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Faded Duet 1 - Faded - Dieser eine Moment

Page 22

by Julie Johnson


  Ich muss mich verabschieden und einen Bus erwischen.

  Ich finde Isaac dort, wo ich ihm zum ersten Mal begegnet bin – hinter der Theke, wo er mit einem weißen Lappen im Halbdunkeln Gläser poliert. Er dreht sich herum, als er hört, wie die Tür des Pausenraums nach innen aufschwingt, und beobachtet, wie ich schweigend hindurchtrete. Als er den Gitarrenkoffer in meiner Hand und den über meine Schulter geschlungenen Rucksack entdeckt, zieht er die Augenbrauen hoch.

  »Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen«, brummt er. »Man sollte nie Sänger einstellen. Sie verlassen immer ohne Vorwarnung das verdammte Schiff.«

  »Es tut mir leid, Isaac. Ich gehe wirklich nur ungern. Besonders nach allem, was Sie für mich getan haben.«

  »Ach, zum Teufel, ich kann nicht mal behaupten, dass ich überrascht bin. Du bist hier als Minderjährige unter falschem Namen aufgetaucht, hattest keine Unterkunft und eine gewisse Vorliebe dafür, schwarz und in bar bezahlt zu werden …« Er zuckt mit den Schultern. »Ich wusste, dass eine ziemlich große Chance bestand, dass du eines Tages einfach abhauen würdest, ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen.«

  Ich blinzle. »Sie wussten das alles und haben mich trotzdem eingestellt?«

  Er brummt erneut.

  »Aber … warum?«

  »Wegen deiner Großmutter«, gibt er mürrisch zu.

  Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf. »Sie kennen meine Oma?«

  »Bethany Hayes ist eine Frau, die man nicht vergisst, wenn man ihr einmal begegnet ist, auch nicht nach vierzig Jahren.« Isaac verzieht die Lippen. »Wie geht es ihr? Das Letzte, was ich hörte, war, dass sie drüben im Elmwood ist …«

  »Sie ist nicht mehr dieselbe. Sie wird nie wieder dieselbe sein.« Meine Augen brennen. »Aber sie singt immer noch.«

  »Das freut mich. Deine Großmutter war einer der ersten großen Stars, die sich bereit erklärten, hier aufzutreten, als ich den Laden damals vor vielen Jahren eröffnete. Sie brachte auch all ihre berühmten Freunde mit. Sie half mir wirklich dabei, mir einen Namen zu machen.« In seinen Augen flackert unerwartete Wärme auf. »Ich dachte mir, dass ich ihr einen Gefallen schuldig bin. Vermutlich mehr als nur einen.«

  »Nach allem, was Sie für mich getan haben, denke ich, dass sie sicher zustimmen würde, dass Sie beide jetzt quitt sind.« Ich lege den Kopf schief, als mir ein Gedanke kommt. »Woher wussten Sie, dass ich ihre Enkelin bin?«

  »Das schlussfolgerte ich, als du deine Cousine Devyn erwähntest. Außerdem …« Er verzieht die Lippen zu einem seltenen Lächeln. »Hast du je ein Foto von deiner Großmutter gesehen, als sie in deinem Alter war? Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.«

  »Wirklich?«

  Er nickt und geht zur Kasse hinüber. Ich sehe schweigend zu, wie er einen kleinen Stapel Scheine herauszieht und ihn mir hinhält. Als ich keinerlei Anstalten mache, das Geld zu nehmen, seufzt er. »Komm schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

  »Ich werde kein Geld von Ihnen annehmen, Isaac.«

  »Sei nicht arrogant. Das passt nicht zu dir.«

  »Aber …«

  »Das ist die übliche Abfindung. Du hast dir das Geld verdient. Du bist eine gute Kellnerin und arbeitest hart. Nimm es, bevor ich es mir anders überlege.«

  Ich lege die Finger um die Geldscheine. Ich hasse es, Almosen anzunehmen, aber wenn man bedenkt, dass ich die Busfahrkarte und mindestens eine Übernachtung in einem Motel bezahlen muss, brauche ich das Geld mehr, als ich zugeben will.

