[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen
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»Das will er nicht«, erwiderte Julius. »Die ahnen, dass er mit jemandem in Maraisville Kontakt hat. Wenn das auffliegt, ist es vorbei, sagt er. Ich habe keine Ahnung, warum.«
»Ich schon.« Wenn herauskam, dass Ferro Kontakt zu Amelie hatte, bräche die Hölle los. Leopold würde seine Schwester von der Erbfolge ausschließen und wahrscheinlich auch verbannen. Dann wäre bei seinem Tod nur Lucien übrig. Bei dem Gedanken wurde mir unwohl.
»Was meinst du?«
»Nicht so wichtig.« Ich gestikulierte noch einmal für die Kamera. »Der Empfang ist eine Option. Aber wer immer es tut, wird dabei ziemlich sicher draufgehen. Die Garde wird vor Ort sein, wahrscheinlich auch der halbe Geheimdienst.« Ich kramte in meinem Kopf nach den Details der Villa Mare. Wir hatten in Fiores Unterricht darüber gesprochen. »Es gibt ein Tor im Norden, außerdem einen Eingang für Lieferanten und Sicherheitspersonal. Leopold wird am Vormittag dort eintreffen, aber die einzige Gelegenheit wäre während des Empfangs. Den Rest der Zeit ist er zu sehr abgeschirmt.«
»Gut, ich gebe es weiter.« Julius nickte. »Das mit deinem Medikament tut mir übrigens leid. Wir haben keine Möglichkeit gefunden, es hineinzuschmuggeln.« Er sah an dem Zaun hoch, der jeden Partikel sofort vaporisieren würde. »Aber wir versuchen es weiter.«
Ich blinzelte irritiert. »Mein Medikament? Ich habe längst einen neuen Injektor damit.« Er hatte nach meinem Besuch im Medical Department in meinem Zimmer gelegen. Ich war sicher gewesen, Ferro hätte jemanden bestochen, um ihn mir zu bringen.
»Hast du es schon benutzt? Vielleicht will dich jemand vergiften.« Julius sagte es sachlich und kühl.
»Ja, habe ich. Es ist vollkommen in Ordnung.« Sogar mehr als das. Die Kopfschmerzen, die ich wegen der verringerten Dosis bekam, waren schwächer als vorher. Aber wer konnte es mir gebracht haben, wenn nicht Ferro?
Meine Uhr piepte erneut. Noch eine Minute. Ich setzte Prioritäten.
»Weißt du etwas über Knox?«
»Nicht viel.« Julius’ Blick war auch jetzt unbeteiligt. Ich hätte ihn am liebsten gewürgt. »Er ist eines Morgens weg gewesen, ohne etwas von seinen Sachen mitzunehmen. Sein WrInk lag im Waschbecken im Bad, er wurde mit einer Bastelschere rausgeholt. Keine Ahnung, wer das getan hat. ReVerse war es nicht und die Radicals auch nicht.«
»Das heißt …?«
»Keine Ahnung. Vielleicht war er wirklich nur verwirrt und ist abgehauen.«
»Aber ihr sucht doch nach ihm?«
»Nein. Wir haben gerade andere Sorgen als Knox.«
Ich starrte ihn an. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass ReVerse Knox’ Erinnerungen zurückgeholt hatte, aber natürlich konnten sie das nicht. Dass sie jedoch nicht einmal nach ihm suchten, tat weh. Genau wie Julius’ Gleichgültigkeit.
»Was ist mit dir passiert?«, fragte ich leise.
»Wir müssen alle Opfer bringen, Phee.« Er sah mich nicht an.
Ein erneutes Piepen meiner Uhr sagte mir, dass die Zeit um war. Ich hatte noch nach Jye fragen wollen. Aber wir konnten das nicht riskieren.
»Ich muss euch jetzt wegschicken, sonst ruft das System Verstärkung.« Ich machte wieder eine ausladende Bewegung, als wollte ich sie wegscheuchen. »Bitte gehen Sie jetzt, sonst muss ich den Sicherheitsdienst rufen!«
Julius gab der Frau und den Kindern einen Wink.
»Ist schon gut, wir hauen ja schon ab.« Er ging einige Schritte rückwärts und nickte mir zu.
Dann drehte er sich um und verschwand mit seiner Fake-Familie im Dickicht des Waldes.
