„So still, Mine Frouwe Ohnfeder?”
„Shaljel, ich bin müde, es war sehr anstrengend bei den Zurückgebliebenen und ich will einfach nur noch in mein Bett.”
Als sich Ohnfeder an Shaljel vorbei drängeln wollte, hielt er sie an einem Arm fest und blickte sie einmal von oben bis unten an. Dann sagte er sehr ernst und leise, so als würde er mit sich selbst sprechen.
„Ich hatte so etwas befürchtet.” Lauter fügte er hinzu: „Ich denke, ich werde in den nächsten Monaten wohl noch häufiger bei dir sein, jetzt muss ich allerdings erst mal für zwei Tage weg, um die Menschen hierher zu führen.”
Erst jetzt begriff Ohnfeder, wie sehr sie sich schon an die Anwesenheit ihres Freundes gewöhnt hatte und wie sehr sie gehofft hatte, dass er ihr etwas von der Last der kommenden Tage abnehmen würde, ohne dass er ihr zu viel Fragen stellte, wie es alle anderen tun würden. Sie blickte ihn einen Moment lang entgeistert an, bevor sie weinend in seinen Armen zusammenbrach. Sie wusste nicht einmal, warum sie weinte, nur dass sie sich auf eine seltsame Weise von ihrem Gott missbraucht fühlte. Mit Leichtigkeit nahm Shaljel sie auf den Arm und trug sie in ihre Hütte, wo er sie behutsam aufs Bett legte. Dabei flüsterte er leise in ihr Ohr. Doch obwohl Ohnfeder die Worte verstand, konnte sie den Sinn nicht erfassen:
„Er meint es gut. Er kann nur vieles nicht mehr verstehen. Eigentlich hat er früher schon nicht alles verstanden. Gräme dich nicht. Ich bin bei dir. In zwei Tagen sind wir auch schon wieder da. Es wird dir nichts geschehen. Er hält seine Hand über dich. Er will dir nicht wehtun. Es wird alles gut. Er hat dich gewählt, weil er dich für die beste Wahl hält. Ganz ruhig. Du bist die stärkste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe. Es wird gut.”
Und unter diesem Schwall an Worten schlief sie schließlich ein.
Der nächste Morgen begann, als wäre nichts geschehen, als wären Shaljel und Streiter niemals da gewesen, als wäre sie niemals vor ihren Gott getreten. Die Onren schnatterten und verlangten nach ihrem Frühstück. Der Hof wollte versorgt, die Nachbarn besucht sein. Sie wusste, dass sie aufstehen musste, um an ihr Tageswerk zu gehen, da niemand anderes sich darum kümmern würde. Sie wollte aber einfach nicht aufstehen. Ihr war elend. Ihr Magen rumorte. Wahrscheinlich war ihr das Essen der Pilzschabers nicht bekommen. Daher stand sie erst auf, als es an ihrer Tür klopfte. Wie die Ankunft Shaljels hatte sich auch seine Abreise offensichtlich schneller herumgesprochen als ein Prophet das Morgengebet aufsagen konnte. Erlfällers Frau war gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Da Erlfäller derjenige ihrer Nachbarn war, der in letzter Zeit am häufigsten gekommen war, um mit Shaljel zu sprechen, machte es nur Sinn, dass seine Familie nun auch daran interessiert war, zu erfahren, wo ihr Gast geblieben war. Doch sobald Grünenmoos ihre Nachbarin um diese Zeit immer noch im Hemd vorfand, löste sich ihre Neugier in ihrer Fürsorge auf und sie begann mit dem Tagewerk, welches Ohnfeder so schmählich vernachlässigt hatte. Nach kurzer Zeit fühlte sich die Hausherrin schließlich doch genötigt, ihre Arbeit anzugehen und ihre Übelkeit war vergessen.
Der nächste Tag begann ähnlich, aber Ohnfeder gelang es, sich aus dem Bett zu quälen und den Brechreiz niederzukämpfen. Sie hatte noch viel zu tun, wollte sie es auch nur halbwegs ordentlich für Shaljel, Streiter und die Menschen haben.
So verging der Tag ohne viele Gedanken an das, was der Gott ihr angetan hatte. Erst als es bereits zu dämmern begann und sie schon fast mit ihren Vorbereitungen zu Ende gekommen war, sollte sie unsanft daran erinnert werden.