  »Danke, Isaac«, flüstere ich mit belegter Stimme. »Für die Stelle, für das Zimmer, für alles. Ich werde niemals in der Lage sein, Ihnen Ihre Freundlichkeit zu vergelten.«

  »Ach, zum Teufel damit.« Er reibt sich den Nacken, der schnell rot wird. »Das war doch nichts.«

  »Es war nicht nichts.«

  Er wirft mir seinen strengsten Blick zu. »Pass auf dich auf, Kleine. Das ist eine verrückte Welt da draußen. Und wenn du je wieder nach Nashville kommen solltest … wartet hier ein Job auf dich. Ich hoffe, dass du das weißt.«

  Ich verlasse Nashville genau so, wie ich vor Monaten angekommen bin – als einfaches Mädchen mit einer Gitarre, das einmal mehr ziellos umhertreibt. Nur dass ich dieses Mal ein Leben zurücklasse, das ich mir aufgebaut habe. Ein Leben, das ich gemocht habe.

  Mein Kummer lenkt mich so sehr ab, dass ich nicht einmal merke, dass mir jemand folgt, während ich in der brennenden Nachmittagshitze in Richtung Bushaltestelle gehe.

  21. KAPITEL

  Ryder

  Mein Stift schwebt über dem Vertrag.

  Unterschrift, Datum und Paraphe.

  Laceys mädchenhafte Unterschrift steht bereits auf der Linie neben meiner. Sie hat aus dem i-Punkt in ihrem Nachnamen ein gottverdammtes Herz gemacht. Ich bezweifle, dass sie den Vertrag überhaupt komplett gelesen hat, bevor sie ihren Namen auf das Papier gemalt hat.

  Ich kann spüren, wie sie alle wenige Schritte von mir entfernt am anderen Ende des Konferenzraums lauern. Lacey, Becca, Chris, Clay. Sie alle warten darauf, dass ich ihnen meine künstlerische Freiheit mit einer Unterschrift übergebe, im Austausch für eine gewaltige Summe Geld. Mehr als ich je erwartet hätte.

  Wie Clay vorhergesagt hatte, waren die Vorstandsmitglieder von Red Machine von unserer gestrigen Präsentation begeistert. Sie sahen mit Gier in den Augen zu, wie Lacey in ihren extrem knappen Hotpants durch den Raum stolzierte, und zählten bereits die Einnahmen, die sie ihnen mit einem Pop-Country-Crossover-Album einbringen würde, das aus den Lautsprechern jedes Radios von Los Angeles bis Miami schallen würde. Ich steuerte brav meinen Hintergrundgesang bei und spielte meine Akkorde, während irgendein Schlagzeuger, dem ich nie zuvor begegnet war, hinter mir Lincs Solo verunstaltete.

  Willkommen bei der Plattenfirma.

  Als Clay die Champagnerflasche öffnet, ertönt ein lautes Ploppen, und Schaum sprudelt hervor.

  »Ein Toast!« Er macht sich daran, die Champagnerflöten zu füllen. »Auf den Unabhängigkeitstag! Und natürlich auf unsere neuesten Künstler bei Red Machine Records.«

  »Hört, hört!«, tönt Becca kichernd.

  »Lacey, wir würden gerne sofort damit anfangen, die Werbetrommel für dich zu rühren, sogar noch bevor wir uns daranmachen, das Album zu produzieren«, erklärt Clay. »Deine Präsenz in den sozialen Medien ist enorm wichtig. Das Gleiche gilt für die Interaktion mit den richtigen Leuten, nun, da du hier in L. A. bist. Es geht darum, wer deine Freunde sind, mit wem du Zeit verbringst, was für Klamotten du trägst … Das ist genauso wichtig wie die Musik. Heutzutage ist es vielleicht sogar noch wichtiger.«

  Was zum Teufel könnte wichtiger sein als die Musik?, denke ich, doch meine Partnerin nickt einfach nur – wie ein hohler blonder Wackeldackel, der jedem Wort zustimmt, das aus Clays Mund kommt, als wäre es so wahr wie das Amen in der Kirche.

  »Keine Sorge«, mischt sich Becca ein. »Ich habe bereits dafür gesorgt, dass ihr heute Abend auf den Gästelisten für ein paar der besten Partys in der Stadt steht. Ihr werdet mit einigen der schillerndsten Stars in Hollywood verkehren, wenn das Feuerwerk losgeht. Ich persönlich würde euch empfehlen, zu Grayson Dunns Grillparty drüben in Malibu zu gehen. Alle wichtigen Leute werden dort sein.«

  Alle wichtigen Leute.

  Wer zum Teufel redet denn so?

