Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)
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»Stimmt. Bis vor ein paar Monaten habe ich illegal in alten Warehouses gelebt«, bestätigt Link. »Ich hab mit Touristinnen geschlafen, weil ich Hotelbetten geil fand.«
Hugo hält sich die Ohren zu und macht »Lalalalala«.
»Und jetzt …«
»Ja, aber du bist anders. Du hast das gemacht, weil du ein verdammter Softie bist und Jasper unter die Arme greifen wolltest. Nicht, weil dein Kopf kaputt ist.«
»Ich war auch ein bisschen kaputt«, sagt Link.
»Und dann kam ein süßes deutsches Mädel und hat dich geheilt?«
»Wenn du so willst …«
»Man muss sagen, sie ist wirklich zuckersüß«, mischt Hugo sich ein. Inzwischen hört er wieder zu. »Mich hat sie auch um den Finger gewickelt.«
»Bullshit, Link«, sage ich und ignoriere Hugo. »Du hattest einfach Glück.«
»Dann nenn es Glück. Kann dir genauso gut passieren.«
»Sonst gebe ich dir was von meinem ab«, bietet Hugo an.
»Wisst ihr«, sage ich und versuche an meinem Geschwür vorbeizuschlucken, »vielleicht will ich das ja gar nicht.« Denn es würde ohnehin schiefgehen. Ich würde meinen normalen Scheiß abziehen und damit das süße Mädel vergraulen. »Ich bin lieber allein als verlassen«, sage ich und stopfe Link und Hugo damit das Maul.
11
Amory
Als der Minutenzeiger der Wanduhr über der Tür auf die volle Stunde springt, kommt Leben in die Studenten. Zwei Stunden lang waren sie in einem Dämmerzustand, der es ihnen nicht erlaubte, auch nur auf eine meiner Fragen zu reagieren. Doch sobald das Tutorium vorbei ist, sind sie hellwach und strömen in null Komma nichts nach draußen. Es ist egal, ob ich mitten in einem Satz bin, ob es nichts weiter als einen Strich an meinem Tafelbild bräuchte, ob der Stoff klausurrelevant ist. Um zwölf endet das Tutorium, und deswegen hält sie nach zwölf nichts mehr in dem kleinen stickigen Seminarraum der mathematischen Fakultät der Tulane University. Seit ungefähr einem Monat unterrichte ich diese Blagen nun, und sie sind schnell in denselben Trott verfallen wie die Studenten vor ihnen. Die meisten von ihnen sind der Ansicht, wenn ihre Eltern sechzigtausend Dollar Studiengebühren im Jahr bezahlen, sollten sie keine Überstunden machen müssen. Wenn die Prüfungsergebnisse bekannt gegeben werden, finden sie außerdem, dass man für sechzigtausend Dollar im Jahr bestehen sollte, egal, was man für einen Scheiß abgegeben hat.
Ich seufze und blicke noch einmal auf mein Tafelbild. Die stufenweise Annäherung an die Fläche unter einem Graph wird als Grundwissen in der Integralrechnung auch in den Midterms abgefragt. Ich erinnere mich noch daran, wie ich es mir mit vierzehn selbst beigebracht habe, während der Fortgeschrittenenkurs Mathematik an meiner Highschool sich mit Dreiecken beschäftigte.
Ich mag die Mathematik. Sie war für mich da, als mich alles andere unterforderte. Sie stellte mich vor Probleme, an denen ich mir eine Weile die Zähne ausbiss. Und das Schönste war: Sie wuchs mit mir mit. Denn für jedes gelöste Problem fand ich zig schwierigere, die mich herausforderten. Vielen meiner PhD-Kollegen geht es darum, exakte Wissenschaft zu machen. Denn entweder ist ein Beweis richtig, oder er ist es nicht. Manchmal ist er zwar auch uneindeutig oder unvollständig, aber dann hakt es am Beweis, nicht an der Materie. Am Ende läuft es schließlich darauf hinaus, dass man sich sicher sein kann.