Ich blieb so lange stehen, bis ich sie nicht mehr erkennen konnte. Dann zeigte ich der Kamera einen hochgereckten Daumen, um dem System Entwarnung zu geben, und wandte mich ab.
Während ich mich auf den Rückweg machte, spürte ich tiefe Enttäuschung. Als ich Julius erkannt hatte, war ich froh gewesen – froh über die Gelegenheit, offen mit jemandem reden zu können, der mich kannte und verstand. Aber stattdessen war es ein geschäftsmäßiges Treffen ohne emotionale Regung gewesen: kein Humor, keine Fürsorge, nichts von dem, was Julius früher ausgemacht hatte. Er hatte sich nur für das Attentat auf den König interessiert. Wie konnte er sich, wie konnte ReVerse sich in der kurzen Zeit derartig verändert haben? Hatte ich so viel verpasst?
Aber mit den Fragen kam mir ein anderer Gedanke: Vielleicht hatte ReVerse sich gar nicht verändert. Vielleicht hatte ich nur nie das ganze Bild gesehen.
24
Hast du schon etwas gegessen?
Die Nachricht wartete auf dem Terminal in meinem Zimmer, als ich von dem Treffen mit Julius zurückkam. Unterschrieben war sie mit »Retter abstürzender Damen«. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Ich hatte Lucien seit dem Medical Department nicht mehr gesehen, aber mich öfter bei Gedanken an ihn erwischt.
»Nein, habe ich nicht«, murmelte ich in Richtung des Terminals. Lucien schien diese Antwort geahnt zu haben, denn eine zweite Nachricht öffnete sich, als ich die erste schloss.
Das dachte ich mir. Wenn du genug von dem Zeug aus der Supply-Station hast, hätte ich einen Vorschlag: Abendessen bei mir.
Darunter war eine Karte von Zone A mit einer Markierung.
Ich überlegte nicht lange. Natürlich war es eine dumme Idee, dorthin zu gehen – die Liste der Gründe reichte von Maraisville bis nach Brighton. Aber egal, was Ferro und Julius dachten: Ich war keine verdammte Maschine. Ich brauchte dringend jemanden, der mich wie einen Menschen behandelte.
»Antwort eingeben«, sagte ich, und ein Fenster öffnete sich. »Bin dabei«, sagte ich. »Wann?« Ich schickte die Nachricht ab. Es dauerte nicht lange, bis eine Antwort erschien.
In einer halben Stunde?
Ich bestätigte die Zeit, dann ging ich ins Badezimmer.
Ich duschte schnell, trocknete meine Haare und ließ sie offen. Als ich in meinem Schrank nach etwas zum Anziehen suchte, fiel mir die grüne Jacke in die Hände. Lucien hatte sie zurückgelegt, aber getragen hatte ich sie trotzdem nicht. Jetzt nahm ich sie heraus und zog sie über mein Shirt. Warum auch nicht? Er hatte bewiesen, dass er aufrichtig war. Wenn ich ignorierte, dass ich vorhatte, seinen Bruder zu töten, war das schließlich ein normales Treffen unter Freunden.
Nur Freunde?, fragte eine Stimme. Ich antwortete nicht.
»Hey, kommst du mit zum Essen? Es gibt synthetisches Hühnchen.« Emile wackelte mit den Augenbrauen.
»Das klingt sehr verlockend, aber ich habe noch etwas vor.«
»Jetzt noch?« Er rückte seine schreiend bunte Mütze zurecht. »Hat Gaia doch recht und man gibt dir schon Aufträge? Wenn ja, leg ein gutes Wort für mich ein.«
»Leider nein«, sagte ich. »Ich wollte nur runter zum See, ein bisschen den Kopf freikriegen.«
»Na, dann lass dich nicht von irgendwelchen Radicals umbringen.« Emile grinste. Der Fake-Angriff war ein Running Gag unter den Anwärtern.
»Keine Sorge. Wenn welche auftauchen, schicke ich sie zu dir.« Ich grinste, verabschiedete mich von ihm und schlug den Weg Richtung Juwel ein. Zehn Minuten und einen Sicherheitsposten später war ich in Zone B.