  Lacey quietscht in einer so hohen Frequenz, dass ich überrascht bin, dass die Fenster nicht zerbersten. »Hast du Grayson Dunn gesagt? Der Grayson Dunn? Der Kerl, der vom People Magazine zum Sexiest Man Alive gewählt wurde? Der Star aus Break Even und Break Down?«

  »Genau der.«

  »Oh. Mein. Gott.« Lacey klingt, als würde sie jeden Moment einen Anfall erleiden. »Da gehen wir auf jeden Fall hin!«

  »Toll! Die Party beginnt mit Einbruch der Dämmerung und wird die ganze Nacht lang dauern. Sobald die Verträge unterschrieben sind, werden wir dich und Ryder in ein paar neue Klamotten stecken, die etwas …«, Becca macht eine vorsichtige Pause, »besser zu der Marke passen, die wir kreieren wollen.« />
  Lacey quietscht erneut und scheint kein Problem damit zu haben, ihre Identität einfach so gegen eine komplett neue einzutauschen, die Red Machine propagiert. Ich frage mich, in was für ein angesagtes Outfit sie mich stecken wollen. Vermutlich in eine Skinny Jeans und einen verdammten Fedora.

  Viel Glück dabei, ihr Arschlöcher.

  »Ryder, komm schon! Warum brauchst du denn so lange?« Lacey seufzt ungeduldig. »Beeil dich, ich will shoppen gehen.«

  Mein Stift berührt das Papier, und an der Federspitze sammelt sich Tinte. Für einen Moment beobachte ich, wie sich der schwarze Tintenfleck ausbreitet, und denke an all diese Nullen am Ende meines Vorschusses sowie an all die Dinge, die ich mir mit diesem Geld kaufen könnte …

  Und dann denke ich an die Tatsache, dass ich das Einzige, was ich wirklich will, nicht kaufen kann.

  Ich lege den Stift weg, richte mich zu meiner vollen Größe auf und straffe die Schultern, während ich von Clay zu Lacey schaue.

  »Es tut mir leid. Ich kann das nicht tun.«

  Alle verstummen. Die Champagnerflöten verharren auf halbem Weg zu ihren Mündern. Chris hört tatsächlich auf, auf seinem Handy herumzutippen, und schaut hoch.

  Clay blinzelt langsam und scheint nicht zu begreifen, was hier gerade passiert. »Was genau können Sie nicht tun?«

  »Ich kann diesen Vertrag nicht unterschreiben.«

  »Wie bitte?« Er wirkt vollkommen verblüfft.

  »Danke für Ihre Zeit und dafür, dass Sie mich haben herfliegen lassen. Für alles. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

  »Warten Sie!«, ruft mir Clay hinterher. »Ryder, wenn es wegen des Vorschusses ist, können wir Ihnen mehr Geld besorgen …«

  »Es geht mir nicht um das Geld.« Ich bleibe auf der Türschwelle stehen. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss los.«

  Ich muss jemanden treffen.

  Als ich zur Tür hinausgehe, zupft ein Grinsen an meinen Mundwinkeln. Ein echtes gottverdammtes Grinsen, zum ersten Mal seit meiner Abreise aus Nashville. Ich sollte mich vom Ausmaß dessen, was ich aufgebe, vermutlich erdrückt fühlen … Doch als ich durch den Flur gehe, dessen Wände mit eingerahmten Platinplatten geschmückt sind, fühle ich mich einfach nur frei.

  »Ryder!«, kreischt Lacey und rennt hinter mir her. Sie holt mich gerade noch ein, bevor ich den Aufzug erreiche. In ihren Augen blitzt unverhohlene Wut auf. »Was zum Teufel hast du vor?«

  »Das habe ich doch gesagt. Ich gehe.«

  »Bist du verrückt? Geh wieder in diesen Konferenzraum, und entschuldige dich bei Clay!«, zischt sie und umklammert meinen Arm mit ihren pinkfarbenen Krallen. »Bring das in Ordnung, bevor sie beschließen, dass wir die Mühe nicht wert sind, und uns fallen lassen!«

  Ich beiße die Zähne zusammen und greife nach unten, um ihre Fingernägel mit Gewalt von meiner Haut zu lösen. »Lacey … Das alles war von Anfang an falsch. Wir hätten niemals herkommen sollen. Nicht ohne Aiden und Lincoln. Wir hätten die Band niemals auflösen sollen. Wenn du das nicht begreifen kannst, weiß ich nicht, wie ich es dir beibringen soll.«

