Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm
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Die Männer bauten sich um ihre beiden Gefangenen auf. Pethen konnte nur verschwommen mit seinen Augen sehen, war sich aber sicher, dass Naebaes grinste. Er konnte nicht sehen, dass es kein nettes Grinsen war, aber er konnte es spüren.
„Es ist gut, dass mein Sohn euch beobachtet hat. Sonst hätten wir nie eure böswillige Täuschung erkannt.“
Pethen hätte gerne etwas darauf geantwortet, aber selbst ohne den Knebel wäre ihm nichts eingefallen. Stattdessen schüttelte er den Kopf, soweit es mit den Kopfschmerzen möglich war.
„Eure häretischen Machenschaften enden hier.“ Naebaes blickte zu Hylei hinüber, die sich zu regen begann. „kümmere dich um sie.“ Er winkte Iosimel, der zu seinem größeren Partner blickte. „Los, bevor sie aufwacht.“ Für einen Augenblick verlor der alte Mann seine überlegene Ruhe und greinte den Söldner an. Iosimel ging zu Hylei hinüber und schlug ihr gegen den Kopf. Es gefiel ihm nicht, eine wehrlose Frau zu schlagen, so viel spürte Pethen.
Von draußen konnte man Menschen arbeiten hören. Naebaes wandte sich wieder Pethen zu: „Eure Seelen werden morgen vom Feuer gereinigt werden.“ Mit einer weitausholenden Handbewegung deutete er in Richtung der Geräusche. Damit schritt er aus dem Stall und zog die anderen Leute hinter sich her, nicht ohne dass der eine oder andere Hylei oder Pethen anspuckte. Nur die beiden Söldner blieben zurück. Iosimel stellte sich neben Hylei und Bakoln positionierte sich am Tor. Gelegentlich gab der Kleinere dem Feenling einen Schlag gegen den Kopf sobald sie sich zu bewegen begann. Pethen zuckte jedes Mal zusammen, wenn er die Bewegung des Kopfes sah.
Er versuchte sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken wurden immer wieder von den Geräuschen gestört, die ihre Henker vor dem Stall verursachten. Inzwischen hatten sie offensichtlich einen Pfahl aufgestellt, denn er konnte hören, wie Dinge über die Erde geschleift und anscheinend auch Holzscheite auf einen Haufen gestapelt wurden.
Dann waren da noch die beiden Söldner, die ihn ablenkten, nicht nur mit den regelmäßigen Schlägen, die sie Hylei zufügten. Allein ihre Anwesenheit beängstigte ihn so sehr, dass er sein Zittern kaum unter Kontrolle bringen konnte. Er wollte nicht sterben, aber noch viel weniger wollte er, dass Hylei starb. Es war seine Schuld. Man konnte es nicht anders sehen. Hylei hatte nie mit den Pilgern zusammenreisen wollen. Er hatte sie überredet. Er hatte die Verhandlungen geführt. Es wäre jetzt an ihm gewesen, sie hier herauszuholen. Aber wie sollte er die beiden Krieger überwinden? Er konnte ja noch nicht einmal seine Fesseln lösen.
Hylei hätte vermutlich mit ein wenig Feuermagie die Fesseln verbrannt, die beiden Männer mit Wasserstrahlen betäubt – sie war immer noch am sichersten mit Wasser – und wäre durch ein herausgebrochenes Brett in der Rückwand geflohen. Sie war so viel Tatkräftiger als er. Sie konnte wirklich in einem Kampf bestehen. Ohne sie wäre er schon lange tot.
Seine Gedanken drehten sich. Es war ihm nicht möglich, einen von ihnen zu fassen. Er hatte einfach so furchtbare Angst. Alles war Angst, nur Angst.
Und da war der eine Gedanke, der zu ihm durchdrang, etwas, dass er versprochen hatte, etwas, dass mit Angst zu tun hatte. Er versuchte sich daran festzuhalten. Angst war kein guter Ratgeber, aber irgendetwas war mit der Angst, das ihm helfen konnte.
