Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)
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Ich öffne WhatsApp und schreibe eine kurze Nachricht an meine Mom, in der ich sie daran erinnere, wie toll sie ist. Dann scrolle ich durch meine Kontakte, schicke einen positiven, bestärkenden Text an meine Kolleginnen. Bei einem Namen in meiner Kontaktliste halte ich kurz inne. Meine ehemalige beste Freundin. Esmé. Die sich vollkommen respektlos verhalten hat, als sie mit meinem festen Freund geschlafen hat. Kurz überlege ich, ihr dennoch zu schreiben. Aber dann sperre ich mein Handy wieder und widme mich meinen Freundinnen im Hier und Jetzt.
»Habt ihr Lust, noch tanzen zu gehen?«, fragt Bonnie, als wir den Sekt ausgetrunken haben.
»Hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ja!«, erwidert Franzi.
»Was meinst du damit?«, will ich wissen.
»Bevor ich hierhergekommen bin, war Tanzen nicht mein Ding. Ich hab mich immer steif gefühlt. Beobachtet.«
»Das macht die Welt manchmal mit einem«, pflichte ich ihr bei.
»Was hat sich verändert?«, fragt Bonnie.
»Ich glaube, ich habe gelernt, dass es mir egal sein kann, was andere über mich denken.« Sie zuckt mit den Schultern. »Manche brauchen länger für so was. Und nun sehe ich dabei vermutlich immer noch alles andere als sexy aus, aber steif fühle ich mich nicht mehr.«
Im Vape prescht Bonnie sofort auf die Tanzfläche, schiebt sich zwischen Körpern hindurch, bis sie einen Platz gefunden hat. Hier ist sie in ihrem Element. Musik, Rhythmus, NOLA -Sound. Wenn dieser Ort ein Gesicht hätte, für mich wäre es Bonnies.
Franzi und ich quetschen uns ebenfalls durch die Menschen, bis wir Bonnie erreicht haben. Wir bewegen uns im Takt, lassen alle Hemmungen fallen. Wir sind ausgelassen, wild.
»Ich finde, du siehst absolut bezaubernd aus, wenn du tanzt«, rufe ich Franzi ins Ohr.
Sie grinst. »Danke. Aber so smooth wie bei euch wird es in diesem Leben nicht mehr.«
»Wie gesagt, wir vergleichen uns nicht. Außerdem«, rufe ich über die Musik hinweg, »kommt es nicht darauf an, wie du dabei aussiehst, sondern wie du dich dabei fühlst. Beim Tanzen …« Ich hole kurz Luft. »… geht es darum, dass es dir Spaß macht. Nicht irgendwelchen Spannern, die dich dabei beobachten.«
Franzi lacht. »Weißt du, was?«, sagt sie. »Ich glaube, das habe ich jetzt erst begriffen.«
8
Curtis
In der nächsten Zeit versuche ich mich um meinen eigenen Scheiß zu kümmern. Ich gehe allem aus dem Weg, was einen Würgereiz in mir auslöst – inklusive Amory und Richard. Obwohl mir die beiden kaum egaler sein könnten. Ich verlasse früh die Wohnung, arbeite auf meiner Baustelle. Hugo war Feuer und Flamme, mit uns an dem Haus zu werkeln. Kündigte Gefallen an, die er einlösen würde.
Den eingestürzten Teil des Dachs habe ich mit Links und Hugos Hilfe bereits abgetragen, die neuen Balken, mit denen wir den Dachstuhl flicken und die von Hugo professionell abgemessen, gekürzt und eingepasst wurden, lagern unter einer Plane vor der Veranda und warten darauf, an Ort und Stelle montiert zu werden. Das haben wir uns für kommendes Wochenende vorgenommen. Die Abende verbringe ich mit After Hours im Proberaum der Tremé-Musikschule oder im Cat’s Cradle. Danach bin ich dankenswerterweise meistens körperlich so verausgabt, dass ich bis zum nächsten Morgen in einen tiefen, traumlosen Schlaf falle.
Am Freitag treffen wir uns zu einer Bandprobe. Jasper hat Weston und Maya dabei. Sie tragen überdimensionale Ohrenschützer gegen die laute Musik und machen Hausaufgaben, während wir an Songs schrauben und jammen. Die Stimmung ist gespannt, denn wir warten seit ein paar Wochen auf einen Anruf von Al Avril, dem Besitzer des Palace of Sound. Er hat uns einen Gig als Vorband in Aussicht gestellt. Es ist eine ziemlich große Sache, denn die Liste der Bands, aus denen etwas geworden ist, nachdem sie mit Al zusammengearbeitet haben, ist lang. Jeder weiß, dass diverse Musikproduzenten und Label-Besitzer im Palace of Sound Stammgäste sind. Ein Auftritt dort könnte also unser Durchbruch sein.