Es klopfte an ihrer Tür, denn gegen die Abendkühle hatte sie sie geschlossen. Die Vehemenz verriet sofort Shaljel und noch bevor Ohnfeder ihm öffnen konnte, hatte er die Tür aufgestoßen und war mit einem lauten und fröhlichen „Da sind wir wieder” hereingekommen. Streiter folgte etwas langsamer, da er noch seine Waffe an die Außenwand lehnte. Durch die Tür konnte Ohnfeder hinter dem Chuor drei erschöpfte, abgerissene und dreckige Menschen sehen. Sie warf ihnen einen misstrauischen Blick zu, den nur einer von ihnen überhaupt bemerkte und mit einem schüchternen Lächeln erwiderte. Er sprach schnell und leise mit den beiden anderen woraufhin sich alle drei in ihre Richtung verbeugten. Es schienen zwei Männer und eine Frau zu sein. Die Männer sahen sehr wild aus, da sie ihre Gesichtshaare schon lange nicht mehr entfernt zu haben schienen und die langen, zotteligen Haare bis tief ins Gesicht hingen. Die Haare der Frau waren zu einem engen Zopf nach hinten gezogen, wodurch eine Tätowierung erkennbar wurde, die den oberen Teil ihrer rechten Gesichtshälfte einnahm. Auch waren ihre Ohren mehrfach durchstochen und mit kleinen Holzstücken verziert. Wie Ohnfeder später erfuhr, sah der jüngere der beiden Männer ganz ähnlich unter seinen zotteligen Haaren aus. Keiner von ihnen schien irgendeine Waffe zu tragen, was Ohnfeder erleichterte. Trotz des vielen Schmutzes, des Gestanks, der von ihnen ausging, und der Tatsache, dass sie Menschen waren, schien ein Glanz von ihnen auszugehen, ein Frieden und eine Freude, die sie selbst bei den Priestern der Zurückgebliebenen noch nicht gesehen hatte.
Der Mann, der zuerst zu ihr geschaut hatte, strich sich seine Haare hinter die Ohren und machte einen großen Schritt auf den Eingang der Hütte zu. Dort ließ er sich umständlich auf ein Knie sinken und neigte den Kopf.
„Möge Emaofhias Freiheit auf euch liegen. Wir danken euch, dass ihr uns erlaubt habt, euren Hof zu betreten. Wir fühlen uns geehrt und hoffen, dass wir euch nicht zur Last fallen.” Er sprach in einem Menschendialekt, den Ohnfeder nur verstand, da sie ihren Mann zu Anfang, als sie diesen Hof noch nicht besessen hatten, oft auf seine Handelsfahrten begleitet hatte. Selbst sprach sie ihn jedoch nicht besonders gut.
„Shaljel, sag ihnen bitte, dass ich hoffe, ihnen eine gute Gastgeberin sein zu können. Möge Emaofhias Freiheit auch auf ihnen liegen.” Erst, als sie den Gruß selber aussprach, fiel ihr auf, dass der Mensch sie mit dem Gruß der Aleneshi gegrüßt hatte, nicht mit einem ihrer ungläubigen Grüße. Sie lächelte und deutete ihnen gegenüber eine Verbeugung an: „Ich bin Ohnfeder.”
Und zu ihrer Überraschung und ihrem größten Vergnügen antwortete der Kniende auf fast perfektem Aleneshi: „Ich bin Estron. Man nennt mich den Keinhäuser.”
Die beiden anderen knieten nun ebenfalls nieder und sprachen den Gruß. Auch sie versuchten sich in Ohnfeders Sprache vorzustellen, es gelang ihnen jedoch bei weitem nicht so gut, wie Estron. Dennoch wusste Ohnfeder den Versuch zu schätzen und nickte auch Kam-ma und Tro-ky zu.
„Shaljel, sag ihnen bitte, dass sie hereinkommen mögen.”
Nachdem Shaljel ihre Bitte übersetzt hatte gab Ohnfeder die Tür frei und deutete auf den Tisch, der den Menschen ebenso zu klein sein würde, wie dem Chuor, der sie nur wenig überragte. Als sie zu den drei Fremden hinüberschaute, musste sie mit ansehen, wie Estron nur mühsam wieder auf die Beine kam. Die erste Bewegung des Beines entlockte ihm ein Zischen und sein Gesicht verzerrte sich vom Schmerz. Die beiden anderen eilten ihm zur Hilfe, er lehnte jedoch ab und stemmte sich mit seinem Beutel auf die Füße, um dann langsam aus der Hocke aufzustehen. Einen kurzen Moment fiel das dünne Tuch, welches Estron als Umhang verwendete ein Stück zur Seite und Ohnfeder meinte einen großen Fleck an seiner Hüfte sehen zu können. Ihre Augen suchten Shaljels, der jedoch traurig auf den Keinhäuser blickte. Nachdem jener erst einmal stand und einen ersten Schritt getan hatte, schienen ihm die Bewegungen auch wieder leichter zu fallen.