Die Stelle, die Lucien markiert hatte, lag an der Westseite der Festung und grenzte direkt an Zone A, für die ich keine Berechtigung besaß. Kurz darauf stand ich vor einer Mauer und sah mich um. Die Straße hinter mir lag wie ausgestorben da, nicht einmal ein Kontrollpunkt war in der Nähe. Na super. Hatte ich die Karte falsch verstanden?
»Hey, warum starrst du die Mauer an? Wir sind doch nicht in einem Fantasy-Roman.«
Ich fuhr herum und begegnete dem amüsierten Blick von Lucien. Er lehnte an einem Häuschen, das wie ein TransUnit-Wartungspunkt aussah. Wie bei unserer ersten Begegnung hatte er die Haare zu einem lockeren Zopf eingeschlagen. Zu seinen Jeans trug er ein dunkelblaues Shirt.
»Nicht?« Ich stemmte die Arme in die Seiten und sah an der Mauer hoch. »Ich dachte, wenn ich den richtigen Spruch sage, lässt sie mich durch.«
Er lachte und sofort fühlte ich mich besser. Ich hatte keine Ahnung, wie er das machte.
»Wenn das so einfach wäre, hätten wir alle ein Problem. Komm, bevor uns die Klatschpresse sieht.« Er winkte mich zu dem H
äuschen.
Ich folgte ihm ins Innere. Es war dämmrig und roch nach Schmiermitteln.
»Romantisch«, sagte ich.
»Nicht so voreilig, Stunt-Girl.« Lucien drückte eine Schaltfläche. Zwei Metalltüren glitten beiseite und gaben den Blick auf die Kabine eines Lifts frei.
»Was ist das?« Ich spähte misstrauisch hinein.
»Das ist ein Geheimzugang zur Festung«, erklärte er.
»Den du mir garantiert nicht zeigen darfst.«
»Ach, das geht schon in Ordnung.« Lucien öffnete eine Klappe neben dem Lift. »Er fährt auf dem Weg nach unten durch einen Bio-Scanner. Ich würde niemandem raten, das Ding ohne Berechtigung zu benutzen.«
»Und seit wann habe ich eine Berechtigung?«
Er tippte eine komplizierte Zahlenfolge ein, zu schnell, um sie mir zu merken. »Jetzt hast du eine.« Lucien trat in die Kammer und deutete neben sich. »Milady? Lust auf eine kleine Fahrstuhlfahrt?«
»Jederzeit gerne«, flötete ich und folgte der Aufforderung. Trotzdem war mir mulmig, als die Türen sich schlossen.
»Bist du sicher, dass die Berechtigung funktioniert?« Mit bangem Blick sah ich Lucien an.
»Klar. Zu 95 Prozent geht es gut.« Er nickte zuversichtlich.
»95 Prozent?« Ich sah ihn erschrocken an und er grinste. Ich boxte ihn in die Seite. »Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen.«
»Das würde ich nie tun. Dazu ist es hier viel zu eng.«
Es surrte, als wir durch den Scanner fuhren, aber ich blieb in einem Stück. Ich war erleichtert, als der Lift zum Stehen kam.
»Und wie verhindern wir, dass mich jemand sieht?«, fragte ich, als die Türen sich öffneten.
»Wer sagt, dass dich niemand sehen darf?«
»Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass du keine Gegenfragen mehr stellst?«
»Hatten wir das?«
Ich lachte und Lucien fiel ein.
»Im Ernst – da, wo wir hingehen, ist niemand. Und wenn dich auf dem Weg jemand sieht, was soll’s? Du bist Teil des Geheimdienstes und in meiner Begleitung. Die Mitarbeiter des Juwels sind verschwiegen.«
»Meinen WrInk kann man trotzdem verfolgen. Wenn Dufort meinen Verlauf checkt …«
»Darum habe ich mich gekümmert«, sagte Lucien. »Dein Signal ist geblockt. Bis ich es wieder freischalte, bist du in deinem Zimmer und lernst brav.«
Liebend gerne hätte ich gewusst, wie man das machte.
»Haben deine Geschwister mit meinem Besuch denn kein Problem?«
»Die sind nur selten dort oben. Amelie hat ihr Büro unten in der Festung und Leopold ist am liebsten in seinem Refugium. Das liegt im alten Teil des Gebäudes.« Lucien hielt mir eine Tür auf.
»Refugium? Klingt altmodisch.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie recht du damit hast«, murmelte er.
