Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)
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Innerlich? Eher weniger.
Keine Panik. Tief durchatmen. Ich bekam das hin. Es war nur ein Auftritt. Nur eine weitere Bühne – und ich hatte inzwischen schon auf so vielen gestanden, dass mich eine weitere nicht in Angst und Schrecken versetzen sollte. Außerdem war ich nicht allein. Gut, ich übernahm die Hauptstimme, aber ich stand nicht ganz allein vor all diesen Menschen, sondern zusammen mit Mason, Jesse, Pax und Kane. Oh Gott, vor wie vielen Menschen spielten wir eigentlich? Hatten die Jungs mir das verschwiegen oder hatte ich nicht mal nachgefragt? Vielleicht sollte ich es googeln, nur um mich mental darauf einstellen zu können. Aber was, wenn es Tausende wären? Ich konnte unmöglich vor Tausenden von Leuten singen. Und wenn nur zehn kamen? Wie traurig wäre das denn bitte?
Ein Schrillen riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen. Meine Schwester hatte mir schon viel Glück für den Auftritt gewünscht, genauso wie ihr Freund Jared. Myung-hee würde bei dem Konzert in vorderster Reihe mit dabei sein, genau wie Emery, Elle und der Rest der Truppe. Wer könnte mich also ausgerechnet jetzt anrufen?
Ich starrte auf das Display meines Smartphones und schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte nicht sein. Nicht ausgerechnet jetzt … Obwohl ich wusste, dass es so viel klüger wäre, den Anruf zu ignorieren und später oder sogar erst morgen zurückzurufen, ging ich ran und hielt mir das Handy ans Ohr. Es war wie ein innerer Zwang. Ich konnte einfach nicht anders.
»Hallo, Mom.«
»Grace, Liebes. Ich konnte deine Schwester nicht erreichen, aber mit dir habe ich ja auch schon eine Weile nicht mehr gesprochen. Wie geht es dir?«
Ich stehe kurz vor einer mittleren Panikattacke, aber sonst ist alles prima.
Natürlich sprach ich diese Worte nicht aus, sondern atmete tief ein, langsam wieder aus und antwortete dann mit einem möglichst nonchalanten: »Gut, danke.« Ich sah kurz auf meine Armbanduhr und biss mir auf die Lippen. »Mom, ist es wichtig? Eigentlich muss ich gleich los und …«
Ein ersticktes Geräusch unterbrach mich. »Natürlich ist es wichtig, junge Dame. Sonst hätte ich nicht angerufen. Und wo musst du überhaupt hin?«
Ich sollte es ihr nicht sagen. Ich sollte mir irgendeine Ausrede einfallen lassen, um sie loszuwerden. Irgendeine Notlüge, um ihr nicht die Wahrheit erzählen zu müssen. Aber ich war noch nie besonders gut darin gewesen, mich gegen Mom aufzulehnen. Dafür war der Drang, wenigstens ein einziges Mal von ihr für etwas gelobt zu werden, noch immer zu stark.
»Auf die Bühne. Da ist ein Konzert und …«
»Ein Konzert?«, unterbrach sie mich schnippisch. »Oh, bitte sag mir nicht, dass du gleich einen Auftritt hast. Hatten wir das Thema nicht schon? Nach dem Desaster bei der Misswahl sollte uns doch inzwischen allen klar sein, dass du weder das Talent noch die Ausstrahlung für derartige Auftritte hast. Schon gar nicht, wenn du es allein angehst. Du kannst von Glück reden, dass sie uns aufgrund deiner Blamage nicht aus dem Country Club geworfen haben!«
Ich kniff die Augen zusammen, weil sie brannten und ich auf keinen Fall das Make-up zerstören wollte, an dem Myung-hee so lange gearbeitet hatte. »Mom …«
»Aber habe ich etwas gesagt? Nein. Ich habe dir sogar dieses Studium durchgehen lassen, weil dein Vater es so wollte. Er hat seinen kleinen Mädchen noch nie etwas abschlagen können. Und wie dankst du es ihm? Wie dankst du es mir?« Sie seufzte tief. »Indem du irgendeinen Auftritt hast, ohne das mit mir abzusprechen, obwohl die Miss-Winternight-Wahl kurz bevorsteht? Willst du dich und unsere ganze Familie etwa noch mal blamieren? War ein Mal etwa nicht genug, Grace? Warum musst du immer noch eins draufsetzen? Warum musst du dich ständig in den Mittelpunkt drängen?«
Ich schluckte die Bitterkeit hinunter, die sich in mir breitgemacht hatte und zwang mich dazu, tief durchzuatmen. »Bist du jetzt fertig?«
»Fertig womit? Ach, Schätzchen, jetzt hab dich doch nicht so. Du kannst froh sein, eine Mutter zu haben, die dir die Wahrheit sagt. Was für ein schlechter Mensch wäre ich, wenn ich zulassen würde, dass du dich ein weiteres Mal öffentlich blamierst? Aber mit der Misswahl im Dezember kriegen wir das alles wieder hin. Du wirst schon sehen. Wir stellen deinen guten Ruf wieder her und dann …«
Ein Klopfen an meiner Tür. Oh Gott. Das war die Rettung.