»Und wenn wir einfach selbst noch mal nachhaken?«, fragt Link. »Uns in Erinnerung bringen, zeigen, wie groß unser Interesse ist?«
»Ich für meinen Teil würde Al Avril nicht auf die Nerven gehen«, sagt Sal. »Was man so über ihn hört, ist er nicht unbedingt zimperlich, wenn es darum geht, Bands abzuschießen.«
»Was genau hat er gesagt?«, fragt Jasper. »Ich weiß, ich war dabei, aber ich war nicht unbedingt Herr meiner Sinne.« Er wirft Bonnie einen Blick zu, und ich wende mich ab.
»Dass er sich meldet, wenn er was für uns hat.«
»Und das wird passieren«, sagt Sal. »Kerle wie Avril stehen zu ihrem Wort. Sonst könnten sie in einer Stadt wie New Orleans nicht zur lebenden Legende werden.«
Link seufzt. »Wahrscheinlich hast du recht.« Dann nickt er mir zu, das Zeichen, den Song, an dem wir gerade arbeiten, noch mal einzuzählen.
Ich beginne sanft, baue langsam die Spannung auf, indem ich erst den Besen kreisen lasse, dann vorsichtig das Becken antippe. Mein Fuß wippt auf und ab, um mit der Hi Hat einen Grundrhythmus zu erzeugen. Bonnies Kontrabass setzt ein, und mit einem vorsichtig orchestrierten Fill fordere ich die anderen auf, uns zu folgen. Ich skippe die Downbeats, nutze sie lediglich hier und da zum Akzentuieren, um den Anschein einer fließenden Vorwärtsbewegung zu geben. Ich liebe dieses Gleichgewicht zwischen Zurückhaltung und Ausbruch. In der Zurückhaltung verlangt das Schlagzeug mir alles ab, während die Ausbrüche Erleichterung verschaffen. Es ist ein konstanter Wechsel zwischen Unterdrückung und Erwachen. Zwischen Sich-Verstecken und Man-selbst-Sein. Und jedes Mal reize ich es aus bis ins Unerträgliche, um dann alle Hemmungen fallen zu lassen. Um das zu zeigen, was in mir steckt, denjenigen zu zeigen, der in mir steckt. Für diese Ausbrüche lohnt es sich zu leben. Denn das sind die Momente, in denen ich mich frei fühle. In denen ich fühle.
»Hast du Lust, mit uns zu essen?«, fragt Bonnie wenig später, als wir im Aufbruch begriffen sind. Sie blickt mich offen und verständnisvoll an.
Kurz fühlt es sich an wie eine gute Idee. Gesellschaft, eine Mahlzeit. Aber ich weiß genau, was sie vorhat, und auf ihre Mitleidsscheiße kann ich verzichten.
»Ich will mich nicht in eure Familienidylle drängen«, sage ich deswegen und grinse.
»Bist du sicher?«, fragt Jasper. »Du bist herzlich willkommen.«
Ich bin mir sicher. Ich brauche keine heile Welt um mich herum, um mir meiner Unzulänglichkeiten bewusst zu sein. Das kriege ich allein auch wunderbar hin. Ich habe die Dinge schon immer mit mir selbst ausgemacht. Und nur, weil Bonnie denkt, ich hätte irgendwelche ungelösten Probleme mit mir oder der Welt, bedeutet das nicht, dass ich mich zum Affen mache und mir herzerwärmende Geschichten aus den Fingern sauge, damit meine Freunde sich danach besser fühlen.
»Ich bin verabredet«, sage ich deswegen. »Hab ein heißes Date klargemacht.« Das ist gelogen. Aber erstens ist es nicht unwahrscheinlich, und zweitens könnte ich wirklich jemanden aufreißen. Die Lüge nachträglich verifizieren. Wie zum Beweis zücke ich mein Handy. »Ja, ich sollte echt los.« Ich schnappe mir meine Sachen und mache mich auf den Weg nach draußen in die schwüle Abendluft.
