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002 - Free like the Wind

Page 18

by Kira Mohn


  «Etwas über drei Stunden, sagt Google Maps.»

  Cayden zieht ebenfalls sein Telefon hervor. «Sieht nett aus, der Canyon. Gut, machen wir.»

  Eine Dreiviertelstunde später haben wir unsere Rucksäcke für die Wanderung gepackt und laufen neben dem Icefields Parkway wieder in Richtung Jasper. Die Jacken haben wir uns umgebunden, wir haben Glück mit dem Wetter. Das könnte Ende Mai auch noch ganz anders aussehen.

  Immer wieder schimmert der Fluss rechts von uns zwischen den Bäumen hindurch, und als wir den Wanderweg neben dem Icefields Parkway verlassen und dem Athabasca River folgen, werden wir langsamer, weil ich unzählige Fotos von den sich majestätisch im Sonnenlicht erhebenden Gipfeln über dem glitzernden Wasser machen muss.

  Im Gegensatz zu gestern im Wald sind wir nicht die einzigen Wanderer, die zur Maligne-Schlucht laufen, und ausgehend von den Autos, die uns auf der Straße neben dem Wanderweg überholen, könnte es ziemlich voll werden. In diesem Moment stört mich das allerdings kaum, die Landschaft ist einfach zu schön, um weiter darauf zu achten. Beinahe wehmütig betrachte ich im Vorbeilaufen all die schmalen Pfade, die von unserem Weg abgehen und die in den Wald hinein oder Richtung Fluss verschwinden. Am liebsten möchte ich jeden einzelnen Weg von seinen Anfang bis zum Ende abgehen, um keinen einzigen magischen Ort versehentlich zu verpassen.

  Cayden läuft gleichmütig neben mir. Im Gegensatz zu mir hat er noch kein einziges Foto gemacht.

  Auf einer Brücke kann ich nicht mehr an mich halten. Von hier aus eröffnet sich ein großartiger Ausblick auf den Athabasca River, der sich in einiger Entfernung um eine Insel herum teilt. Riesige Tannen säumen seine Ufer, zum Horizont hin türmen sich waldbewachsene Berge, und ich mache unzählige Fotos, während Cayden langsam weitergeht.

  «Cayden, warte!»

  Der Versuch, diese Aussicht in den winzigen Ausschnitt der Smartphonekamera zu pressen, ist unendlich frustrierend. Jedes Mal, wenn ich das Display betrachte und dann den Kopf hebe, möchte ich noch etwas weiter zurückgehen, um mehr von allem auf das Bild zu bekommen. Auf einer Brücke ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, abgesehen davon, dass mir ständig Leute vor die Linse laufen.

  Cayden ist nach meinem Ruf wieder an das Geländer herangetreten und schaut über den Fluss hinweg in die Ferne. In seinem Gesicht lässt sich nicht ausmachen, was gerade in ihm vorgeht. Dass er so überwältigt ist wie ich, wage ich allerdings zu bezweifeln.

  «Okay, wir können weiter.» Ich habe genug Fotos. Fürs Erste. Wir sind noch keine hundert Meter gelaufen, da ziehe ich mein Smartphone schon wieder hervor.

  «Gib’s auf, Rae.» Cayden schüttelt grinsend den Kopf. «Einfach genießen.»

  «Genießt du denn gerade?», frage ich.

  «Klar, wie verrückt.»

  Ich verdrehe die Augen. Während ich trotzdem versuche, irgendwie das Gefühl einzufangen, das mich beim Anblick der Landschaft überkommt, wartet Cayden geduldig neben mir. Zumindest hoffe ich, dass er es geduldig tut.

  «Mum, guck mal! Die Frau hat blaue Haare!»

  Ein kleines Mädchen ist in einiger Entfernung von uns stehen geblieben und starrt mich fasziniert an. Seine Mutter wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, bevor sie nach der Hand ihrer Tochter greift. «Ja, stimmt», erwidert sie. «Es kann ja jeder Mensch die Haarfarbe haben, die er will. Sorry», fügt sie in meine Richtung gewandt hinzu, und ich zucke lächelnd mit den Schultern.

  «Kann ich auch blaue Haare haben?», höre ich die Kleine noch. «Oder rosa?»

  Neben mir lacht Cayden auf. «Soll ich dich mal fotografieren?», fragt er dann. «So mit Fluss und Bergen und Bäumen und allem?»