Plötzlich traf es ihn. Er war ein Idiot. Plötzlich wusste er wieder, warum sie Hylei immer wieder bewusstlos schlugen. Wie dumm er doch war. Sie hielten sie nicht nur für einen Feenling, sondern auch für eine Magierin. Kein abwegiger Gedanke für Pilger, die von der Kirche vermutlich nichts anderes gelernt hatten. Pethen erinnerte sich düster daran, dass die meisten Halbmenschen generell als Dämonenanbeter betrachtet wurden. Es war also kein großer gedanklicher Sprung von dem Feenling zur einer Dämonenbeschwörerin. Hinzu kam, dass sie hübsch war. Pethen wusste es selbst, auch wenn Hylei sich niemals um ihr Äußeres kümmerte. Komisch, wie sein Verstand sich gerade erdete und wieder in gerade Bahnen geriet. Er verstand jetzt, dass ihre Schönheit sie in den Augen der Gläubigen nur noch mehr dämonisiert hatte. Sie fürchteten, dass Hylei sie verführen konnte. Deswegen musste sie betäubt bleiben. Und deswegen brauchte er keine weiteren Schläge ertragen. Denn so viel wusste jeder über Magier, dass sie sprechen mussten, dass sie ihre Hände bewegten. Gefesselt und Geknebelt war er darum keine Gefahr mehr.
Was sie nicht wissen konnten, was ja nicht einmal seine Meister geahnt hatten, war, dass ihn die zweite Magie durchfloss. Er sah, ohne zu sprechen, er versprühte seine Gefühle, ohne einen Finger zu rühren. Er hatte zwar immer auch mit seinen Händen gezeigt, um seinen Schild zu heben, aber wenn er darüber nachdachte, brauchte er vermutlich nicht einmal das.
Er wurde ruhig. Hätte er nicht gleichzeitig so viel Angst gehabt, hätte er vermutlich gelacht. Wie schnell er doch durch die Verwirrung zur Klarheit gelangt war. Als erstes galt es, sich umzusehen. Es nützte nichts, wenn sie aus dem Stall flohen, um ihren Henkern in die Arme zu laufen. Mit geschlossenen Augen betrachtete er den Raum, sah die beiden Söldnern, die Tiere, und auf einem Haufen neben dem Tor ihre Säcke und Waffen. Wenigstens etwas.
Dann zwang er sich, durch die Ritzen der Wand zu blicken. Durch klitzekleine Ritzen. Es war schwer, Er schaffte es nur bei einem einzigen Loch. Sobald er jedoch hindurch gelangt war breitete sich seine Sicht in alle Richtungen aus und er begriff endlich, dass das Holz kein Hindernis darstellte.
Wie er vermutet hatte, standen die Gäste und ihre Reisegefährten vor den Gebäuden und die rückwärtige Seite waren unbewacht. Insoweit war der Fluchtweg vorgegeben. Nun musste er überlegen, wie er die beiden Söldner überwinden konnte. Seine eigene Angst hinauszusenden war sein erster Gedanke. Er wusste, wie er es machen musste, und Angst zum Teilen hatte er zur Genüge. Ihn selbst würde vermutlich ein solcher Angriff lähmen, Hylei jedoch war nach kurzer Zeit wütend geworden. Selbst wenn er die beiden Wachen auf diese Weise für einen Augenblick beschäftigte, sie waren Krieger und er musste befürchten, dass er anschließend in mehr Schwierigkeiten steckte, als er alleine bewältigen konnte.
Vielleicht konnte er sie mit einem Schild fixieren. Oder vielmehr mit zwei Schilden. Aber selbst wenn es ihm gelang, zwei Schilde gleichzeitig zu halten, konnten sie doch immer noch um Hilfe rufen.
Das einzige, was übrig blieb, war rohe Gewalt. Entweder er schleuderte sie durch den Raum, was Lärm verursachen würde, oder er durchbohrte sie mit einem zugespitzten Schild. Dann musste er sie rücksichtslos töten. Schnell und geräuschlos. War er bereit dazu? Konnte er sie einfach töten? Hylei könnte es.
In diesem Moment sah er, wie die Männer vor dem Stall zurück in die Gaststätte gingen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass keine Frauen unter den Henkern waren. Vielleicht hatten es die Herren ihnen verboten, aber womöglich kamen sie später mit den Männern heraus, wenn die Attraktion begann.
Bakoln und Iosimel richteten sich auf. Pethen sah es mit immer noch geschlossenen Augen. Sie schienen zu lauschen. Schließlich ging Bakoln zum Tor, öffnete es einen Spalt und suchte längere Zeit die Umgebung ab. Dann schloss er die Tür wieder und nickte seinem Freund zu.
Er kam zu Pethen und beugte sich zu ihm hinunter. Sein Mund näherte sich dem Ohr seines Gefangenen. „Hör zu“, sein Atem wehte an Pethens Ohr während er die geflüsterten Worte hörte, „ihr habt uns das Leben gerettet. Ich weiß nicht, warum ihr das gemacht hab, aber Io und ich schulden euch was.“ Bakoln richtete sich ein wenig auf, um Pethen ins Gesicht zu sehen. Der Gefangene öffnete die Augen, nachdem er zuerst den Kopf nur mit geschlossenen Augen angehoben hatte.