Im Lou’s spielt eine Zydeco-Band. Eigentlich ist dieses fröhliche Geschnarre nicht unbedingt meine Musik, aber Wanda spendiert mir zu meinem Lager einen Wodka – mehr als Grund genug, um hierzubleiben. Ich setze mich an die Bar, beobachte die anderen Gäste. Ein paar alte Alkis, die jeden Abend hier abhängen, ein paar kleine Gruppen, die durch die Musik angelockt wurden. Es ist leicht, zu unterscheiden, wer aus New Orleans kommt und wen es nur für ein paar ausgelassene Tage hierher verschlagen hat. Wer seine Sorgen für den Moment hinter sich lässt und wer aus dem Sumpf nicht mehr herauskommt. Ich bin irgendwo dazwischen, denke ich. New Orleans ist meine Heimat, doch ein Zuhause habe ich nicht. Denn dort, wo ich lebe, poppt Richard meine Mitbewohnerin.
»Warum siehst du so traurig aus, mein Schatz?«, fragt Wanda und lehnt sich über den Tresen, um mir mit der Hand über die Wange zu streichen. Ihr massiges Dekolleté legt sie auf dem hellen Holz ab, sodass man den Eindruck hat, es könnte jeden Augenblick aus ihrem knallengen Oberteil hinauswallen.
»Sehe ich trau
rig aus?«, frage ich und nehme einen Schluck von meinem Bier. »Das ist sicher nur die Müdigkeit. Lange Woche.«
»Du musst auf dich achtgeben.« Wanda wirft mir einen besorgten Blick zu.
Ich grinse schief. »Mach dir um mich keine Gedanken.«
Sie stellt mir eine Schale mit Erdnüssen hin, und ein warmes Gefühl durchflutet mich. Es ist nett, umsorgt zu werden. Es ist schön, dass Wanda sich kümmert. Um mich. Nicht, dass ich es nötig hätte, aber es hat etwas beruhigend Mütterliches.
»Krieg ich noch einen?«, frage ich und schwenke mein Shotglas. Eigentlich hatte ich vermutlich genug. Ich merke, dass meine Wahrnehmung langsamer wird. Meine Bewegungen zielloser. Aber ich nähere mich dem Zustand der absoluten Entspannung, dem Zustand, in dem mir keiner etwas kann. Und das ist gut. Das ist, was ich brauche. Was ich will. Noch ein oder zwei Bier, einen Wodka, dann kann ich gut schlafen.
»Bist du heute ganz allein unterwegs?«, fragt Wanda, als sie zwei volle Gläser vor mich stellt.
»Jep«, sage ich.
»Was machen deine Freunde?«
Ohne dass ich es will, schnaube ich. »Die sind zusammen glücklich.«
»Oh, Baby«, erwidert Wanda und bekommt wieder diesen Ausdruck im Gesicht, der sagt, dass es ihr nicht egal ist.
»Juckt mich nicht, weißt du? Ich freu mich, dass die alle jemanden haben. Sind gute Menschen. Haben’s sicher verdient.«
»Du wirst auch nicht ewig allein bleiben«, sagt Wanda und kneift mir in die Wange. »So hübsch und klug, wie du bist.«
Ich lache auf. Ein etwas bitteres Lachen. »Na ja«, sage ich, denn ich bin alles andere als ein guter Fang. Ich kann ja nicht einmal eine verdammte Affäre am Laufen halten.
In meinem Hals bildet sich ein Kloß, den ich mit dem Wodka hinunterspüle. Dann exe ich das Bier. »Sollte wohl mal ins Bett. Muss morgen ein Dach decken«, nuschle ich und klatsche Wanda ein paar Scheine auf den Tresen. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, mein Schatz«, sagt Wanda und lächelt mich an.
Warum zur Hölle kommt der Kloß zurück? Habe ich ein Geschwür im Hals?
Draußen fummle ich eine Zigarette aus der Packung und stecke sie mir an. Die Straße ist voller Leute. Sie prosten sich zu, klappern mit billigen Perlenketten aus Plastik. Auf den verschnörkelten Balkons der Bars und Hotels johlen und grölen Touristen. Die gesamte Bourbon Street lebt. Sie strahlt, wie nur New Orleans strahlt, riecht, wie nur New Orleans riecht, klingt, wie nur New Orleans klingt. Einzig ich stehe irgendwie verloren am Rand.
»Hey, lass das«, höre ich auf einmal eine Frauenstimme ein paar Meter weiter.
Ich sehe, dass ein groß gewachsener Kerl versucht, einem Mädchen in kurzen Hotpants ein paar Perlenketten umzuhängen. Ihre Freundin steht einen Meter weiter und sieht sich nach Hilfe um.