»Mom, ich muss Schluss machen. Danke für den Anruf!« Ich legte auf, bevor sie etwas darauf erwidern konnte, wohl wissend, dass sie mir das nicht so schnell verzeihen würde.
Ein letztes Mal überprüfte ich mein Äußeres im Spiegel, dann schnappte ich mir meine Handtasche und hastete zur Tür.
»Kann’s losgehen?«, fragte Jesse, bei dem ich heute mitfahren würde.
Ich nickte erleichtert. »Nichts wie weg hier.«
Mason
»Wo zum Teufel steckt Grace?«, rief Pax.
Wir hatten den Soundcheck erfolgreich hinter uns gebracht und noch etwas Zeit, bevor wir auf die Bühne mussten. Aber schon beim Soundcheck schien unsere Frontfrau mit den Gedanken woanders gewesen zu sein, und jetzt war weit und breit nichts von ihr zu sehen. Ich war ihr nach unserem kleinen Streit am Montagmorgen zwar aus dem Weg gegangen, aber ich wollte sicher nicht, dass sie ganz verschwand. Nicht aus meinem Leben und schon gar nicht so kurz vor einem wichtigen Gig.
Auch die anderen schauten sich jetzt nach ihr um. Wir waren hinter der Bühne und bereiteten uns auf den Auftritt als Vorband vor, während das Publikum reingelassen wurde. Es war ein Open-Air-Konzert zum Ende des Sommers. Die Hauptgruppe war aus der Stadt, und ich kannte den Sänger schon seit einigen Jahren, weil wir in derselben Nachbarschaft aufgewachsen und beide schon immer musikverrückt gewesen waren. Er hatte uns nicht nur diese Chance als Vorband verschafft, sondern mich auch auf den Wettbewerb seines Plattenlabels aufmerksam gemacht. Vieles hing davon ab, wie wir heute performten, auch wenn wir keine neuen Songs spielten, sondern erst mal nur bei Covern blieben. Selbst mit Grace’ Hilfe bei den Lyrics vor zwei Wochen waren meine eigenen Lieder alles Mögliche, aber definitiv noch nicht fertig. Dazu bedurfte es noch ein wenig Zeit. Ich konnte nur hoffen, dass ich es rechtzeitig zum Wettbewerb schaffte, damit wir wenigstens einen Originalsong performen konnten.
Falls wir überhaupt so weit kamen. Denn ohne Frontfrau standen unsere Chancen schon jetzt ziemlich schlecht.
»Scheiße, sie war doch eben noch da. Wenn sie nicht wieder auftaucht …«, murmelte Jesse und rieb sich über die Stoppeln an seinem Kinn, die einen Dreitagebart darstellen sollten, in Wirklichkeit aber kein bisschen gegen sein jungenhaftes Image halfen.
»Wird sie«, behauptete ich fest. »Wartet hier. Ich finde sie.«
Ich ließ ihnen keine Chance, etwas darauf zu erwidern, sondern machte auf dem Absatz kehrt und begann mit der Suche nach unserer Sängerin. Ich wusste ja, dass sie Auftritte nicht besonders mochte und mit Lampenfieber zu kämpfen hatte, aber sie würde nicht so weit gehen und uns alle ohne ein Wort im Stich lassen. Oder?
Zur Sicherheit schickte ich Emery eine Nachricht, damit sie mir Bescheid gab, falls sie Grace sah, dann suchte ich den Bereich hinter der Bühne ab. Nichts. Keine Grace. Ich trat ins Freie, atmete die warme Abendluft ein und machte mich auf den Weg zu den Toiletten, doch auch hier war nichts von ihr zu sehen. Verdammt, wo um alles in der Welt steckte sie?
