Richard ist schön. Er sieht klug aus, reflektiert. Andere würden ihn vielleicht langweilig oder zu glatt finden. Ich sehe ihn einfach gerne an. Und er duftet. So gut!
»Was?«, fragt er grinsend, als ihm auffällt, dass ich ihn anstarre.
»Ich mag dein Gesicht«, sage ich.
»Ich mag dein Gesicht«, erwidert er, streckt erneut seine Hand aus. Doch diesmal lässt er seine Finger an meiner Wange entlangwandern.
Ich schließe die Augen, genieße die Berührung. Wünschte, wir wären nicht an einem öffentlichen Ort, sondern in meinem Schlafzimmer. Seit zwei Monaten gehen wir auf zwanglose Dates. Seit einer Woche sind wir richtig zusammen. Und dennoch haben wir noch nicht miteinander geschlafen. Wir haben andere Sachen gemacht. So ziemlich alles, was man tun kann, ohne dass sich die Genitalien berühren. Und langsam wird es Zeit.
»Hast du Lust, nach dem Essen mit zu mir zu kommen?«, frage ich und beiße mir auf die Unterlippe.
»Gern«, sagt er, und in seinen Augen blitzt etwas auf.
»Ich will mit dir schlafen«, flüstere ich und sehe ihn erwartungsvoll an.
»Ich auch mit dir«, sagt er leise und beugt sich über den Tisch, um mich zu küssen. »Aber ich bin noch nicht so weit.«
Es kostet mich einiges an Anstrengung, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Sex ist für mich etwas sehr Intimes. Etwas sehr Persönliches«, sagt er. »Ich mag dich. Sehr. Aber wenn ich mit dir schlafe, soll es etwas heißen. Eine schnelle Nummer, triebgesteuertes, bedeutungsloses Herumbumsen – das bin ich nicht. Das sind wir nicht.«
Ich schlucke. Es ist das, was ich mit Curtis hatte. Der Plan, ihm davon zu erzählen, ist erst mal in weite Ferne gerückt. Ich fühle mich nicht gut damit, etwas vor Richard geheim zu halten, doch ich will, dass wir eine Chance haben. Die Blueberry Pancakes müssen noch ein bisschen warten. Kurz habe ich ein elend schlechtes Gewissen. Aber dann fällt mir ein Artikel ein, den ich neulich gelesen habe, in dem es darum ging, dass man in den ersten Monaten einer Beziehung nie so richtig man selbst ist. Dass man die Marotten und schlechten Angewohnheiten versteckt. So lange, bis das Vertrauen groß genug ist, bis die Partnerschaft stabil genug ist, um den Murks zu verkraften. Curtis ist mein Murks, und ich beschließe hier und jetzt, Richard den seinen sofort zu verzeihen, wenn es so weit ist.
»Aber wir können andere Dinge machen«, sagt er.
»Ja«, erwidere ich lächelnd.
Vom Cochon ist es ein knapp dreißigminütiger Fußweg zu meiner Wohnung in der Burgundy Street am Rand des French Quarter. Der Weg führt uns vom Warehouse District mit seinen verlassenen oder wiederbelebten großen Hallen, den die Gentrifizierung in den letzten Jahren langsam für sich entdeckt hat, Richtung Canal Street. Wir schlendern in gemächlichem Tempo auf die Wolkenkratzer des touristischen Zentrums zu, die Gehwege sind gesäumt von kleinen Magnolienbäumen.
»Erzähl mir von deiner Familie«, sagt Richard.
»Was willst du denn wissen?«
»Ich will wissen, wo du herkommst. Dich noch besser kennenlernen. Wie war es, auf einer Farm aufzuwachsen?« Er verwebt seine Finger mit meinen, und ich grinse in mich hinein.
»Ich mochte die Tiere«, sage ich. »Ich mochte es, dass die Familie immer beisammen war. Aber irgendwie, also, es war nicht mein Ding. Und meine Eltern haben das auch irgendwann mitbekommen.«
»Wie war das für sie?«
»Seltsam, glaube ich. Meine Lehrer hatten schon ein paarmal mit ihnen darüber gesprochen, dass ich massiv unterfordert war. Und dann kam dieser Mathematik-Wettbewerb für die neunten Klassen. Da war ich elf und gerade in der sechsten. Als ich den ersten Platz im gesamten Bundesstaat Mississippi belegte, wurde uns allen klar, dass meine Zukunft wohl nicht die Farm sein kann.«
»Glaubst du, es war ein Schock für sie?«, fragt Richard.