Für mich liegt der Spaß darin, meinen Kopf anzustrengen. Über mich hinauszuwachsen. So lange nachzudenken, bis ich ein Problem geknackt habe. Die Mathematik ist für mich so etwas wie eine Pause von Menschen. Über Menschen kann ich auch unendlich viel nachdenken. Und auch sie kann ich durchschauen. Aber das bedeutet noch nicht, dass man sie auch gelöst kriegt. Denn während es in der Mathematik außer meinem Verstand nur einen Zettel und einen Stift braucht, gehört bei den Menschen auch eine Bereitschaft ihrerseits dazu. Ich konnte Bonnie zwar erklären, dass sie durchaus an sich denken dürfe, doch verstehen musste sie es allein. Link sahen wir jahrelang dabei zu, wie er sich emotional abschottete. Jeder wusste, dass er einfach Stabilität brauchte. Etwas Sicheres. Aber herausfinden musste er es selbst. Franzi hat mir erzählt, dass sie jahrelang auf einen sicheren Bürojob hinarbeitete, sich in einen deutschen Vorort mit Familie und Hund träumte, während mir bei unserer ersten Begegnung schon klar war, dass sie nur darauf wartete, aus ihrem Kokon auszubrechen.
Bevor ich zu meinen Kollegen in den Food Court, unsere Stamm-Mensa, gehe, steuere ich erst einmal zielstrebig die nächste Damentoilette an und entledige mich meines BH s. Ich habe meine Tage, da verzichte ich eigentlich immer auf Bügel-BH s. Heute Morgen habe ich nicht nachgedacht, und er nervt mich schon den ganzen Tag. Reibt an empfindlichen Stellen, sitzt schlecht. Als ich die Häkchen löse und ihn in meiner Umhängetasche verstaue, atme ich erleichtert auf. Besser. So viel besser.
Mit einem grauen Tablett in der Hand bahne ich mir wenig später den Weg durch die Studenten. Der Geruch von Großküchenessen hängt in der Luft, Geschirr und Besteck klappern laut, die Gespräche der Studenten verschwimmen zu einem lauten Einheitssummen. An einem der Tische entdecke ich unsere Crew. Wir teilen uns zu sechst ein kleines Kellerbüro. Erst waren wir etwas erschrocken über die Enge und den Luftmangel, der sich durch das winzige Fenster kaum beheben lässt. Aber aus der Not entstehen die besten Freundschaften. Und obwohl wir uns regelmäßig auf die Füße treten, haben wir das Beste aus der Situation gemacht.
Da ist Emily, die dauernd von der Verwaltung dazu genötigt wird, auf Werbefotos zu posieren, weil sie eine hübsche Afroamerikanerin ist. In einer Stadt, deren Bevölkerung zu beinahe sechzig Prozent of colour ist, versucht Tulane, deren Studenten zu über siebzig Prozent weiß sind, sich den Anstrich einer sehr gemischten Universität zu geben. Dass sie dabei immer wieder auf Emily zurückgreifen, sagt eigentlich schon alles.
Thanh kommt aus Vietnam. Im ersten Jahr unseres PhD konnte man die Wörter, die sie mit uns gesprochen hat, an einer Hand abzählen. Aber inzwischen hat sie für sich beschlossen, dass ihre Zeit in den USA nicht nur aus ihrem Zimmer im Studentenwohnheim, dem asiatischen Supermarkt und ihrem Schreibtisch im Kellerbüro bestehen sollte. Ihre Eltern wissen nichts von den wilden Studentenpartys, auf die sie geht, von ihrer fluiden Sexualität, geschweige denn von der Auslebung derselben.
Julien und Diego stammen beide aus New Orleans und haben gemeinsam mit mir an der Tulane das Undergraduate -Studium absolviert. Diego und ich wohnten außerdem während des Bachelors Tür an Tür im gleichen Wohnheim.
Und dann ist da noch Richard, der mich in diesem Moment erblickt und lächelnd winkt. Mein Herz hüpft ein kleines bisschen, als ich mich nun neben ihn setze und wir uns wie selbstverständlich mit einem Kuss begrüßen.