Ich zog mein Handy hervor, bereit, sie anzurufen und ihr die Hölle wie bei unseren morgendlichen Trainingsstunden heiß zu machen, wenn es sein musste – aber das war gar nicht nötig. Denn im selben Moment, in dem sich die Stimme der Mailbox meldete, entdeckte ich sie.
Sie saß nicht weit von den Toiletten zwischen zwei Autos auf dem Boden, die Knie an die Brust gezogen, die Finger in den Haaren vergraben. Jeder Gedanke daran, ihr die Meinung zu sagen, löste sich in Luft auf und wurde von etwas ersetzt, das ich zuerst nicht benennen konnte. Sorge. Angst. Und der plötzliche Drang, sie vor allem zu beschützen, das ihr wehtat und sie in diese Lage gebracht hatte.
»Grace?«
Sie reagierte nicht, schien völlig erstarrt und ganz in ihrer eigenen Welt gefangen zu sein.
Ich steckte das Sm
artphone weg und ging vor ihr in die Hocke. »Hey …« Vorsichtig löste ich ihre Hände und nahm sie in meine. Ihre Haut war kalt, feucht und ihre Finger zitterten leicht. »Sieh mich an.«
Nichts.
»Grace?« Einem Impuls folgend hauchte ich einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. Erst an ihrer linken, dann an ihrer rechten Hand. Und endlich – endlich! – hob sie den Kopf.
Ich bemühte mich, keine Reaktion zu zeigen. Nicht auf ihr blasses Gesicht und ihre blutleeren Lippen, aber vor allem nicht auf die schwarzen Spuren rund um ihre Augen, die deutlicher als jedes Wort machten, was gerade in ihr vorging. Ein, zwei Sekunden lang schien sie durch mich hindurchzusehen, blinzelte dann jedoch und fixierte mich.
»Ich kann das nicht.« Ihre Stimme war kaum zu hören. »Ich hab’s versucht und ich dachte, es funktioniert. Aber ich kann das einfach nicht!«
Behutsam drückte ich ihre Hände. »Ein Wort von dir und wir sagen den Auftritt ab.«
Keine Zweifel. Kein Zögern. Die Worte sprudelten einfach aus mir heraus, aber ich würde sie nicht zurücknehmen. Weil ich sie genau so meinte. Den Auftritt abzusagen wäre zwar ein herber Rückschlag für uns, da das unser erster Gig als Vorgruppe einer größeren, bekannteren Band war und noch dazu womöglich das Ticket für den Wettbewerb, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich es tun würde. Ich würde alles dafür tun, um diesen panischen, verlorenen Ausdruck aus Grace’ Augen zu vertreiben.
Sie schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht machen. Das wäre … nein. Wir haben so viel dafür geprobt. Die anderen zählen auf uns.«
»Ich weiß«, erwiderte ich leise und ließ mich neben sie sinken. Seufzend lehnte ich mich gegen den fremden Wagen, zog das Angebot jedoch nicht zurück. Die Entscheidung darüber, wie dieser Abend weitergehen würde, hing ganz allein von Grace ab. »Wovor hast du solche Angst?«
Sie starrte mich von der Seite an und ich drehte den Kopf zu ihr, um ihren Blick zu erwidern. Eine Sekunde lang. Zwei. Drei. Vier. Wären ihre Augen nicht vom Weinen gerötet gewesen, hätte ich sofort alles andere vergessen können. Das Konzert. Die Menschen da draußen, die nur darauf warteten, dass wir auf die Bühne kamen. Den Trubel um uns herum, denn selbst wenn wir ein ruhiges Plätzchen gefunden hatten, wuselten ganz in der Nähe noch immer Techniker und Leute aus dem Organisationsteam herum. Glücklicherweise nahmen sie keine Notiz von uns.
