel mir schwer, überhaupt irgendwelche Worte zu formen. Dabei kannte ich Jenny doch schon seit Jahren. Wir waren zusammen zur Schule gegangen, erst zur Junior High, dann gemeinsam zur Highschool. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie sie mir schon am ersten Tag an ihrem Spind im Schulflur aufgefallen war, ich aber über ein Jahr gebraucht hatte, um den Mut zu finden und sie anzusprechen. Dylan und Luke waren nicht ganz unschuldig daran gewesen. Und als ich schließlich mit ihr geredet hatte und wir auf unser erstes Date gingen, erfuhr ich, dass es ihr die ganze Zeit über mit mir genauso gegangen war. Sie hatte mich von Anfang an bemerkt, war aber zu schüchtern gewesen, sich mir zu nähern. Seither waren wir unzertrennlich. Oder waren es gewesen. Bis zu unserem Abschluss.

  »Hey …« Ich blieb vor ihr stehen, wagte es aber nicht, sie zu berühren. Stattdessen schob ich die Hände in meine Hosentaschen und wippte auf den Fußballen auf und ab. »Was für ein Zufall, dich hier zu treffen.«

  Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht und ließ ihre hellbraunen Augen strahlen.

  »Willst du mit nach oben?«

  Sie folgte meinem knappen Nicken in Richtung meines Wohnheims mit ihrem Blick, bevor sie mich wieder ansah. »Sind wir allein?«

  Ich nickte. »Emery ist noch mit den anderen unterwegs, und unseren neuen Mitbewohner habe ich bis auf einmal morgens auf dem Weg ins Bad noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Ich glaube, der kommt nur zum Schlafen her. Und sonntags ist er bei irgendeinem Training. Schach oder so. Vor Mitternacht ist er nie zurück.«

  »Okay.«

  Ich öffnete die Glastür für sie und ließ sie zuerst hineingehen. Es tat gut, ihr nichts mehr vormachen zu müssen, was meine Mitbewohner anging. Wobei von müssen gar nicht die Rede sein konnte. Im ersten Semester hatte ich mir das selbst eingebrockt. Bis kurz vor Beginn der Vorlesungen war ich fest davon ausgegangen, mit meinem besten Kumpel Dylan zusammen in ein Zimmer zu ziehen, doch dann war seine Ersatzgroßmutter ins Heim gekommen, und Dylan hatte ihre Katze bei sich aufgenommen. Ich hatte nichts gegen Katzen, ich hatte nur etwas dagegen, dass sie mich mit jedem Atemzug ein bisschen mehr töteten, weil ich allergisch gegen die Viecher war. Also hatten wir unsere Pläne kurz vor Semesterbeginn ändern müssen. Dylan war zu ein paar komischen Kerlen in eine WG gekommen, ich hatte unser Zimmer behalten und Emery Lance als Mitbewohnerin zugeteilt bekommen. Ein Mädchen.

  Zu der Zeit hatte es zwischen Jenny und mir gekriselt, und ich war mir sicher gewesen, dass sie kein Wort mehr mit mir reden würde, wenn sie herausfände, dass ich mir das Zimmer mit einem Mädchen teilte. Also hatte ich alles darangesetzt, es vor ihr geheim zu halten. Ich war sogar so weit gegangen, Dylan dafür zu bezahlen, dass er Emery vom Wohnheim fernhielt, und hatte ihre Sachen versteckt, wann immer Jenny zu Besuch kam. Nicht mein bestes Verhalten. Doch inzwischen wusste Jenny Bescheid und hatte es akzeptiert. Gut möglich, dass die Tatsache, dass Emery und ich uns kein Zimmer mehr, sondern mittlerweile eine ganze Wohnung teilten, in der jeder seinen eigenen Rückzugsort hatte, auch etwas damit zu tun hatte.

  Schweigen breitete sich zwischen uns aus, während wir zusammen mit ein paar Kerlen, die ich nur vom Sehen kannte, den Aufzug nach oben nahmen. Aber zum ersten Mal s
eit einer gefühlten Ewigkeit schien es kein angespanntes Schweigen zu sein. Jenny sah immer wieder zu mir herüber, biss sich auf die Unterlippe und kämpfte gegen ihr Lächeln an. Ich hingegen kämpfte gegen den Drang an, die Hand nach ihr auszustrecken und meine Finger mit ihren zu verschränken. Schon seltsam, welche Kleinigkeiten einem plötzlich fehlten, wenn eine gewisse Person nicht mehr da war.

  Im richtigen Stockwerk angekommen, ging ich voraus und öffnete die Tür, dann ließ ich Jenny eintreten.

  Unsere WG war nicht besonders groß und genauso geschnitten wie die meisten anderen in diesem Gebäude. Jenny lebte nicht im Wohnheim, sondern teilte sich eine Wohnung mit drei Freundinnen in Campusnähe. Die Miete war heftig, aber sie hatten eindeutig mehr Platz als wir. Und auch mehr Privatsphäre. Die Wände in diesem Haus waren so dünn, dass ich mehr als einmal unfreiwillig mitbekommen hatte, was meine Mitbewohner neben und über mir nachts so trieben. In solchen Momenten war Musik die einzige Möglichkeit, um überhaupt ein Auge zuzukriegen.

  »Wie war’s an der Ostküste?«, fragte ich und warf die Schlüsselkarte auf die Kochinsel. »Washington, richtig?«

  Mitten im Wohnzimmer drehte Jenny sich zu mir um. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und ihr Lächeln verblasste etwas, aber sie nickte. »Genau. Es war … okay, denke ich?« Der fragende, fast schon unsichere Tonfall war nicht zu überhören. »Du hast mir gefehlt.«

  Scheiße. Sie hatte mir auch gefehlt. So sehr, dass ich gar nicht mehr wusste, wieso wir das zwischen uns beendet hatten. Nein, nicht beendet, sondern pausiert. Wie wenn man bei seinem Lieblingssong auf Pause drückte. Aber egal, wie viel Zeit verging und wie viele andere Lieder man zwischendurch hörte, man wusste mit absoluter Gewissheit, dass man diesen einen Song wieder anhören würde, weil man gar nicht ohne ihn leben konnte. Mit Jenny und mir war es genauso. Es gab Pausen, Unterbrechungen, andere Leute, Funkstille, aber kein Ende. Weil wir jedes Mal wieder zueinander zurückkehrten. So war es schon immer gewesen – und würde hoffentlich auch immer so bleiben. Ich konnte mir ein Leben ohne dieses Mädchen nicht vorstellen. Und ich wusste, dass es ihr genauso ging. Pausen hin oder her. Wir gehörten zusammen. Ganz egal, was alle anderen dazu sagten.

 

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