»Hab gehört, dass ihr bald euer zweites Paper abschickt«, sagt Julien an mich gewandt. »Du hast echt Glück mit Lippman.«
Ich mag meinen Betreuer. Aber er ist sicher nicht der Grund, warum wir so gut vorankommen. Er hat Ideen, gute Ideen, die allerdings oft sehr vage sind. Die eigentliche Arbeit mache ich. Doch ich weiß auch, dass die anderen ebenso hart arbeiten wie ich und bis auf Thanh alle noch nichts eingereicht haben. Deswegen zucke ich mit den Schultern. »Ja, wir sind ein gutes Team.«
»Lass mich mal swipen«, sagt Diego. Er sitzt neben Thanh und schaut ihr dabei zu, wie sie tindert. Wir wissen alle, dass er auf sie steht.
»Damit du mir die interessantesten Kandidat*innen« – sie macht eine deutliche Gender-Pause – »aussortierst?«
»Was sind deine Anforderungen?«, fragt Emily.
»Bei Frauen: Kein Duck-Face. Keine winzigen Hunde. Keine Sonnenbrillen. Kein Selfie mit der besten Freundin, keine Bikinis. Bei Männern: Kein Selfie oben ohne vor dem Spiegel. Keine Zurschaustellung von Muskeln. Kein Dackelblick. Keine Baseball-Caps.«
»Und das sind deine Auswahlkriterien, weil …?«, fragt Diego.
»Weil ich es genieße, nach dem Sex Gespräche zu führen, die nicht vollkommen geistlos sind.«
Ich muss lachen. »Das sind absolut gerechtfertigte Anforderungen«, sage ich und denke an Richards und mein erstes gemeinsames Mal vor ein paar Tagen, nach dem wir zwar kein tiefes Gespräch geführt habe
n, das uns aber trotzdem enger zusammengebracht hat.
»Also gut, ich verspreche, dass ich nach deinen Kriterien swipe.« Diego grinst teuflisch.
»Ich vertraue dir kein Stück«, sagt Thanh, schiebt ihm aber dennoch ihr Handy hin.
In null Komma nichts hat Diego es sich geschnappt und verdeckt es nun mit seiner Hand.
»Hey, was machst du!«, ruft Thanh und versucht es ihm wieder wegzunehmen. »Änderst du meine Einstellungen? Was soll das?«
»Chill«, sagt Diego grinsend. Und wenig später: »Perfekt. Oh, schau einer an, it’s a match! «
»Was zur Hölle, Diego!« Thanh nimmt ihm das Handy wieder ab. »Was hast du …« Sie hält inne und sieht ihn an. Schüttelt den Kopf. Verdreht die Augen. Und beginnt zu lachen. Dann dreht sie ihr Smartphone um, sodass wir sehen können, mit wem Diego sie gematcht hat. Vom Display grinst uns Diego selbst entgegen.
»Kein Selfie oben ohne. Keine Muskeln. Kein Dackelblick. Keine Baseballcaps«, sagt er feixend. »Hab nicht mal mein Wort gebrochen.« Jetzt beginnen auch wir Übrigen zu lachen.
Ich mag diese Welt, die so ganz anders ist als die Farm, von der ich komme, oder das laute, bunte French Quarter. Und mir gefällt es, dass ich Teil all dieser drei Welten bin. Dass ich weiß, wie man ein Kalb auf die Welt befördert, dass ich mich in den Clubs der Frenchmen Street zu Hause fühle und dass ich inmitten meiner PhD-Kollegen ohne BH meine Mittagspause verbringen kann.
Selbst als wir uns alle wieder einigermaßen beruhigt haben, trägt Diego noch ein sehr selbstzufriedenes Grinsen zur Schau. Und wenn ich mir Thanh so ansehe, habe ich fast den Eindruck, als hätte ihr sein kleiner Trick gefallen.