»Ein Schock nicht wirklich. Ich glaube, ich habe es einfach immer wieder geschafft, ihre Erwartungen zu unterwandern. Seit dem Tag meiner Geburt. Sie hatten mit einem Jungen gerechnet. Meine Mom war sich hundertprozentig sicher. Sie wollten ihren Sohn Amory nennen, nach meinem Großvater mütterlicherseits. Na ja, dann kam ich auf die Welt, aber der Name ist geblieben.«
»Waren sie enttäuscht?«
»Nein. Enttäuscht waren sie nie. Immer wieder überrascht, das ja. Und dann haben sie ihre Pläne einfach angepasst. Beispielsweise noch ein Kind gemacht, als sie eingesehen haben, dass das mit mir und der Farm nichts wird. So bin ich zu meinem kleinen Bruder gekommen.«
Wir erreichen die Canal Street, die auch an einem Wochentag voller flanierender Menschen ist. Die hochgewachsenen Palmen wiegen sich leicht im Wind. Teure Hotels, Touristenläden und Restaurantketten locken zu jeder Tages- und Nachtzeit Besucher an.
»Und? Wird er die Farm übernehmen?«, fragt Richard.
»Bislang hat er zumindest noch keine anderen Ambitionen«, sage ich und denke daran, dass Nicky sich zu Weihnachten vor zwei Jahren einen Lego-Bauernhof gewünscht hat. Weihnachten. Aus dem Augenwinkel sehe ich Richard an, und auf einmal wird mir ganz warm. Vielleicht habe ich dieses Jahr zu Weihnachten das erste Mal seit Langem einen Freund. Das erste Mal seit Leo, dem Fremdgänger. Ich sehne mich danach, die romantischste Zeit des Jahres zu zweit verbringen zu können.
Wir machen einen Bogen um die Bourbon Street, biegen rechts in die Dauphine ab. Hier, eine Querstraße weiter, ist es deutlich ruhiger. Es gibt nur vereinzelte Bars, vor denen Leute herumlungern und rauchen.
»Erzähl mir irgendwas Lustiges über dich«, sage ich. »Irgendwas Besonderes.«
»Was Besonderes? Oh wow, das ist schwierig.« Er denkt kurz nach. »Was ist denn mit dir?«
»Okay, pass auf«, sage ich, »ich bin besessen von Tierdokumentationen. Besonders liebe ich die von David Attenborough. Planet Earth und so.« Das war früher Nickys und mein Ding. Dann wurde es zu Esmés und meinem Ding. Und vielleicht kann es jetzt zu Richards und meinem Ding werden. Denn ich will das mit uns beiden so sehr. Will, dass es funktioniert. Weil ich das Single-Dasein einfach satthabe.
Eine Pferdekutsche kreuzt unseren Weg. Das Klingeln der Glöckchen am Halfter, das Klappern der Hufe ist ein allgegenwärtiges Geräusch im French Quarter. Ebenso wie grölende Betrunkene und laute Brass Bands, die durch die Straßen ziehen. Ich liebe die Lebendigkeit. Die Sorglosigkeit, die das Viertel ausstrahlt. Mach das Beste aus dieser Nacht, denn wer weiß, ob wir morgen nicht von einem Hurrikan weggefegt werden, scheint es zu sagen.
Manchmal kommt es mir so vor, als hätte die Stadt selbst Narben von all den Katastrophen, die sie schon überlebt hat. Dabei sind es nur die Menschen, die mit Dämonen aus der Vergangenheit zu kämpfen haben. Menschen wie Curtis. Doch im French Quarter, in der Musik, in der Kunst finden sie alle zu einem Kollektiv zusammen. Zu einer Menge, die sich bei der Heilung unterstützt, bis ein neues Unglück sie wieder auseinanderreißt. Die Stadt selbst ist eine tickende Zeitbombe. Genauso wie manche ihrer Bewohner.
»Richard! Kumpel!«, sagt Curtis mit übertriebener Begeisterung und klopft ihm dreimal fest auf den Rücken. Richards gequältem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, etwas zu fest. »Schön, dich endlich mal wiederzusehen.«
Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu, doch Curtis zuckt nur mit den Schultern.