Leopold. Der König. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ich ihm heute Abend näher kommen würde als je zuvor. Wahrscheinlich konnte man einfach in sein Zimmer spazieren und –
»Ophelia? Noch da?« Lucien holte mich zurück aus meinen Gedanken.
»Klar. Ich bin nur neugierig auf das Juwel.« Ich lächelte.
»Ich habe nicht gelogen, es ist ziemlich lahm dort. Aber es gibt einen Ort, der ist spektakulär.«
Wir gingen einen Gang entlang, der so etwas wie ein Versorgungstunnel sein musste. »Bisher sieht es nicht spektakulär aus. Hattest du nicht gesagt, es gibt etwas zu essen?« Wir blieben vor einem weiteren Aufzug stehen.
»Du bist wirklich ungeduldig, Stunt-Girl.« Lucien schnalzte mit der Zunge. »Schöne Jacke übrigens. Woher hast du sie?«
»Was, die hier?« Ich zupfte am Ärmel. »Die habe ich von so einem Typen, den ich kenne.«
»Echt?« Lucien sah mich interessiert an. »Muss ja ein netter Typ sein.«
»Na, ich weiß nicht. Er ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Stellt ständig Gegenfragen und verleugnet seine Familie. Außerdem bricht er gerne in fremde Zimmer ein und klaut Zeug.«
»Uh-oh, das klingt gefährlich. Vielleicht solltest du dich besser von ihm fernhalten.« Lucien nickte ernst.
»Ja, das habe ich ihm auch schon gesagt. Aber irgendwie …« Ich sah ihm in die Augen. »Irgendwie kann ich das nicht.«
»So ein Glück. Er kann es nämlich auch nicht.« Lucien lächelte auf eine Art, die meinen Puls schlagartig verdoppelte. Er kam einen Schritt näher und hob die Hand, berührte meine Wange …
Ping. Das Öffnen des Aufzugs ließ uns reflexartig zurückschrecken. Zwei Bedienstete in hellen Uniformen kamen heraus. Sie grüßten, wir erwiderten es und traten in die Kabine.
»Eden, fünfter Stock«, sagte Lucien.
Eden?
»Befehl verweigert. Unbefugte Person anwesend«, informierte eine weibliche Stimme.
»Ach, stell dich nicht so an«, sagte er und sah dann mich an. »Darf ich vorstellen? Das ist Eden. Sie steuert die Vorgänge im Juwel.«
»Ich habe Sie nicht verstanden«, sagte Eden.
»Du siehst, sie ist nicht die Hellste. Seit der Abkehr ist es schwierig, gutes Personal zu finden.« Lucien seufzte. »Eden? Befehl überbrücken.«
»Sicherheitskennung erforderlich.« Die KI war tatsächlich sehr beschränkt. Ich war verwundert. In der Festung des Königs hatte ich anderes erwartet.
Lucien ließ einen genervten Laut hören. »Du hast meinen WrInk doch längst erka… also gut. Kennung LM-888XX-03. Lucien de Marais.«
»Befehl akzeptiert. Fünfter Stock.«
»Na endlich.« Er verdrehte die Augen. »Ich glaube, sie ist einsam, weil sie die einzige KI in der Festung ist. Wir sollten ihr einen Freund besorgen.«
Nur eine künstliche Intelligenz in der gesamten Festung? Noch dazu eine, die weniger Routinen zu haben schien als eine Kaffeemaschine vor der Abkehr? Ich wunderte mich immer mehr.
Der Aufzug fuhr mehrere Stockwerke nach oben – zumindest glaubte ich das, denn eine Anzeige gab es nicht. Als wir hielten, glitten die Türen lautlos auf.
»Fünfter Stock«, meldete Eden.
»Willkommen in den heiligen Hallen«, sagte Lucien.
Zögernd setzte ich einen Fuß auf den hellgrauen Teppich, dann den zweiten.
»Du siehst aus, als hättest du Angst, gefressen zu werden.« Lucien musterte mich amüsiert. »Der Teppich beißt nicht. Ich verspreche es.« Er streckte seine Hand aus und ich ergriff sie. Seine Finger fühlten sich warm und glatt an.
»Vielleicht beiße ich aber in den Teppich, wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme«, überspielte ich meine Verlegenheit.