»Wartet nur ab«, sagt Julien mit Blick auf Richard und mich, »die Zeiten, in denen ihr das einzige mathematische Traumpaar seid, sind vorbei.«
»Diego ist keine Konkurrenz für mich«, erwidert Richard lachend. »Oder was meinst du?« Er stößt mich sanft mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Charmant, Richard«, sagt Emily. »Erst mal dir selbst ein Kompliment machen.«
»Sorry«, schiebt er gleich hinterher. »Du bist natürlich auch konkurrenzlos, Am.« Er nimmt meine Hand und drückt einen Kuss darauf.
»Ich finde uns gleich heiß«, sage ich zu Thanh.
»Wir würden definitiv matchen.« Sie nickt grinsend. »Und das wäre dann auf der Hotness-Skala eine ganz andere Dimension.«
»Dafür würde ich sogar zurücktreten«, sagt Diego.
»Zurücktreten wovon?« Thanh runzelt die Stirn. »Glaubst du, wir haben ein Date?«
Er zuckt mit den Schultern.
»So frisch und schon so viel Ärger im Paradies«, sagt Richard und legt einen Arm um meine Taille. »Ich glaube nicht, dass wir von den beiden irgendetwas zu befürchten haben.« Dann raunt er mir ins Ohr: »Sag mal, Am, kann es sein, dass du keinen BH trägst?«
Ich lache leise. »Hat mich genervt.«
»Okay?«
»Es gibt so Tage, die sind nicht für Metallbügel gemacht.«
»Hm.«
Ich wundere mich etwas über seine Reaktion. Und über seinen genervten Tonfall. Doch fürs Erste ist er still. Als jedoch das Tischgespräch zurück auf Thanhs Tinder-Profil gelenkt wird, wendet er sich mir wieder zu.
»Ich weiß nicht, ob ich das so cool finde.«
Ich für meinen Teil habe schon wieder vergessen, worum es geht. »Was meinst du?«
»Dass du ohne BH an der Uni herumläufst.«
»Was? Warum?« Ich verstehe nicht, was das Problem ist.
»Na ja, du unterrichtest junge Studenten. Wer weiß, was die denken!«
Ich mache mir nicht die Mühe, ihm zu sagen, dass ich den BH erst nach der Veranstaltung ausgezogen habe, denn ich finde es ein bisschen uncool, dass er überhaupt eine Meinung dazu hat. »Meinst du nicht, dass das meine Sache ist?«, frage ich stattdessen.
»Ähm, ehrlich gesagt nicht mehr.«
»Nicht mehr?«
»Wir sind jetzt zusammen, oder? Und ich mag es nicht, wenn irgendwelche Kerle, die noch nicht einmal Alkohol trinken dürfen, meiner Freundin auf die Brüste starren.«
»Und wenn sie Alkohol trinken dürften?«, frage ich, weil er das unmöglich ernst meinen kann. »Du weißt, dass sie mir auch auf die Brüste starren, wenn ich einen BH trage, oder?«, sage ich dann mit einem leichten Glucksen. Denn er hat offensichtlich nicht darüber nachgedacht, wie er klingt. »Es sind Kerle, die gerade erst aus der Pubertät heraus sind«, schiebe ich erklärend hinterher.
»Das ist ja sehr beruhigend.«
»Ich verstehe nicht, warum das eine so große Sache ist.«
»Ich will dich für mich«, erwidert er. »Und die Vorstellung, dass andere … Das geht mir gegen den Strich.«
Beinahe finde ich ihn inzwischen süß. Auch wenn er etwas besitzergreifend klingt. Aber so ein kleines bisschen Eifersucht ist vielleicht nicht schlecht.
»Du musst dir wirklich keine Sorgen machen«, sage ich. Kurz flackert die Erinnerung an das hoch, was vor unserem ersten Mal passiert ist. Doch die Sache mit Curtis ist geklärt. Ich habe ihn selten so zerknirscht gesehen wie während meiner Ansage am nächsten Morgen.
»Du hast nun mal große Brüste«, sagt Richard. »Du musst etwas aufpassen.«
Langsam nervt er mich. Es ist nicht so, als wäre ich mir meines Körpers nicht bewusst. »Ich glaube, du hast jetzt genug zu dem Thema gesagt.« Ich nehme einen Schluck von meinem zuckrigen Orangensaft.