»Zier dich doch nicht so, Süße«, sagt er. An seiner gedehnten Aussprache höre ich, dass er auch schon einiges getrunken hat.
Sie schiebt ihn von sich weg, aber er ist hartnäckig und nähert sich ihr erneut.
»Alter!«, rufe ich. »Lass die Lady in Ruhe.«
Einer seiner Kumpels dreht sich zu mir um und reckt blöde grinsend den Daumen in die Luft.
Auf einmal fühle ich mich hellwach. Adrenalin rauscht durch meinen Körper. »Verpisst euch«, rufe ich und straffe die Schultern.
In wenigen Sekunden bin ich bei ihnen. Die Hände zu Fäusten geballt, bereit, zuzuschlagen. Fest zuzuschlagen. Ich schubse den besoffenen Vollidioten ein Stück zur Seite, sodass die beiden Mädchen die Chance haben abzuhauen. Er ist dichter, als ich dachte, und klatscht einfach auf den Boden. Ich bin beinahe ein bisschen enttäuscht.
»He, du Penner«, sagt der andere Typ und will schon auf mich zukommen, doch da tauchen zwei Cops aus der Seitenstraße auf.
»Gibt’s ein Problem?«, fragt der eine.
»Die beiden haben uns belästigt«, sagt das Mädchen in Hotpants. »Und er«, sie zeigt auf mich, »hat uns geholfen.«
»Das war sehr mutig, junger Mann«, sagt der Cop.
Ich versuche mich an einem Lächeln, aber es gelingt mir nicht so recht. Ich bin enttäuscht. Hätte den beiden Schwachmaten gern die Fresse poliert. Doch mit Cops in der Nähe ist es wohl besser, dass es dazu nicht gekommen ist. Trotzdem: Die angestaute Energie, die Frustration steckt in mir. Braucht ein Ventil.
»Wir gehen jetzt schön alle ins Bett«, sagt der zweite Cop.
Es nervt mich, dass er uns über einen Kamm schert. Aber als ich ein paar Schritte mache, fällt mir auf, dass ich definitiv nicht noch mehr trinken sollte. Der Adrenalinrausch ist vorbei, und meine Schritte sind ein bisschen zu ausladend. Also beschließe ich, einmal in meinem Leben auf einen verdammten Bullen zu hören. Weil er zufällig recht hat.
Der Weg in die Burgundy Street dauert erstaunlich lang. Ich bin langsamer und dichter, als ich erwartet hatte. Die Kippe, die ich mir anstecke, tut ihr Übriges. Schon beim ersten Zug schwankt die Welt, sodass ich die Zigarette angewidert auf den Boden werfe.
»Die ist doch noch gut«, sagt eine heisere Stimme hinter mir, und ich sehe, dass aus einem Hauseingang ein Obdachloser auf den Gehweg schleicht und die Zigarette an sich nimmt.
An der Wohnungstür habe ich einige Schwierigkeiten, meinen Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ich nerve mich selbst in meiner Unbeholfenheit. So hübsch und klug, kommt es mir in den Sinn, und ich muss unkontrolliert vor mich hin lachen. Wanda hat so was von überhaupt keinen Plan. Aber sie meint es gut. Und mein irres Lachen erstirbt. Stattdessen ist der Kloß in meinem Hals wieder da, macht das Schlucken schwer. Schlau, dass ich die Zigarette weggeworfen habe. Rauchen ist sicher nicht gut, wenn man ein Geschwür im Hals hat. Der dämliche Schlüssel fällt mir aus der Hand, und als ich mich danach bücke, stoße ich mir den Kopf an der Tür.
»Schhhhh«, mache ich, lege mir den Finger auf die Lippen und bin einen Moment ganz still. Dann lache ich wieder, weil mir auffällt, dass der Krach von mir selbst stammt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich endlich das Schloss geknackt. Nee, aufgeschlossen. Knacken tun Einbrecher. Aber ich wohne hier. Habe das Recht, die Tür mit meinem Schlüssel aufzuschließen. Egal, ob Richard das gefällt oder nicht.
Ich schnaube, als mir dieser Idiot einfällt. Saint Richard ist sicher nie dicht. Außer er erwischt einen Smoothie, der schon gegoren ist. Ein leises Lachen entfährt mir. Zumindest hoffe ich, dass es leise war. Ich halte mir die Hand vor den Mund, um so wenig Lärm wie möglich zu machen, gerate allerdings irgendwie aus dem Gleichgewicht und muss mich an dem wackligen Regal festhalten, in dem Amory ihre Schuhe aufbewahrt. Ein Paar fällt auf den Boden, weil mein Aufprall doch etwas heftiger war als erwartet. Morgen habe ich sicher einen blauen Fleck an der Schulter.