»Ich …« Sie zögerte, befeuchtete sich die Lippen, dann versuchte sie es erneut. »Als ich noch zu Hause war, hat meine Mutter mich ständig zu irgendwelchen Schönheitswettbewerben geschleppt. Nein, das stimmt so nicht.« Ein zittriges Lächeln. Als sie weitersprach, hielt sie den Blick gesenkt. »Meine Schwester hat sie immer zu all diesen Veranstaltungen geschleppt. Mich hat sie ignoriert. Seit ich denken kann, hat sie all ihre Hoffnungen in meine große Schwester gesteckt. Und sie war so unglaublich stolz auf sie. Ich konnte nie mit Gillian konkurrieren, ganz egal, wie sehr ich es versucht habe. Wie sehr ich mich bemüht habe, die perfekte Tochter zu sein. Ich habe es nie geschafft. Dann ist Gillian ausgezogen und aufs College gegangen. Und auf einmal hat Mom mich gesehen. Richtig gesehen. Und plötzlich stand ich im Mittelpunkt. Sie hat mich für die ganzen Wettbewerbe angemeldet, mir jede Woche einen neuen Ernährungs- und Sportplan erstellt, ist mit mir einkaufen gefahren, zum Friseur, zur Maniküre und all das. Und ich war … glücklich. Irgendwie. Ich wollte ihr gefallen und dass sie ein einziges Mal auch auf mich stolz ist, statt mich immer nur mit Gillian zu vergleichen. Und es hat geklappt.« Sie stieß ein ersticktes Lachen aus, aber es klang nicht glücklich. »Es hat so gut geklappt, dass ich nicht nur den Wettbewerb in unserer Heimatstadt, sondern auch den zur Miss Montana gewonnen habe. Und als es darum ging, bei der nächsten großen Misswahl im landesweiten Fernsehen aufzutreten und auf der Bühne zu performen, habe ich mich fürs Singen entschieden.«
Ein kaltes Gefühl begann sich in mir auszubreiten, weil ich bereits ahnte, wie diese Geschichte enden würde. Aber ich unterbrach sie nicht, sondern ließ sie weitererzählen.
»Mom hat mir davon abgeraten. Deine Stimme passt nicht zu diesem Lied, Grace. Deine Ausstrahlung ist nicht stark genug. Das musst du nun wirklich nicht auch noch betonen. Und Stephen, mein damaliger Freund, hat sie unterstützt. Bleib lieber bei dem, was du gut kannst, Süße: perfekt aussehen.« Sie schnaubte und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Sie fanden beide, ich sollte lieber tanzen – das hatte ich ja lange genug geübt. Aber genau das würden auch all die anderen Mädchen machen. Heute weiß ich nicht mal mehr warum, aber … ich glaube ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Meine Mom. Stephen. Die ganzen Leute um mich herum. Sie alle waren so … so gleichförmig. Immer auf der sicheren Seite, bloß nichts tun, was möglicherweise jemandem missfallen könnte. Aber ich wollte wenigstens ein Mal das tun, was ich wollte.«
»Weil dir das Singen so wichtig war?«
Grace schluckte, dann nickte sie. »Ich habe es schon immer geliebt. Auch wenn Mom nie für Unterricht bezahlt hat, habe ich geübt. Jeden Tag. Ich wollte den Leuten etwas von mir zeigen. Etwas, das mich von den anderen Teilnehmerinnen unterscheiden würde. Ich dachte, ich wäre gut genug, aber …« Ihre Stimme zitterte, und erstarb dann völlig.
»Was ist passiert?«, fragte ich, da sie nicht sofort weitersprach.
Als sie mich diesmal ansah, war es, als würde mir jemand ein Messer in die Brust rammen. Tränen klebten an ihren Wimpern, aber sie ließ ihnen keinen freien Lauf, blinzelte nicht einmal. Es schien beinahe so, als würde Grace noch immer kämpfen, obwohl sie schon am Boden war.
»Ich bin auf die Bühne gegangen, vor der ganzen Jury, den Zuschauern, der Presse und … konnte nicht singen. Meine Stimme war einfach weg. Das, wovon andere Sänger Albträume haben, habe ich tatsächlich erlebt. All die Zweifel und alles, was die anderen gesagt haben, war plötzlich wieder da. Ich kannte den Text, ich wusste genau, was ich zu tun hatte, aber ich habe keinen Ton über die Lippen gebracht. Ich habe nicht bloß mich selbst blamiert, sondern auch meine Mom, unsere Familie, die ganze Stadt, nein, den ganzen Bundesstaat, für den ich angetreten bin! Vorher war ich in der Schule so etwas wie die unangefochtene Queen. Ich konnte mir alles erlauben, die Lehrer ließen mir alles durchgehen. Das war danach nicht mehr so. Stephen hat mich fallen lassen, genau wie einige meiner sogenannten Freundinnen. Aber das war nicht mal das Schlimmste. Du erinnerst dich an die Halloweenparty, von der ich dir erzählt habe?«
Ich nickte, auch wenn ich mir nicht mehr sicher war, diese Geschichte bis zum Ende hören zu wollen.