Sobald die drei Menschen das Haus betreten hatten, verbeugten sie sich erneut gegenüber Ohnfeder und legten ihre Bündel auf einen Haufen neben die Tür. Shaljel warf eines seiner Lächeln in die Runde, welches vergessen ließ, dass er eben noch anders empfunden haben musste.
„Ich bin froh, dass wir wieder da sind. Du hättest dir wirklich nicht so viel Mühe machen brauchen, Ohnfeder. Aber ich bin froh, dass du etwas zum Essen da hast. Ich könnte einen ganzen Bataga verspeisen, wenn ich denn Fleisch essen würde.” Dabei blinzelte er ihr zu, deutete den Menschen, sich zu setzen und lenkte Ohnfeder zu ihrem Platz hin. Er drückte sie förmlich auf ihren Sitz und Ohnfeder war zu erschöpft, um ernsthaft Widerstand zu leisten. Die drei Menschen kamen ebenfalls zum Tisch. Erneut verbeugte sich der ä
lteste, der sich Estron genannt hatte, und blickte die Hausherrin an: „Wir würden gerne den Schmutz des Weges von uns abwaschen, wenigstens von Händen und Gesicht.”
Noch bevor sie antworten konnte war Shaljel mit einer Schale neben ihnen und führte sie zum Brunnen. Kurze Zeit später war er schon wieder im Haus und begann noch ein wenig herum zu werkeln.
„Sie sind nur knapp einer Horde Menschenpriester entkommen. Estron schweigt sich darüber aus, wie sie es tatsächlich geschafft haben, aber die Wunde in seiner Seite spricht dafür, dass es sehr knapp gewesen sein muss.”
„Wie schwer ist er verletzt? Ich hab was an seiner Seite gesehen, dachte mir aber nichts dabei.”
„Er lässt mich einfach nicht an sich ran. Ich hätte die Wunde gerne behandelt, aber er sagt, dass die Natur das ihre schon tun würde.”
„Unbehandelte Wunden werden meiner Erfahrung nach meist nicht besser sondern schlimmer. Eine recht leichtsinnige Einstellung.”
„Du hast vermutlich Recht, aber wenn ich etwas über Estron gelernt habe, dann das, dass er nicht Leichtsinnig sondern nur sehr gläubig ist. Und ich zweifle nicht daran, dass er wieder genesen wird.”
„Ein seltsamer Mann.”
„Ja, ich habe noch niemanden wie ihn getroffen.” Sehr leise, als wenn er mal wieder mehr mit sich selbst als mit irgendjemand anderem sprechen würde, fügte er hinzu: „Die meisten gläubigen Menschen denken nicht mehr an ihre Mitmenschen, zumindest nicht so wie er.”
Nachdem das Schweigen lange genug gedauert hatte, dass Shaljel seine Arbeit hatte beenden können und sich schließlich ebenfalls gesetzt hatte, wandte sich Ohnfeder erneut an ihn.
„Hast du sie auf die Idee gebracht, mich in meiner Sprache zu grüßen und den Gruß der ans Licht gelangten zu verwenden?”
Shaljel blickte kurz zu Streiter, der bisher noch kein Wort gesagt hatte, dann zu Ohnfeder.
„Nein, das war Estrons Idee. Ich bin der Meinung man muss Menschen nicht auch noch dazu auffordern, sich lächerlich zu machen.”
„Ich fand es nicht ..., ach, was auch immer.” Sie war nicht in der Stimmung, gegenüber diesem schmunzelnden Wesen zuzugeben, dass die Menschen sie angenehm überrascht hatten. Aber dies erinnerte sie an ein Gespräch, das sie mit Erdenmoos geführt hatte.
„Shaljel, wie alt bist du eigentlich?” Mit einem Ruck hob Streiter seinen Kopf und schien plötzlich ebenfalls Interesse an dem Gespräch zu entwickeln.
„Waschen die etwa auch noch ihre Kleidung?”
„Nicht auswei...”
„Ah, da kommen sie ja endlich“, und mit einem Sprung war Shaljel auf den Beinen und bei der Tür, um die Menschen erneut die Plätze anzuweisen und sich so um die Antwort zu drücken.