  «Oh ja, bitte.» Das kann nur besser werden als die unzähligen Selfies, die ich bisher zustande gebracht habe. Mein Arm ist ärgerlicherweise nicht lang genug, um das Meiste von dem, was ich Mum gern zusammen mit mir zeigen möchte, draufzukriegen.

  Ich stelle mich in Positur, und als Cayden sein Smartphone wieder sinken lässt, trete ich neben ihn. «Zeig mal.»

  Er hat eine Reihe an Fotos gemacht, auf denen ich vor dem Athabasca River sehr fröhlich aussehe – Mum wird die Bilder mögen.

  «Schickst du mir die?», bitte ich ihn.

  «Klar.» Ein paar Sekunden später gibt mein Handy einen Summton von sich.

  «Wie hast du deine Haare eigentlich blau gekriegt?», will er wissen, während wir langsam weitergehen. «Die sind doch eigentlich dunkel, oder?»

  «Man muss sie zuerst bleichen», erwidere ich. «Du hättest mit deinen Haaren gleich die besten Voraussetzungen.»

  «Ich glaube, blau würde mir nicht stehen.»

  «Grün vielleicht?»

  «Dann schon lieber schwarz.»

  Eine Gruppe Wanderer drängt sich an uns vorbei, und ich trete zur Seite, während ich versuche, mir Cayden mit schwarzen Haaren vorzustellen. «Du würdest aussehen wie ein Vampir.»

  Wenn auch ein attraktiver Vampir, aber das behalte ich für mich. Ist ja auch nicht besonders wichtig.

  «Okay, vergessen wir das wieder.» Cayden rückt seinen Rucksack zurecht. «Ganz schön was los hier.»

  Das stimmt allerdings. Es ist eine wunderschöne Strecke, vorbei an mehreren Seen, die wie Achate in Blau- und Grüntönen zwischen den hohen Tannen eingebettet liegen. Doch obwohl mir die Schönheit des Beauvert Lake, des Edith Lake, des Annette Lake bisweilen wirklich den Atem verschlägt, fühlt es sich gleichzeitig aufgrund der vielen Menschen wie ein besonders spektakulärer Sonntagsausflug an.

  «Wir könnten jetzt der Maligne Lake Road bis zum Canyon hin folgen», sagt Cayden irgendwann. «Oder wir nehmen diesen Weg hier.»

  Er hält mir sein Smartphone vor die Nase und tippt auf eine violette Linie.

  «Geradeaus? Aber wir müssen uns doch rechts halten, oder?»

  «Wenn wir direkt zum Maligne Canyon wollen, schon.» Cayden vergrößert den Ausschnitt. «Aber wir können auch bei der Sixth Bridge starten und dann diesem Weg hier am Canyon entlang bis zur First Bridge folgen.»

  Wir mustern beide das filigrane lila Netz auf dem Display des Smartphones und die Linie, die Cayden hervorgehoben hat.

  «Ich habe allerdings keine Ahnung, was das für ein Weg ist», merkt er an. «Vielleicht muss man irgendwo klettern.»

  «Wenn es zu schwierig wird, gehen wir einfach zurück.» Ich strecke den Rücken durch. «Oder?»

  Cayden nickt, und Minuten später haben wir den offiziellen Wanderweg verlassen und mit ihm all die Leute, die an diesem schönen Tag ebenfalls die Maligne-Schlucht zum Ziel haben.

  Der Weg zur Sixth Bridge, die den Maligne River überspannt, führt durch dichten Wald. Eigentlich ist es kaum mehr ein Weg, mehr ein schmaler, überwachsener Pfad – weiß der Himmel, wer ihn im Laufe der Zeit angelegt hat.

  Ohne die Geräuschkulisse der anderen Wanderer ist es kurz darauf seltsam still, so wie gestern Nachmittag, als wir noch einen kurzen Spaziergang auf einem der Schleichwege um den Wapiti Campground herum unternommen haben. Nur das dumpfe Geräusch unserer Schritte, Vogelzwitschern und das gelegentliche Surren eines Insekts sind zu hören.

  Cayden hält sein Smartphone wie einen Kompass in der Hand, ganz auf die lila Linien konzentriert.

  «Du würdest einen Bären erst bemerken, wenn du in ihn reinrennen würdest», bemerke ich, und Cayden sieht auf.