»Schon verstanden.« Er grinste. »Dann komm mal mit.«
Alles im Juwel war riesengroß, hell und offen. Die Wände nach außen bestanden vollständig aus Glas, die innen waren weiß oder grau. Der Gang, durch den wir liefen, erlaubte den Blick hinunter in den Königssaal, einen sechseckigen Raum mit unauffälligen Stuhlreihen. Ich hatte Pomp erwartet, einen Thron oder zumindest aufwendige Verzierungen. Stattdessen wirkte alles schlicht und klar, von den Türen bis zu den Gemälden an den Wänden.
»Hast du es dir so vorgestellt?«, fragte Lucien.
»Nein, gar nicht. Es ist so dezent. Also, ich finde es schön, aber …«
»Aber du dachtest, hier wäre alles voller Gold und Edelsteine«, scherzte Lucien.
»Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Aber wahrscheinlich etwas mehr Protz und Prunk.« Und mehr Technologie. Entschieden mehr Technologie.
»Mein Bruder ist ein sehr bescheidener Mensch. Protzerei liegt ihm nicht.«
Luciens Worte hallten in mir nach, als wir einige Stufen hinaufgingen und einen gläsernen Steg betraten.
»Willst du mir nicht endlich verraten, wo wir hingehen? Ich sage lieber gleich, dass ich mich nicht gerne von etwas herunterstürze.« Ich warf Lucien einen vielsagenden Blick zu.
»Ach, das ist Jahre her«, winkte er ab. »Aber ich freue mich, dass du meine Karriere verfolgt hast.«
»Deine Karriere als was, Selbstmörder?«
»Sagt ein Mädchen, das sich beinahe vom Castello gestürzt hätte.«
»Das war allein deine Schuld.«
»Also
doch.« In seinen Augen funkelte es. »Ich wusste es.«
»Kein Grund zum Jubeln. Ich war nur geschockt.«
»Nein, warst du nicht.« Lucien schüttelte selbstsicher den Kopf.
Ich folgte ihm auf den Steg.
»Dein Ego ist wirklich riesig, hat dir das mal jemand gesagt?«
Er drehte sich irritiert zu mir um. »Nein, nie. Ich dachte, ich bin einfach so toll.«
»Rie-si-ges. E-go.« Ich wiederholte die Worte, als wäre er schwer von Begriff. Er lachte. Ich auch.
»Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
»Bemerkenswert. Schließlich bist du nur Platz drei in der Thronfolge.«
Lucien sah mich über seine Schulter hinweg an. »Wenn es nach mir ginge, wäre ich Platz 4591. Am besten noch weiter hinten.«
»Du hast keine Ambitionen, das Land zu regieren?«
»Um nichts in der Welt, nein.« Seine Augen weiteten sich. »Es ist ein beschissener Job. Niemandem kann man es recht machen und unzählige Leute wollen deinen Tod. Was ist das denn für ein Leben?«
Ich schluckte und wandte schnell meinen üblichen Trick an: Die Ophelia, die für ReVerse kämpfte, verbannte ich und holte die andere Version hervor. Die Version mit reinem Gewissen und ohne Hass auf den König.
Ich wünschte, ich wäre sie.
Der Gedanke stahl sich in meinen Kopf, bevor ich ihn daran hindern konnte. Er erschreckte mich. War mir die Begegnung mit Julius so falsch vorgekommen, weil ich Abstand vom Widerstand nahm? Hatten mich die Wochen in Maraisville verändert? Nein, versicherte ich mir energisch. Ich brauchte nur eine Pause von dem ganzen Druck. Das war alles.
»Wir sind da.«
Lucien stieß eine alte Tür auf und trat hinaus. Ich erkannte eine Plattform und etwas, das wie ein Holzgestell mit Polstern aussah, daneben stand ein kleiner Tisch. Neugierig schob ich mich durch die Tür.
»Ich präsentiere: die beste Aussicht in ganz Maraisville.« Lucien breitete die Arme aus.
Wir standen auf dem Turm, der zu dem Ring aus alten Gebäuden zählte und etwas höher war als das Juwel. Von hier aus konnte man das ganze Tal überblicken, viel weiter als vom Castello di libertà aus. Unter uns lagen die Sicherheitszonen und Wohngebiete, dann der Fluss und die Felder. In der Ferne verlor sich die Stadt hinter der Enge im Norden, an die Hänge schmiegten sich Nadelbäume. Der See lag wie eine dunkle Pfütze dazwischen.