Estron, Tro-ky und Kam-ma sahen erfrischt aus, als hätten sie mit dem Schmutz auch den Teil einer Last abgelegt. Alle drei hatten sich nun die Haare zu einem Dutt gebunden, die Männer an der Seite, Kam-ma hinter dem Kopf. Dazu hatten sie sich Blütenkränze geflochten, die sie sich schon auf die Köpfe gesetzt hatten, was Kam-ma sehr gut stand, bei den Männern für Ohnfeder eher gewöhnungsbedürftig war. Das rot und schwarz der Tätowierungen in den Gesichtern der jüngeren war jetzt deutlich zu sehen und Ohnfeder fragte sich, ob es wohl sehr schmerzhaft gewesen war, die Augenlieder einzufärben. Sie hielten ihre Umhänge in den Händen und legten sie zu ihren Beuteln, bevor sie wieder zum Tisch traten. Estron hielt darüber hinaus noch einen Blütenkranz in der Hand. So traten sie gemeinsam an den Tisch heran und verbeugten sich erneut gegenüber der Hausherrin.
Doch während sich Streiter immer auf einen der kleinen Stühle gezwängt hatte, schoben sie ihre Stühle schlicht zur Seite und knieten sich vor den Tisch, was einen verdutzten Blick des großen Chuor und ein Auflachen Shaljels zur Folge hatte.
Ohnfeder, der es immer noch nicht leicht fiel, echte Freundlichkeit gegenüber den Menschen zu empfinden, rang sich ein Lächeln ab und versuchte sich in ein paar Worten in der Menschensprache: „Greift zu.”
Estron, der sich ihr zunächst gesetzt hatte und damit Shaljel gegenüber saß, reichte ihr mit einem Lächeln den vierten Kranz und sagte: „Wir haben nicht viel zu geben. Nehmt diesen Kranz für euch und euren Nachwuchs als ein erstes Geschenk, dem noch viele Folgen mögen.”
Ein stich fuhr Ohnfeder ins Herz und sie warf ihren Kopf herum, um Shaljel einen wütenden Blick zuzuwerfen. Jener jedoch winkte nur ab und deutete damit an, dass er ihr Geheimnis nicht verraten hatte.
Mit einem feindlichen Blick in die Runde, sprang sie auf und rannte in ihre Kammer, wo sie weinend auf ihrem Bett zusammenbrach.
„Was habe ich getan?” Estron war trotz seiner Verletzung aufgesprungen, um sich bei Ohnfeder zu entschuldigen, wurde aber von Shaljel aufgehalten. „Es ist ihr sehr unangenehm und sie hat es auch noch niemandem gesagt.”
Estron hatte inzwischen genügend Völker kennen gelernt, um zu wissen, dass jedes Volk mit Kindern von Frauen außerhalb fester Bindungen zu Männern anders umging. Daher bedurfte es für ihn keiner weiteren Erklärungen.
„Das tut mir leid, das wusste ich nicht.”
„Ich bin überrascht, dass du es überhaupt bemerkt hast.”
„Mman kann äs rrierren“, mischte sich nun auch Streiter ein, wobei er die Sprache der Aleneshi verwendete. Denn Shaljel hatte zwar Wert darauf gelegt, dass er auch ein wenig die Sprachen der Menschen verstehen lernte, aber sprechen konnte er sie noch schlechter als die seiner Gastgeberin. Shaljel antwortete ihm jedoch in dem Dialekt, den auch Estron und seine Gefährten verstanden.
„Menschen riechen so etwas nicht. Oder hast du es gerochen.”
„Nein. Ich habe sie gesehen und wusste es einfach.”
„Und ihr?” Damit wandte sich Shaljel an Kam-ma und Tro-ky. „Habt ihr es gewusst.”
Kam-ma erwiderte seinen Blick, Tro-ky senkte die Augen jedoch. Beide verneinten sie.
„Si ist säärr wait.”
„Damit war zu rechnen.”
Estron, der die Sprache der Chuor wenigstens zu einem Teil verstanden hätte, konnte dem Aleneshi Streiters nicht folgen.
„Womit war zu rechnen.”
„Dass das Kind weiter ist, als normal gewesen wäre.”
„Die Kinder.”
Shaljel blickte Estron überrascht an.
„Mehrere?”
„Ich bin mir sicher, dass es sechs sind.”
Shaljel warf einen langen Blick auf den Eingang zu Ohnfeders Kammer, in der es still geworden war. Es hätte schon an ein Wunder gegrenzt, wenn sie ihnen nicht zugehört hätte. So leise, dass die anderen nur ein Murmeln hörten, und in einer Sprache, die einem Volk gehörte, welches vor über dreitausend Jahren von der Oberfläche Skeyefarshs verschwunden war, sprach Shaljel mit dem Gott.
„Anai, Anai, wenn du da mal nicht zu viel getan hast.”