„Ich hab‘ keine Ahnung, ob deine Schwester eine Hexe ist oder nicht. Ist mir auch egal. Sie hat uns nichts getan.“ Er blickte zu seinem Freund, der ihm zunickte. „Es gibt sowas wie Ehre.“ Wieder hielt er inne und sah erneut zu Iosimel hinüber, der ihn aufzufordern schien, schneller zu machen. „Ich weiß nicht, warum ich es dir erzähle. Schulden begleicht man einfach. Der alte Wegilos zahlt zu wenig dafür.“ Ein letztes Mal sammelte er sich und sprach dann schneller als zuvor: „Wenn ich dich losmache, will ich keine Scherereien. Nimm sie und flieh in den Wald. Verstanden?“ Pethen nickte, wobei ihm der Kopf erneut schmerzte.
Bakoln g
ing hinter den Balken und zerschnitt mit Sägebewegungen das Seil um Pethens Hände. Anschließend lockerte er so viele der anderen Seile, dass sich der junge Mann selbst herauswinden konnte.
Pethen drückte sich mühsam am Balken hoch. Seine Beine waren taub vom unbequemen sitzen, seine Hände von den Seilen. Seine Arme schmerzten von der ungewohnten Haltung. Er lehnte mit dem Rücken an den Balken und puhlte den Stofffetzen aus seinem Mund. Den Kiefer wieder zu schließen schmerzte. Er fasste ihn mit beiden Händen an und bewegte ihn hin und her. Er wollte sprechen, seine ersten Worte waren jedoch nur Gekrächze.
In der Zwischenzeit löste Iosimel Hylei von ihren Fesseln. Sie sackte einfach nach vorne. Der Söldner machte sich nicht die Mühe, sie aufzufangen. Pethen wankte zu ihr hinüber und richtete sie wieder auf. Er sah ihr ins Gesicht. Iosimel hatte sich bei seinen Schlägen überwiegend auf ihre linke Gesichtshälfte konzentriert. Die Schwellungen waren noch nicht allzu stark, würden aber in den nächsten Stunden immer weiter zunehmen. Er hoffte, dass er seine Gefährtin wecken können würde. Er durfte kaum hoffen, sie schleppen zu können.
„Beeilt euch.“ Hinter ihm stand Bakoln mit einem Eimer voll brackigem Wasser. Pethen tränkte Hyleis Knebel in dem Wasser und wrang ihn über ihrem Kopf aus. Er wiederholte den Vorgang noch mehrmals, bis Hylei mühsam den Kopf zu ihm hindrehte und versuchte, die Hand zu heben. Pethen ahnte, was sie versuchen würde. Er legte seine eigene Hand auf die ihre und flüsterte: „Sie lassen uns laufen.“ Er half ihr auf. Iosimel stand schon mit ihren Taschen bereit. Pethen streifte beide über und reichte die Wurfhölzer an Hylei weiter. Er konnte nichts mit ihnen anfangen, wusste jedoch, wie viel ihr an ihnen lag. Mit ihr über der Schulter und ihrem Speer in der anderen Hand humpelten sie auf die Rückwand zu, wo die beiden Söldner ihnen bereits Bretter zur Seite geschoben hatten. Pethen nickte ihnen zu: „Danke.“
Bakoln schüttelte den Kopf. Als Pethen an ihm vorbeiging und sich mit Hylei durch das Loch drückte, begriff er, was der Söldner alles damit mitteilte, und hoffte, sie würden sich nie wieder begegnen.
Er blickte nicht zurück, während sie sich von dem Stall entfernten und im Unterholz verschwanden. Er hörte nur, ganz leise, wie die Bretter zurückrutschten und konzentrierte seine Sicht nach vorne. Er wollte so weit wandern, wie er Hylei mit sich zerren konnte. Er hoffte, es würde reichen.
*
Die Karavane war in den letzten Tagen weitergewachsen. Der Karawanenführer hatte Tro-ky versichert, dass sie in sechs Tagen Imanahm erreichen würden. Mit dem Tempo, dass Estron und Shaljel für gewöhnlich vorgaben, hätten sie es vermutlich in der Hälfte der Zeit geschafft. Er hatte jedoch nichts dagegen etwas langsamer voranzukommen, abends mit anderen in einem sicheren Lager zusammenzusitzen und sich keine Sorgen darum zu machen, dass man sie entdecken könnte. Es gab zwar immer wieder Herbergen, Aber nur die ersten Händler der Karavane fanden dort Unterkunft. Der Rest baute Abend für Abend das Lager auf. Ihre Gruppe hätte leicht zu den ersten gehören können. Tro-ky hatte kurz darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, in einem Gästezimmer zu schlafen. Aber abgesehen von dem Geld, dass sie dafür hätten bezahlen müssen, und dass sie nicht besaßen, konnte er es sich nicht vorstellen. Ohne dass sie darüber sprechen mussten, wusste er dass es den anderen ähnlich ging. Vermutlich würden sie sich spätestens in der Stadt etwas suchen müssen, aber bis dahin blieben sie ihren stinkigen, versifften Decken treu. Tro-ky musste Lachen.