Grace lächelte, aber es war so bitter, so voller Selbstvorwürfe, dass sich alles in mir zusammenzog. »Ich hatte Hausarrest, trotzdem bin ich zu dieser Party gegangen. Und habe Stephen mit einer anderen erwischt. Wir waren schon gar nicht mehr zusammen, aber er konnte es nicht gut sein lassen. Er fing an, mir all meine Fehler aufzuzählen, all die Gründe, warum er nicht mehr mit mir zusammen sein konnte. Und dass er mich deshalb schon seit Monaten betrogen hätte. Und ich? Denkst du, ich habe mich zur Wehr gesetzt? Nein. Ich habe so viel getrunken, dass ich nicht mal mehr richtig stehen konnte, wollte nach Hause fahren und dann … Den Rest kennst du ja.«
Shit. So langsam begann ich, Grace zu verstehen. Aber ich sah nicht nur das, was sie durchgemacht hatte, nicht nur dieses schreckliche Erlebnis auf der Bühne und den Unfall, der ihre Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen hatte. Ich sah ihren Mut. Ihren unerschütterlichen Willen. Trotz allem, was sie durchgemacht hatte, studierte sie etwas, das sie auf die großen Bühnen dieser Welt bringen würde, wenn sie eine professionelle Karriere in Musik oder Theater anstrebte. Trotz allem hatte sie für unsere Band vorgesungen und war letzten Endes sogar unsere Frontsängerin geworden.
»Ich weiß, es ist erbärmlich.« Mit den Fingern wischte sie sich Tränen und Make-up von den Wangen.
Ich schüttelte den Kopf. »Ist es nicht. Ich glaube, du merkst selbst gar nicht, wie stark du bist.«
Sie starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Stark?«
»Du hast all das erlebt, und es hat dich nicht kaputtgemacht, Grace. Du b
ist heute mit uns hier und du wirst es schaffen. Und weißt du auch, warum?«
»Warum …?«
»Weil ich an dich glaube, okay?« Wieder nahm ich ihre Hände in meine und drückte sie sanft. »Du bist da draußen nicht allein. Wir glauben an dich. Aber du musst auch an dich selbst glauben.«
Sie klammerte sich an mir fest. »Was, wenn es wieder passiert? Wenn ich wieder ans Mikrofon trete und keinen Ton herausbringe? Bei den Theaterstücken und Musicals ist es anders«, fügte sie eilig hinzu, als ich schon protestieren wollte. »Da bin ich eine von vielen, spiele nur eine Rolle. Aber als Sängerin? Das ist keine Rolle. Das bin ich. Ohne Maske. Ohne Verstecken.«
»Dann sei du.« Ich stand auf und zog sie mit mir hoch. »Sei das wunderbare, mutige Mädchen, das trotz allem, was es erlebt hat, wieder auf die Bühne geht. Ich kann dir nicht versprechen, dass das, was damals geschehen ist, nie wieder passieren wird. Aber ich kann dir versprechen, dass du nicht allein bist. Wir sind alle bei dir. Und ich weiß, dass wir das zusammen schaffen werden.«
Grace sah mich ungläubig an. »Denkst du das wirklich?«
»Ja.« Ich konnte nicht anders, als zu lächeln, weil sie noch immer an sich zweifelte, obwohl sie absolut keinen Grund dazu hatte. Ihre Stimme war fantastisch, wir hatten unzählige Stunden für diesen Auftritt geübt und waren jeden Ton, jede Bewegung und jede Textstelle miteinander durchgegangen. Selbst als Pax, Kane und Jesse an den letzten beiden Abenden schon Schluss gemacht hatten, waren wir beide noch im PAC geblieben und hatten weitergeprobt. Grace konnte es. Ich wusste es, weil ich sie gesehen und weil ich sie bereits auf der Bühne erlebt hatte. Sie hatte keine so herzliche, einnehmende Ausstrahlung wie Hazel, sondern war geheimnisvoll, ehrlich und verletzlich. Und genau das zog die Leute in Verbindung mit ihrer Stimme geradezu magisch an.