*
Es hatte über einen Monat gedauert, bis alle Vorbereitungen getroffen, Botschaften mit mehreren Tempeln ausgetauscht und Bewaffnete ausgestattet waren. Die ganze Zeit über hatte Owithir gehofft, sich vor der Reise drücken zu können. Die Tempel schienen alle Zeit der Welt zu haben, wenn es um Planung und Vorbereitung ging. Er hätte jedoch nicht sagen können, ob er den Aufschub fürchten oder begrüßen sollte. Je länger sie warteten, desto mehr konnte er sich an all die Sachen erinnern, die er in den Seelen der vielen Gefolterten gesehen hatte. Andererseits musste er auf keinem Tier sitzen, so lange er noch im Tempel blieb.
Owithir war kein guter Reiter. Genaugenommen hatte er zuvor nur einmal auf einem Bataga gesessen, als man ihn, beziehungsweise seine Gabe, in einem der anderen Tempel benötigt hatte. Glücklicherweise waren er und Asandarun, der Inquisitor, die einzigen Berittenen, was bedeutete, dass sie langsam reiten mussten. Die Bewaffneten waren zwar anstrengende Fußmärsche gewöhnt, man durfte sie jedoch nicht überanstrengen. Schließlich sollten sie in knapp drei Wochen noch in der Lage sein, zu kämpfen.
Owithir grauste es davor diese lange Zeit mit seinen Begleitern zusammen sein zu müssen. Am liebsten wäre er mit sich allein geblieben, hätte sich in eine Ecke verkrochen, seinen Schmerz, seine Trauer herausgeheult. Die Hohen Priester wussten nicht, w
as sie von ihm verlangten. Oder sie wussten es und es war ihnen gleichgültig.
Vielleicht genossen sie es aber auch.
Hatte er die Menschen, die ihm in den letzten Jahren vorgestanden hatten bisher nur gefürchtet, weil ihre Gedanken schrecklich, ihre Taten noch schrecklicher, ihr Gebaren jedoch so vornehm und Ehrwürdig waren, so hatte er vor zwei Tagen begonnen, sie zu verachten.
Sie hatten ihn immer wieder gezwungen in die Gedanken von gefolterten einzudringen. Oft hatte er dort nur den Schmerz und irgendeine Wahrheit gefunden, die der Mann oder die Frau zu glauben hoffte, damit die Folter endlich aufhörte und der schreckliche Magier, für den sie ihn halten mussten, von ihnen abließ. Er hatte nie viel über die Menschen selbst erfahren, nur Bruchstücke ihrer selbst, nicht mehr den Menschen, die sie vorher gewesen waren.
Bei Imne war es anders gewesen. Er hatte so viele Erinnerungen und Gefühle dieses Mannes aufgenommen, dass er ihn besser zu kennen meinte, als sich selbst. Er war kein übermäßig guter Mensch gewesen, aber er hatte geglaubt, wirklich geglaubt, mehr als Owithir oft von sich oder den anderen Priestern sagen konnte. Das galt sogar, wenn Owithir berücksichtigte, dass Imne eigentlich ein Ketzer gewesen war, der sich mit Magiern eingelassen und ihnen geholfen hatte.
Erst jetzt begriff Owithir, dass es wohl bisher eine Gnade gewesen war, dass er nur gebrochene Seelen hatte lesen müssen. So hatte er niemanden wirklich kennen lernen müssen, niemand war ihm so vertraut geworden. Aber jetzt war es so, als wäre jemand aus seiner Familie gestorben, ein Bruder, den er sein Leben lang gekannt hatte, dessen Vorlieben, Abneigungen und Eigenarten ihm so vertraut waren, als hätte er mit ihm zusammengelebt und ihn aufwachsen sehen.
Das schlimmste war jedoch vielleicht, dass er auch Imnes Familie kennengelernt hatte und wusste, dass er ihr begegnen würde, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. Wenn er Glück hatte, würden er nicht mit ihnen sprechen müssen, mit seiner Frau und den drei Kindern. Asandarun würde dies übernehmen. Dafür und für einige andere Dinge, von denen Owithir hoffte, er hätte sie niemals kennengelernt, war der Inquisitor zuständig. Aber selbst wenn er nicht dabei sein musste, so konnte er sich doch deutlich vorstellen, was mit seiner Frau ... nein, Imnes Frau geschehen konnte, wenn sie nicht sofort alles preisgab. Doch bei der Vorstellung würde es wohl nicht bleiben. Owithir konnte gar nicht so weit weg sein, dass er nicht die Schreie hören und die Schmerzen spüren würde.
Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 22