  Sein Blick ist plötzlich wachsam geworden, und obwohl ich grinsen muss, bereue ich meine Bemerkung. Wir befinden uns inmitten dichten Unterholzes, die Tannenwipfel haben sich wie ein Baldachin über unseren Köpfen geschlossen. Vielleicht ist das hier ja ein Bärenschleichweg.

  Ja klar, und der Bär hat ihn auch in der App gespeichert, versuche ich mich selbst zu beruhigen und taste gleichzeitig nach dem Bärenspray. Haven hat mich mit ihren Geschichten offenbar doch ein bisschen irre gemacht.

  «Wir sollten uns unterhalten», sagt Cayden. «Damit wir keine Tiere überraschen.»

  «Okay. Erzähl was über dich.»

  «Was willst du wissen?», erwidert er.

  In diesem Moment ist ein Krachen in den Büschen zu hören, etwas hat sich in Bewegung gesetzt, nur wenige Meter von uns entfernt, und i
ch kann nicht erkennen, ob dieses Etwas gerade die Flucht ergreift oder auf uns zukommt.

  Cayden

  Fuck. Bärenspray. Wo habe ich das verfluchte Bärenspray hingesteckt? Rae hält ihres bereits in der Hand, mit ausgestrecktem Arm steht sie vor mir, als wolle sie uns beide beschützen, komme, was da wolle. In der nächsten Sekunde bricht ein riesiger Hirsch aus dem Unterholz, einen Augenblick lang starren wir uns gegenseitig erschrocken an, dann springt das Tier zur Seite, noch mehr Zweige knacken, und es ist wieder verschwunden.

  «Oh Gott.» Raes Arm zittert. «Oh, heilige Scheiße.» Als sie sich zu mir umdreht, sind ihre Augen noch immer weit aufgerissen, und ein hysterisches Lachen begleitet ihre nächsten Worte. «Ich dachte gerade echt, da kommt ein Bär.»

  «Vielleicht ist der Hirsch ja vor einem weggelaufen.»

  Wir lauschen beide in die zurückgekehrte Stille des Waldes hinein.

  «Wenn, dann ist er ziemlich gut im Anschleichen», setze ich irgendwann dazu.

  Erst jetzt senkt Rae die Hand, mit der sie noch immer die Sprühdose umklammert. «Wo ist eigentlich dein Bärenspray?», will sie wissen.

  «Im Rucksack.»

  «Wow, da hat du ja echt mitgedacht.»

  Sie lacht, und es wurmt mich einigermaßen, dass ich mir diese spöttische Bemerkung zu Recht gefallen lassen muss.

  «Wie hattest du dir das so vorgestellt?», erkundigt sie sich. «Einen Moment bitte, lieber Bär, wenn du vielleicht kurz warten würdest? Ich muss erst meinen Rucksack …»

  «Halt die Klappe.» Ich verdrehe die Augen und gehe weiter.

  Rae folgt mir, noch immer vor sich hin kichernd. «Irgendwo muss es sein, gib mir noch eine Minute, ich weiß genau, dass es …»

  «Rae!» Ich wende mich zu ihr um, dann muss ich ebenfalls lachen und lasse den Rucksack von meinen Schultern rutschen. «Warte.»

  Kurz darauf befindet sich das Bärenspray in meiner Jackentasche, und Rae hat sich endlich wieder eingekriegt.

  «Du wolltest mir gerade etwas über dich erzählen», sagt sie.

  «Wollte ich? So viel gibt es gar nicht über mich zu erzählen.»

  «Du weißt schon, dass das alle immer sagen, oder?»

  «Die meisten Leute können ja auch nichts Interessantes über sich erzählen.»

  «Dann bist du also wie die meisten Leute?»

  Ich seufze. «Okay – frag mich was.»

  Rae überlegt einen Moment. «Wie ist dein zweiter Vorname?»

  «Theodore.»

  «Theodore?» Ihre Augen werden kugelrund, und ich sehe ihr an, dass sie sich schon wieder ein Lachen verkneift.

  «Du kannst mich Theo nennen.»

  «Danke, ich bleibe bei Cayden.»

  «Wie du willst.»

  «Okay, neue Frage.» Sie schiebt die Äste eines Strauchs zur Seite, der beinahe schon auf unserem Trampelpfad wächst. «Sind deine Haare tatsächlich so hell, oder hilfst du nach?»

  «Bitte was?»