»Shit«, flüstere ich und taste im Dunkeln erfolglos nach Amorys Schuhen. Sie wird sicher sauer, wenn sie sie auf dem Fußboden findet. Erneut muss ich lachen, weil ich schon wieder auf dem Boden nach etwas taste, was mir runtergefallen ist. In meiner Hosentasche fische ich nach meinem Handy, schalte die Taschenlampe ein, finde die Schuhe und richte mich mühsam wieder auf, um sie an ihren Platz zurückzustellen.
Meine eigenen Schuhe kicke ich von den Füßen. Zu spät merke ich, dass ich wohl nicht mehr Herr über meine Kräfte bin, sodass der eine etwas zu fest gegen die Wand knallt. Fuck, bin ich betrunken.
In diesem Moment geht Amorys Zimmertür auf.
»Was zur Hölle, Curtis!«, faucht sie. Wie eine Katze. Wie Hilbert, wenn er Richard sieht.
»Sorry«, flüstere ich, aber das Flüstern klingt echt laut. Deswegen sage ich noch mal ganz leise: »Sorry.«
»Weißt du, wie spät es ist?« Sie hat ihre Zimmertür hinter sich geschlossen.
»Spät?«, rate ich.
»Es ist gleich drei Uhr.«
»Ups.«
»Ja, ups. Vielleicht wollen andere Menschen schlafen.«
»Andere Menschen ?«
»Richard und ich?« Oh-oh, sie klingt wirklich sauer. Das tut mir leid. Ich wollte Amory nicht aufwecken. Richard ist mir egal, aber Amory war immer nett zu mir. Immer. Nett.
Ich reiße mich zusammen und gehe auf sie zu. »Es t
ut mir leid, Am«, sage ich.
Erst jetzt fällt mir auf, dass sie wieder nur ein dünnes Spaghettiträgertop trägt. Und sehr kurze Schlafshorts. Alter, wieso ist sie so heiß, wenn sie neben Richard liegt? Ich schlucke. An dem Kloß vorbei, der mit jeder Sekunde wächst.
»Glaubst du, ich sterbe?«, frage ich, denn ich mache mir ernsthaft Sorgen um meinen Hals.
»Was redest du für einen Unsinn?« Amory klingt nach wie vor sauer, aber ihr Tonfall ist ein bisschen sanfter. Schöner. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sehe sie jetzt ganz. Sehe sie. Sehe sie an. Fuck.
»Wenn ich sterbe, kommst du dann zu meiner Beerdigung?«, frage ich. Auf einmal ist es mir ungeheuer wichtig, dass sie da ist.
»Du solltest wirklich ins Bett gehen«, sagt sie.
Ich nicke brav. Das sollte ich wirklich. Ich sollte … ins Bett. Doch wie kann ich das, wenn sie hier steht und so aussieht?
9
Amory
»Aber was, wenn ich nicht mehr aufwache?«, fragt Curtis. Er lallt leicht.
»Warum solltest du nicht mehr aufwachen?«, frage ich, lehne mich an die Wand neben dem Schuhregal und verschränke die Arme vor der Brust. Mir ist kalt. Am liebsten würde ich zurück ins Bett gehen. Doch solange ich auf ihn aufpasse, weckt er wenigstens nicht auch noch Richard auf.
»Wärst du traurig, wenn ich nicht mehr aufwachen würde?«
»Natürlich. Aber wie kommst du denn auf so was?« Obwohl es dunkel ist, sehe ich, dass es ihm nicht gut geht. Und nicht nur, weil er betrunken ist. Er sieht vollkommen verloren aus, wie er hier so mit trübem Blick leicht schwankend in unserem Flur steht.
»Glaubst du, du würdest weinen?«, fragt er weiter und sieht einen Moment lang auf. Fokussiert mich.
»Ich würde tagelang weinen.« Natürlich würde ich das. Curtis ist nicht nur mein Mitbewohner, mit dem ich eine Affäre hatte. Er ist so viel mehr als das.
»Versprichst du’s?«
»Ich versprech’s.«
Er nickt zufrieden. Dann kommt er einen Schritt auf mich zu. »Bist du böse?«