»Da ist ein Brief für dich gekommen«, sage ich und reiche ihn Curtis in der Hoffnung, dass er damit abgelenkt ist. Aber er faltet ihn zusammen und stopft ihn in seine hintere Hosentasche.
»Na? Was habt ihr Turteltauben heute Schönes angestellt?«
Ich seufze innerlich. Denn natürlich weiß ich, was er hier tut. Er zieht uns auf, ohne dass Richard es merkt, ohne dass er sich wirklich etwas zuschulden kommen lässt.
»Willst du nicht wissen, was in dem Brief steht? Sieht wichtig aus«, versuche ich es noch mal.
»Wir waren im Cochon «, sagt Richard und folgt blöderweise Curtis’ einladender Geste ins Wohnzimmer. Er ahnt wohl nicht, dass er in sein eigenes Verderben rennt.
»Das klingt ja mega «, sagt Curtis. »Erzähl mir mehr davon.«
Wenn Blicke Schmerzen verursachen könnten, würde Curtis sich jetzt jaulend auf dem
Boden winden.
»Irgendwas Offizielles aus Marigny«, nehme ich einen letzten Anlauf, doch Curtis ignoriert mich.
Stattdessen erzählt Richard von seinem Aperitif und unserem Essen. Er ist ganz euphorisch, während er darüber spricht, und ich hasse es, dass Curtis sich über ihn lustig macht.
»Hast du heute keine Bandprobe?«, frage ich von meinem Platz neben der Tür aus. Im Gegensatz zu Curtis und Richard habe ich es mir nicht auf einem der Sofas gemütlich gemacht, weil ich eigentlich so schnell wie möglich in mein Zimmer verschwinden will. Mit Richard. Tickende Zeitbombe.
»Ausgefallen«, sagt Curtis. »Habt ihr Lust auf einen Gute-Nacht-Drink?«
»Lass den Scheiß«, forme ich mit den Lippen an Curtis gewandt. Richard sitzt mit dem Rücken zu mir, sodass er es nicht sehen kann. »Denk an den Brief«, sage ich laut.
Curtis wirft mir einen vollkommen unschuldigen Blick zu, macht aber tatsächlich Anstalten, sich das Schreiben noch mal anzusehen. Sein Verhalten nervt mich. Deswegen lehne ich mich über das Sofa, auf dem Richard sitzt, und lege von hinten meine Arme um seinen Hals. Ich beginne ihm sanfte Küsse auf seine Schläfe, seine Wange, seinen Mundwinkel zu hauchen.
»Süße«, sagt er leise lachend und versucht sich zu mir umzuwenden.
»Ach, da fällt mir ein, ich habe leider noch was Wichtiges vor«, sagt Curtis. Der Schalk ist aus seinem Blick gewichen, und an dessen Stelle blitzt so etwas wie Wut auf.
»Okay«, sagt Richard, »dann beim nächsten Mal.«
Curtis erhebt sich mit dem Brief in der Hand vom Sofa, und kurz darauf hört man, wie die Wohnungstür zugeknallt wird.
»Dein Mitbewohner ist ein bisschen seltsam«, sagt Richard.
»Ich weiß. Er … hatte eine blöde Woche.«
»Glaubst du, er mag mich nicht?«
»Curtis mag niemanden. Außerdem ist es doch völlig egal. Ich mag dich, darauf kommt es an.« Ich beiße ihn sanft in sein Ohrläppchen. »Gehen wir in mein Zimmer?«
Richard nickt. Und auch wenn wir immer noch nicht miteinander schlafen, freue ich mich auf seinen Körper. Auf seine Berührung. Denn mit jedem Mal, das wir uns näherkommen, überschreiben wir gemeinsam eine Erinnerung an Curtis’ Berührungen. Schaffen unsere eigene Vergangenheit, unsere eigene Gegenwart und damit auch eine Chance auf eine wundervolle, dramafreie, bombenentschärfte Zukunft zu zweit.
4
Curtis
Sehr geehrter Herr Sullivan,
einige Bewohner der Nachbarschaft in Marigny haben sich über den Zustand Ihrer Immobilie 704 Mandelville Street beschwert, der nicht nur die Ästhetik und das Ansehen des Viertels in Verruf bringt, sondern auch die Maßnahmen zur Stadthygiene und Schädlingsprävention konterkariert. Hiermit möchten wir Sie darauf hinweisen, dass Häuser in einer derart beliebten Lage auf dem Immobilienmarkt hoch im Kurs stehen, sollten Sie sich mit dem Gedanken tragen, zu verkaufen. Andernfalls sehen wir uns gezwungen, den offiziellen Weg einzuschlagen und unsere Anwälte einzuschalten.