  »Oh, heul mir nicht die Ohren voll! Du und dein blutendes Herz fangen wirklich an, mich zu langweilen.«

  »Das ist dein Plan – du willst mich beleidigen, bis ich meine Meinung ändere und mich bereit erkläre zu bleiben?« Ich schnaube. »Lass mich wissen, wie gut das für dich funktioniert hat.«

  Sie starrt mich finster an. »Du wirst das bereuen.«

  »Vielleicht.« Ich zucke mit den Schultern. »Aber ich würde es sehr viel mehr bereuen, mit dir hierzubleiben.«

  »Das liegt daran, dass du nicht klar denkst.«

  »Tatsächlich ist mein Kopf noch nie klarer gewesen.« Ich wende mich von ihr ab und drücke auf den Knopf, um den Aufzug zu rufen.

  Ein frustrierter Schrei zerreißt die Luft. »Niemand, der bei klarem Verstand ist, lässt sich so viel Geld entgehen, Ryder. Niemand.«

  »Vor ein paar Wochen hätte ich dir vielleicht noch zugestimmt. Verdammt, womöglich hätte ich dir sogar vor ein paar Tagen noch zugestimmt. Aber Geld ist nicht alles, Lacey. Man muss erst etwas verlieren, das man nicht kaufen kann, um das zu erkennen.«

  »Ist dir klar, wie sehr du mir gerade mein Leben versaust?« Ihre Miene flackert, und zum ersten Mal sehe ich unter ihrer wütenden Fassade so etwas wie Angst.

  »Ich versuche nicht, dir dein Leben zu versauen. Du kannst bleiben. Du hast den Vertrag bereits unterschrieben. Nur zu, produziere ein Album mit Red Machine. Füll deinen Kleiderschrank mit Klamotten, die sie für dich aussuchen. Füll dein Sozialleben mit Leuten, die sie gutheißen. Ich hoffe, dass dich das glücklich macht.«

  »Sie werden mich ohne dich nicht wollen! Du schreibst alle meine verdammten Lieder!«

  Ich zucke mit den Schultern. »In Los Angeles gibt es jede Menge Leute, die Lieder schreiben, Lacey. Such dir jemanden.«

  »Das kannst du mir nicht antun!« Sie kreischt. »Du kannst mich nicht einfach verarschen, weil du deine kostbare Freundin vermisst. Du kannst nicht alles aufgeben, weil du in Nashville unter dem Pantoffel einer unscheinbaren kleinen Kellnerin stehst. Tu uns beiden einen Gefallen – fahr mit diesem Aufzug zur nächstbesten Bar runter, schnapp dir die erste heiße Frau, die dir über den Weg läuft, und vögele sie so lange, bis du wieder klar denken kannst, bevor du unser beider Leben ruinierst.«

  Ich hatte vor, ruhig zu bleiben. Höflich. Selbst nachdem sie sich in meinen Arm gekrallt und mich mit jeder Beschimpfung bedacht hat, die Teil ihres durchaus etwas beschränkten Vokabulars ist. Doch sobald sie ihr Gift gegen Felicity verspritzt, ist es mit meiner Höflichkeit vorbei.

  Ich lehne mich dicht an sie heran und senke meine Stimme zu einem Flüstern.

  »Das sind meine Lieder, Lacey. Sie gehörten nie dir. Du bist nur ein Sprachrohr in Hotpants.«

  Sie steht immer noch da und starrt mich mit offenem Mund an, als ich in den Aufzug steige und mich auf den Weg nach unten zum Ausgang mache.

  Ich muss ein Flugzeug erwischen.

  Den ganzen Flug über trommele ich rastlos mit den Fingern auf den Armlehnen des Sitzes herum. Die Frau auf dem Sitz neben mir beobachtet mich misstrauisch, als würde sie denken, dass ich jeden Moment das Flugzeug entführen könnte. Ich kann nicht mal die Energie aufbringen, um ihr ein beruhigendes »Ich bin kein Terrorist«-Lächeln zu schenken. Ich bin zu nervös, um still zu sitzen.

  Viereinhalb Stunden haben sich noch nie so verdammt lang angefühlt.

  Während des gesamten Flugs quäle ich mich mit Gedanken daran, wie sehr ich die Sache mit Linc und Aiden verbockt habe.

  Wie konnte ich nur so ein verdammtes Arschloch sein?