Eine weitere Nacht verlief ereignislos, wenn man von den paar Besuchern ihres Lagers absah, die immer kamen, wenn neue Händler zur Karawane gestoßen waren. Streiter sprach sich rum und die Lehrlinge und Gesellen konnten meist ihre Neugier auf den Chuor nicht unterdrücken. Mehr war es jedoch auch nie. Sobald sie Streiter in seiner vollen Größe gesehen hatten, waren sie für gewöhnlich bereits wieder auf dem Rückweg zu ihren Meistern. Bisher hatten sich nur zwei in der ganzen Zeit zu ihnen gewagt, um sich mit ihnen zu unterhalten, und das war gleich zu Beginn gewesen. Auch wenn sie sich wohl für den Chuor interessiert hatten, war es am Ende doch Estron gewesen, der das Gespräch geführt hatte.
Der Morgen kam mit dem üblichen Lärm. Shaljel war wie immer als erster Wach, wenn er überhaupt geschlafen hatte. Kam-ma hatte ihn eines Nachts beobachtet, als es an ihr gewesen war, die Wache zu halten. Sie hatte ihn zuerst nur von der linken Seite aus gesehen. Obwohl er ganz ruhig gelegen hatte, war sein Auge die ganze Zeit über offen geblieben. Bei anderen hätte sie vielleicht auf die Atmung geachtet, Shaljel jedoch atmete selbst nach einem langen Marsch kaum mehr als sie, wenn sie am Einschlafen war. Irgendwann war sie aufgestanden, um ein wenig wärme in die Glieder zurückzubringen. Sie war einmal ums Lager gegangen und hatte dabei gesehen, dass Shaljels anderes Auge geschlossen gewesen war. Es hatte noch einige Nächte gedauert, bis Kam-ma sich vollständig sicher gewesen war, aber Shaljel behielt tatsächlich immer ein Auge offen, mal das eine, mal das andere. Als sie Streiter danach gefragt hatte, hatte er nur die Schultern gezuckt und gesagt: „Ärr ist Shalshel.“
Es war erstaunlich, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatten, dass Shaljel kein Aleneshi mehr war. Schwerer war ihnen allen wohl gefallen, sich daran zu gewöhnen, dass dieser menschliche Körper sich nicht wirklich wie ein Mensch verhielt. Er ging wie ein Mensch, er saß wie ein Mensch, er sprach wie ein Mensch. Aber alles, was er tat, war immer ein wenig anders. Seine Schritte hüpften, sein Atmen kam zu selten, seine Stimme überschlug sich. Wenn er sich setzte hatte er oft kaum den Boden berührt, da stand er bereits wieder, schneller als Kam-ma es für möglich gehalten hätte. Das seltsame dabei war, dass er sich nicht anders verhielt als früher, als er noch wie ein Aleneshi ausgesehen hatte. Es war ihr nur nie so aufgefallen, vermutlich, weil sie nicht gewusst hatte, wie sich ein Aleneshi verhalten sollte. Bei einem Menschen wirkte es auf jeden Fall verwirrend und sie bemerkte oft, dass es anderen genau so ging. Sie sah es an den verwirrten Gesichtern, die dem Gestaltwandler zugewendet wurden.
Zum Glück war Shaljel jedoch jemand, dem es leicht fiel, Freunde zu machen, so dass alle über seine Andersartigkeit, die sie an nichts wirklich festmachen konnten, hinwegsahen. Er war sogar beliebt, die Menschen hörten ihn gerne seine Geschichten erzählen, die sie meist für erstunken und erlogen halten mussten, von denen Kam-ma aber annahm, dass sie wohl alle wahr waren. Sie vertrauten ihm, denn er machte ihnen die Reise leichter und sie dankten ihm regelmäßig mit ein paar Nahrungsmitteln, die die Grundlage ihres Frühstücks bildeten, wie auch an diesem Morgen.