Mit freundlichen Grüßen
Guy Livingston
Faubourg Marigny Improvement Association
Ich liege auf Jaspers Couch, auf der ich die letzten Nächte verbracht habe, weil ich keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, und lese den Brief zum ungefähr siebzehnten Mal. Und mit jedem weiteren Lesen wächst die Wut in mir. Mit freundlichen Grüßen, dass ich nicht lache! Mit beschissenen Grüßen wohl eher. Wer sind diese Menschen? Warum interessiert es sie, was ich mit meinem Haus mache? Mit meinem verdammten Haus?
Ich bin seit Jahren nicht dort gewesen. Jahre, in denen ich beinahe verdrängt habe, dass es existiert. Dass das, was ich dort hatte, existierte. Damit bin ich eindeutig besser gefahren.
Verkaufen. Das hätten sie wohl gerne. Dass ich mein Haus verkaufe. Damit ein Investor sich das Grundstück unter den Nagel reißt? Luxussaniert? Und dann ein Yuppie-Pärchen sein New-Orleans-Partyhaus daraus machen kann, das es für den Großteil des Jahres über Airbnb vermietet? Sicher nicht, Guy Livingston, du hässliche Made. Vielleicht sollte man die Schädlingsprävention mal auf dich loslassen.
Warum müssen verwöhnte, gelangweilte Menschen ständig fremder Leute Angelegenheiten zu ihren eigenen machen? Was ist das für eine Sucht, anderen zu sagen, was sie falsch machen? Was sie optimieren können? Wie sie sich besser verhalten? Was für ein Aufwand, wenn man bedenkt, wie einfach es ist, sich um seinen eigenen Scheiß zu kümmern.
Doch während ich darauf warte, dass Weston und Maya ins Wohnzimmer gestürmt kommen, um wie jeden Morgen auf meiner Brust herumzuspringen, finde ich auf einmal die Idee reizvoll, einen Ausweichort für mich zu schaffen. Selbst wenn es mein Elternhaus ist. Denn immerhin laufe ich dort nicht Gefahr, mir eine Rippenprellung zuzuziehen oder einem Weichei à la Richard zu begegnen.
Das Wellblech quietscht, als ich es zur Seite schiebe. Dahinter ist es. Mein Haus. Mein einstiges Zuhause. Oder besser gesagt: meine Ruine. In den ersten Jahren nach Hurrikan Katrina bin ich überhaupt nicht hergekommen. Meine Großmutter hatte es mir verboten, und ich war ein zu großer Schisser, als dass ich mich ihr in diesem Punkt widersetzt hätte. Sie kümmerte sich außerdem darum, dass das Haus leer geräumt wurde. Alles, was an uns als Familie erinnerte, wanderte in den Müll. Nicht, dass noch viel intakt gewesen wäre. Nicht, dass man irgendwas davon noch hätte brauchen können. Aber an manchem hingen Erinnerungen. Das war vermutlich genau der Grund, warum sie es loswerden wollte. Der Schmerz war zu groß. Am liebsten hätte sie das komplette Haus einfach abgerissen und das Grundstück verkauft. Doch das konnte sie vergessen. Ich sagte Nein, und dabei blieb es.
Ich habe keine Ahnung, was ich damit eigentlich soll. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt, das Dach ist an einer Stelle löchrig und nur mit einer Plane notdürftig abgedeckt. Die Tür, die früher leuchtend gelb war, hängt seit Katrina windschief in den Angeln. Jetzt in einer Farbe, die nach Klärwerk aussieht. Marigny wurde vom Wasser weitgehend verschont, der Sturm war es, der die alten Irish Channel Houses verheerte. Aber die Substanz ist gut. Und deswegen steht mein Elternhaus noch. Versteckt hinter Wellblech. Für niemanden sichtbar außer für mich.
Die Veranda ist noch intakt. Wenn ich früher hierherkam, setzte ich mich meistens auf die oberste Stufe, trank ein Bier und vergrub den Kopf in meinen Händen, bis es mir zu blöd wurde. Selten wagte ich mich ins Innere des Hauses.