  Das Geld und die nicht zu leugnende Verlockung, meinen Namen in Leuchtschrift in den Stadien im ganzen Land zu sehen, haben mich geblendet. Ich war so sehr darauf fixiert, mir selbst – und meinem Vater – zu beweisen, dass Musik keine Sackgasse ist, dass ich genau an die Leute geriet, die alles zerstört hätten, was ich am Musikmachen liebe. Aber ich würde lieber leidenschaftlich mit meinen besten Freunden in Spelunken spielen, als Millionen mit Radioeinheitsbrei mit Lacey zu verdienen.

  Ich werfe einen Blick aus dem Fenster, während mir die hämischen Worte meines Vaters durch den Kopf gehen.

  Und wenn du dann mit eingekniffenem Schwanz hierher zurückgeschlichen kommst, nachdem dir die echte Welt in die Eier getreten hat, erwarte ja nicht, dass dieser Job dann noch auf dich wartet.

  Er wird denken, dass ich versagt habe, dass ich ohne Plattenvertrag zurück nach Hause krieche. In Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall. Wenn ich in L. A. geblieben wäre, wäre ich genau wie er – ein Sklave des Mannes, der Geschäft über Leidenschaft stellt. Geld über Musik. Und ich hege nicht den Wunsch, einem Alkoholiker mit einem kurzen Geduldsfaden und einer doppelten Hypothek nachzueifern, der sein einziges Kind aus seinem Leben verbannt hat, weil dieses Kind es gewagt hat, seiner festgefahrenen Weltsicht zu widersprechen.

  Ich schüttle den dünnen Flugzeugplastikbecher und trinke den le
tzten Schluck Whiskey in der Hoffnung, dass er meine Nerven ein wenig beruhigen wird. Doch es bringt nicht das Geringste. Ich weiß nicht mal, was mich zu Hause in Nashville erwartet. Ich weiß nicht, ob ich den Schaden, den ich angerichtet habe, wiedergutmachen kann. Während die Kilometer zwischen mir und meinem Ziel schwinden, fühlt sich der Druck in meiner Brust immer mehr wie ein Amboss an, der auf meiner Lunge lastet. Ich kann kaum atmen.

  Ich hatte noch nie zuvor eine Panikattacke, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gerade eine durchlebe.

  Ich werfe einen Blick zu der Frau auf dem Sitz neben mir, um sicherzugehen, dass sie schläft. Dann ziehe ich meine Geldbörse aus meiner Hosentasche und schüttle eine der kleinen weißen Pillen, die mir Becca gegeben hat, aus dem Fach, in dem ich normalerweise Kondome aufbewahre. Sie bezeichnete sie als »Muntermacher«, aber ich habe festgestellt, dass sie mich eher entspannen als aufputschen. Sie waren das Einzige, was mir dabei half, ruhig genug zu bleiben, um Lacey zu ertragen, während ich in L. A. war. Hoffentlich werden sie mich auch jetzt ausreichend beruhigen, damit ich nicht ausraste.

  Ich winke eine Flugbegleiterin heran und bestelle einen weiteren Whiskey, um die Pille hinunterzuspülen.

  Noch zwei Stunden.

  Es fühlt sich eher wie zwei Jahre an.

  Sie ist mein erster Halt.

  Ich rede mir ein, dass ich zum Loft fahren sollte, um die Sache mit Aiden und Linc zu klären, bevor ich irgendetwas anderes mache. Doch dann sage ich dem Taxifahrer, dass er mich vor dem Nightingale absetzen soll. Ich laufe die Treppe zu ihrem Zimmer über der Bar hoch und hämmere halb von Sinnen gegen ihre Tür. Ich erhalte keine Reaktion. Nach einer Minute werfe ich einen Blick durch ihr Fenster. Sorge packt mich wie ein Schraubstock, als ich sehe, wie leer es im Inneren aussieht. An der Wand lehnt keine Gitarre, auf dem Nachttisch liegt keine silberne Armbanduhr, in dem Plastikbecher auf der Kommode sind keine frischen Blumen. Sogar die Bandposter sind von den Wänden entfernt worden.

  Wo zum Teufel ist sie?

  Ich renne die Treppe hinunter, biege in die Gasse ein und stoße die Hintertür der Bar auf. Der Laden hat noch nicht geöffnet, aber ich finde Adam in seinem Büro vor, wo er sich verkrochen hat. Er starrt mich finster an, als ich ohne Aufforderung hineinstürme.

 

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