Streiter führte bei den Märschen jetzt die Gruppe an. Sie hielten sich in der Mitte der Karavane und versuchten zusammenzubleiben. Nur Tro-ky ging regelmäßig durch die Karavane, manchmal den ganzen Tag. Der große Chuor blieb still, aber das ließ ihm mehr Zeit zum Beobachten. Was er beobachtete, war, dass Kam-ma sich an ihn band, dass Tro-ky deswegen traurig war, anscheinend aber Freude in den Gesprächen mit den Menschen um ihn herum fand. Er beobachtete, dass Estron hingegen einen Teil seiner Freude verloren hatte, seitdem er dem Gott der Aleneshi begegnet war, und dass Shaljel unruhiger wurde, je näher sie der Stadt kamen. Streiter kannte nicht den gesamten Plan, aber genug von ihm, um ihn zu verstehen. Es würde zu Kämpfen kommen, langen, brutalen Kämpfen, einem Krieg. Früher, als er noch nicht die Waffe eines fremden an sich genommen hatte, als er sich noch selbst als Chuor betrachtet hatte, hatte er den Kampf als den Sinn seines Lebens betrachtet, obwohl er noch niemals an einem Teilgenommen hatte. Dann war sein erster Kampf gekommen und seine Verbannung. Seitdem hatte er mehr kämpfen müssen, als ihm lieb war. Zuerst, um zu überleben, später, weil Shaljel ihn trainierte. Er fand nicht einmal mehr an den Scheinkämpfen gefallen. Er wusste, dass er inzwischen ein passabler Krieger war. Shaljel lobte ihn nur selten, aber von dem, was er von Wachen und Söldnern gesehen hatte, denen sie auf ihren Wanderungen begegnet waren, konnte er schließen, dass er sie hätte besiegen können. Nur wollte er nicht mehr kämpfen. Wenn man ihn aber gefragt hätte, was er denn wollte, hätte er geschwiegen. Es wäre sinnlos gewesen, diesen unerfüllbaren Wunsch auszusprechen.
Ohne einen Wunsch, ohne ein eigenes Ziel, folgte er weiter den Wünschen seines Lehre
rs und tat das, was er kannte, das, was er wirklich beherrschte. Leider war das, was er beherrschte, nichts, was er beherrschen wollte. Nicht mehr.
Und so blieb er bei seinen Freunden, auch wenn er fürchtete, dass nichts Gutes daraus entstehen würde. Vor allem für Kam-ma, denn gleichgültig, wohin ihr Weg sie schließlich führen würde, sie würde ihr Glück nicht dort finden, wohin sie ihn begleitete.
Der Karawanenführer nahm weder auf die Schlafgewohnheiten seiner Mitreisenden Rücksicht noch auf ihre Wünsche nach einem ausgiebigen Frühstück. Die meisten waren seinen oder einen ähnlichen Rhythmus gewöhnt, aber einige schimpften selbst noch nach einer Woche. Shaljel sorgte jedoch dafür, dass seine Gefährten rechtzeitig bereit waren und half sogar anderen beim abbrechen ihrer Zelte. Estron hingegen hielt sich scheinbar zurück. Wo Shaljel auftauchte zog er gleich die Aufmerksamkeit von fünf oder zehn Menschen auf sich. Der Keinhäuser hingegen sprach mit einzelnen. Warum er gerade mit diesen und nicht mit anderen sprach, hätte keiner seiner Gefährten zu sagen vermocht, mit Ausnahme von Tro-ky, der in den Gesprächspartnern etwas zu erkennen meinte, dass sie offen für Estrons Worte machte. Deswegen blieb er auch oft in der Nähe seines Meisters, wenn dieser jemand Neuen gefunden hatte. Estron wusste, dass sein Schüler jedoch nicht lange dem Gespräch folgen würde, denn er hatte es bereits zu oft gehört, auf die eine oder andere Art. Er verstand ihn. Es war nicht, dass der Keinhäuser falsches sagte, aber auch die Wahrheit kann ermüdend sein, wenn man immer wieder hörte, wie jemand von ihr überzeugt werden musste.
Estron fühlte sich nicht ganz wohl mit dem, was er tat. Früher war er von Ort zu Ort gezogen und hatte mit denen gesprochen, die mit ihm sprechen wollten. Er hatte sich ihren Themen gefügt. Wenn er damals Menschen davon überzeugt hatte, dass der Weg des Glaubens, den die Tempel vertraten, nicht der einzige war, dann war es eine erfreuliche Nebenerscheinung gewesen. Jetzt hingegen arbeitete er aktiv darauf hin, seine Gesprächspartner auf seine Seite zu ziehen. Er wusste, dass er Recht hatte, deswegen fühlte es sich jedoch nicht besser an.