Früher. Früher schreckte mich der Gedanke ab, dass das Haus nie wieder so werden würde, wie es mal war. Derart kitschigen Gefühlskram habe ich allerdings hinter mir gelassen. Es bringt einen ja doch nicht weiter. Heute ist es einfach nur der Schandfleck von Marigny, schätze ich. Mein Schandfleck.
Auf der Tür prangt das große rote X, das die FEMA , die Federal Emergency Management Agency, auf jedes Haus sprayte. Oben die Zahl 912. Das Datum. Der zwölfte September. An diesem Tag waren sie hier, fanden niemanden. Keine Toten, keine Überlebenden, wie die zwei großen Nullen unten verkünden. Dabei habe ich überlebt. Ein paar Meilen weiter westlich in Metairie bei meiner Großmutter. Im Gegensatz zu meinen Eltern. Links befindet sich das Kürzel der Taskforce »CaTF «. Die rechte Ecke ist leer. Keine Risiken entdeckt.
Ich schiebe die Tür auf, sie macht ein scheußlich schleifendes Geräusch auf dem nackten Boden. Drinnen ist es dunkel. Durch die brettervernagelten Fenster fällt nur hier und da ein feiner Lichtstrahl. Das hier war unser Wohnzimmer. Ich erinnere mich noch daran, wo das Sofa stand, wo der Fernseher. Abgesehen von einem Geröllhaufen aus undefinierbarem Schrott, ist der Raum leer. Es riecht etwas modrig. Mit der Handytaschenlampe leuchte ich die gelbliche Wand hinauf an die Decke. Spinn- und Staubweben hängen herab.
Durch einen schmalen Flur gelange ich ins Schlafzimmer meiner Eltern. Es ist so lange her, dass es mir vorkommt wie eine andere Welt. Auch dieser Raum ist leer, abgesehen von einem zerbrochenen Bilderrahmen in der hinteren Ecke. Der Regen, der auf den Sturm folgte und durch die kaputten Fenster in alle Ritzen drang, hat das Foto unkenntlich gemacht. Vermutlich zeigte es meine Eltern. Vielleicht war sogar ich mit darauf.
Die Küche ist der unversehrteste Raum. Einige Schränke hängen noch an der Wand, der Her
d steht nach wie vor an seinem Ort. Daneben die Spüle. Ich spiele am Wasserhahn, aber natürlich haben sie dem Haus das Wasser abgedreht. Durch die Hintertür blicke ich nach draußen in den Garten. Dort stand mein Trampolin.
Mit langsamen, hallenden Schritten gehe ich in den Flur zurück und zu der schmalen Treppe, die nach oben führt. In mein Zimmer. Schmutz knirscht unter meinen Schuhen, das Geländer ist staubig. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich in mein altes Zimmer vorwage. Wenn überhaupt, ist das der einfachste Teil. Erinnerungen an unser Familienleben sind unangenehm. Erinnerungen an mich selbst als kleines Kind jucken mich nicht. Hier oben ist jedoch das Dach an einer Stelle eingestürzt. Es hängt einfach so bis auf den Boden herunter, als hätte es eine Pause gebraucht. Als hätte es das Gewicht einfach nicht mehr ausgehalten. Verständlich, finde ich.
»Curtis?«, ruft eine Stimme von unten. Es ist Link. Ich habe ihn gebeten, herzukommen.
»Ich bin hier oben«, gebe ich zurück.
»Alter, das ist nie und nimmer bewohnbar.«
»Noch nicht«, erwidere ich, als ich wieder unten bin.
»Schau dir das an! Es ist feucht, es ist dunkel, es ist eine absolute Katastrophe.«
Ich habe Link angerufen, weil er nicht sonderlich anspruchsvoll ist, wenn es um Wohnraum geht.
»Hast du nicht vor Kurzem noch in leeren Lagerhallen gehaust?«, frage ich wenig beeindruckt von seinen Bedenken.
»Aber die waren wenigstens …« Er hält kurz inne. »Okay, berechtigter Einwand.«
Aus meiner Tasche hole ich zwei Flaschen Bier, schraube sie auf und reiche Link eine davon.
»Bevor du noch irgendwas sagst«, beginne ich, »dieses Haus wird nicht abgerissen.«
»Okay«, sagt Link.
»Es ist meins, und ich will es behalten.« Die Vehemenz, mit der ich es sage, erstaunt selbst mich.
»Okay.«
»Ich will retten, was zu retten ist.«
Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition) Page 3