  Rae guckt mich nur neugierig an.

  «Die sind so, wie sie sind.»

  «Ich kenne keinen Menschen, der so helle Haare hat wie du.»

  «Ich kenne auch keinen Menschen, der so blaue Haare hat wie du.»

  Sie grinst und pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Hast du dir schon einmal etwas gebrochen?»

  «Nein.»

  «Wie warst du so als Kind?»

  «Normal.»

  «Im Gegensatz zu allen unnormalen Kindern?»

  «Nein, ich war einfach … nix Besonderes. Ging in die Schule, musste Klavier lernen und hatte keinen Bock darauf … normal halt.»

  «Du kannst echt Klavier spielen?»

  «Du hast überhört, dass ich keine Lust dazu hatte.»

  «Aber du kannst es?»

  «Ein bisschen.»

  «Ich habe früher auch Klavier gespielt.»

  Das kommt spontan, und irgendwie klingt es so, als habe Rae noch weitersprechen wollen und sich dann selbst unterbrochen.

  «Warum spielst du nicht mehr?», hake ich nach.

  Sie schüttelt den Kopf. «Keine Ahnung. Zu wenig Zeit vielleicht.»

  Keine besonders gute Ausrede für jemanden, der lediglich abends in einem Kino arbeitet.

  «Was wolltest du werden, als du noch klein warst?», fragt sie jetzt.

  «Weiß ich nicht mehr.»

  «So was vergisst man doch nicht.»

  «Weiß ich aber echt nicht mehr. Ich glaube, ich wollte nie irgendetwas werden.»

  «Pilot? Polizist? Baggerfahrer?»

  «Vermutlich wollte ich einfach endlich älter werden, um alleine leben zu können. Erwachsen werden wollen ja wohl alle», füge ich hinzu, um meine vorschnelle Antwort ein wenig abzumildern – vergeblich, wie sich an Raes Blick erkennen lässt.

  «Ich wollte immer einen Pferdehof haben», sagt sie langsam.

  «Du reitest?»

  «Früher mal, ja. Warum wolltest du unbedingt ausziehen?»

  Vielleicht ist es dieser geschützte Raum, in dem wir uns befinden, nur Rae und ich, die beiden letzten Menschen auf dieser Erde, in einem grünen, lichtdurchwirkten Waldtunnel, der mich jetzt ehrlich antworten lässt. Gerade so ehrlich, wie mir das eben möglich ist.

  «Zu viele Regeln.» Ich sehe knapp an ihr vorbei, während ich das sage. «Was hast du früher noch alles gemacht, was du mittlerweile nicht mehr tust?»

  In erster Linie frage ich das, damit Rae nicht weiterbohrt, und ich weiß sehr genau, dass ich mich damit ziemlich weit vorwage, aber so etwas wie Was ist dein Lieblingsessen? hätte sie garantiert nicht abgelenkt. Davon jedoch abgesehen, will ich wirklich wissen, warum in Raes Sätzen so oft das Wort früher auftaucht. Früher mal Klavier gespielt, früher mal geritten. Und Haven hat irgendwann erzählt, Rae sei früher gern auf Partys gegangen, aber mittlerweile nicht mehr. Da gibt es einen Bruch zwischen früher und heute, und mit Sicherheit hängt der mit Raes Schwester zusammen, mit dieser Schwester, über die sie nicht spricht. Gespannt warte ich auf ihre Antwort.

  «Das ist eine seltsame Frage», erklärt Rae jedoch nur, nachdem sie ziemlich lang darüber nachgedacht hat. «Fängt man nicht ständig neue Dinge an und gibt dafür andere auf?»

  «Und was fängst du so Neues an?»

  «Yoga.» Diese Antwort kommt schnell. «Mit Haven war ich neulich sogar in einem Studio. Oder Krav Maga.»

  «Ist das dieser Kampfsport aus Israel?»

  «Genau.»

  «Darüber habe ich mal gelesen. Seit wann machst du das?»

  «Seit zwei Jahren. Ich habe damit angefangen, als wir hierhergezogen sind. Da vorn kommt eine Straße.»

  Es ist weniger eine Straße als ein Schotterweg, aber im Vergleich zu dem Pfad, den wir seit einer Weile entlanglaufen, ist der Begriff durchaus gerechtfertigt. Breit genug, dass Autos darauf fahren können, führt sie zu einem kleinen Parkplatz, auf dem ziemlich viele Wagen stehen, und von dort aus zur Sixth Bridge, einer Holzkonstruktion, die an dieser Stelle über den schnell dahinfließenden Athabasca River führt. In Ufernähe ist das Wasser so klar, dass man das Felsgeröll im Flussbett erkennen kann.

  Rae hat bereits wieder ihr Smartphone aus der Tasche gezogen, und als ich wortlos die Hand danach ausstrecke, gibt sie es mir und lehnt sich gegen das mit einem Maschendrahtzaun gesicherte Holzgeländer.

  Der Fluss, jede Menge Bäume unter einem strahlend blauen Himmel und in der Mitte des Bildes Rae, die in die Kamera lächelt. Mir gefällt das Foto, und ich nehme an, auch Raes Mutter wird es mögen.

  Der Weg zur Fifth Bridge läuft direkt am Athabasca River entlang. Ein gutes Stück unter uns am Fuße abschüssiger Felsen wird das Wasser zunehmend wilder. Umgestürzte Bäume, die in den Fluss hineinragen, und das dichtbewachsene Ufer auf der anderen Seite verleihen dem Ort etwas Märchenhaftes. So als könnte im nächsten Moment einfach ein Drache über uns hinwegfliegen.

  Angesichts der parkenden Autos habe ich mit sehr viel mehr Menschen gerechnet, doch die meisten geben sich offenbar damit zufrieden, ein bisschen herumzulaufen und dann wieder umzukehren.

  Erste kleinere Wasserfälle tauchen auf, streckenweise säumen Geländer den Weg, um unvo
rsichtige Wanderer davor zu bewahren, den Abhang hinunterzurutschen und sich mit der Strömung auf den Rückweg zur Sixth Bridge zu machen. Wir steigen in den Stein geschlagene Stufen hinauf, und nachdem wir die Fifth Bridge passiert haben, wird der Felsabhang zum Fluss hinunter mit jeder Minute steiler, bis man schließlich zu Recht von einem Canyon sprechen kann.

  Es sieht aus, als habe ein Beben die Erdoberfläche einfach zum Bersten gebracht, sie auseinandergerissen, sodass unter scharfen Abbruchkanten der nackte Fels zu sehen ist, an den sich Moos und Gras und sogar dürre Bäume klammern. Mittlerweile sehr weit unter uns schäumen irrwitzige Stromschnellen über jedes Hindernis hinweg, und mehr als einmal befürchte ich, dass Rae ihr Smartphone aus der Hand fallen könnte, wenn sie sich über Absperrungen beugt, um das dahinschießende Wasser zu fotografieren.

  Über den Bäumen sind immer wieder schneebedeckte Gipfel zu sehen, während wir die vierte und nur kurz darauf auch die letzten drei Brücken erreichen, die nur noch ein paar Minuten auseinanderliegen.

  Auf der First Bridge stehen wir noch einmal ziemlich lang. Die hellen Felswände unter uns werden an vielen Stellen von irgendwelchen Flechten überwuchert, und ich frage mich, wo diese Pflanzen so ganz ohne Erde ihre Nährstoffe herbekommen. Und wie es den Bäumen direkt an der Steilkante gelingt, ihre Wurzeln festzukrallen. Was ist das überhaupt für ein Stein? Kalk? Kreide? Und leuchtet das Wasser deshalb so smaragdgrün, weil der Stein so weiß ist?

  «Es ist einfach unglaublich!» Rae muss rufen, denn obwohl der Fluss sich metertief unter uns befindet, dröhnt er zu laut in unseren Ohren, um sich normal zu unterhalten. «Es ist so … so … ich meine, da existiert dieser wundervolle Ort, und ich wusste einfach nichts davon.»

  «Es gibt viele Orte auf der Welt, von denen du nichts weißt.»

  «Das ist es ja! Ich kenne nichts. Wirklich gar nichts. Von Winnipeg nach Edmonton, das war’s. Dabei wollten wir früher immer reisen.»

  Früher. Wir.

  Auch Rae bemerkt, was sie da gerade gesagt hat, denn abrupt klappt ihr Mund zu, und sie wendet sich ab, um die Brücke ganz zu überqueren. Mit kurzen, entschlossenen Schritten läuft sie vor mir her, und ich mustere die wippenden, blauen Strähnen ihrer zusammengedrehten Haare, während ich ihr folge.

 

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