»Ich meine ja nur …«
»Ist angekommen, Richard.«
»Also ziehst du ihn wieder an?«
Kurz bin ich versucht, einfach aufzustehen und zu gehen. Doch dann fällt mein Blick auf sein Gesicht. Und er sieht ehrlich besorgt aus. Vermutlich ist hier und heute nicht der richtige Ort für eine Grundsatzdiskussion darüber, dass die Kleidung einer Frau niemals die Ursache für das Verhalten von Männern ist.
12
Curtis
Seit einigen Stunden bin ich damit beschäftigt, die Tapeten im Wohn- und Schlafzimmer zu entfernen. An vielen Stellen hängen sie ohnehin nur noch in Fetzen von der Wand, dort, wo sie noch haften, rücke ich ihnen mit lauwarmem Wasser und einem Spatel zu Leibe. Seit einigen Tagen sind die Leitungen wieder aktiv, und seit vorgestern ist das Wasser aus dem Hahn in der Küche sogar wieder klar. Die abgerissenen Tapetenreste sammle ich in Mülltüten, die hoffentlich in den nächsten Tagen von der Müllabfuhr abgeholt werden.
Als ich den letzten schwarzen Plastiksack zuschnüre, merke ich erst, wie anstrengend die Arbeit dieses Nachmittags war. Die Sonne steht schon tief und tunkt die Veranda in ein beinahe rosafarbenes Licht. Die Grillen zirpen, irgendeiner meiner Nachbarn veranstaltet ein Barbecue. Immer wieder dringt der Duft von frisch gegrillten Burgern und Ribs in meine Nase, und das Gelächter und die leise Musik sprechen für ein fröhliches Fest.
Ich ziehe die dicken Bauhandschuhe aus und wische mir mit dem Handrücken über die Stirn. Noch ein letztes Mal betrachte ich mein heutiges Werk. Ich bin zufrieden. Sobald wir nächstes Wochenende das Dach mit neuen Ziegeln geflickt und neue Fenster eingesetzt haben, werde ich mich daranmachen, den Räumen im Erdgeschoss einen neuen Anstrich zu verpassen.
Das Wellblech knarzt und dröhnt, als ich es zurück an Ort und Stelle schiebe, um mein Grundstück abzuriegeln. Den letzten Müllsack stelle ich zu der kleinen Parade auf den Gehweg. Irgendjemand hat die Gunst der Stunde genutzt und Kartons mit altem Kram daneben entsorgt.
Ich sehe mich um. Auf der anderen Straßenseite steht eine alte Frau und gafft. Einen Moment lang blicke ich zurück. Doch als sie keine Anstalten macht, ihren Kopf zu bewegen, schaue ich wieder weg. Was für eine Freakshow!
Ich kicke mit dem Fuß gegen einen Karton, um ihr zu zeigen, wie viel ich von ihrer beschissenen Nachbarschaft halte. Und ein merkwürdiges Geräusch ertönt. Als wäre ein Hundespielzeug darin oder so. Ich drücke meine Fußspitze erneut in die leicht feuchte Pappe. Wieder quietscht es. Und dann noch einmal, ohne mein Zutun.
Vorsichtig hebe ich den Deckel von der Box. Zunächst sehe ich nichts als alte Klamotten, doch auf einmal steckt etwas seinen Kopf hervor. Ich zucke zurück, gebe einen leicht e
rstickten, erschrockenen Schrei von mir. Doch im nächsten Moment erkenne ich, worum es sich handelt.
»Was machst du denn hier?«, frage ich, als würde ich erwarten, dass das rabenschwarze Kätzchen antwortet. Es maunzt erbärmlich, verzieht seine Schnauze zu einer verzweifelten Grimasse. Ich habe keine Ahnung, was man in einem solchen Fall macht. Ist es gefährlich, ausgesetzte Tiere auf den Arm zu nehmen? Können sie Krankheiten übertragen?
»He!«, rufe ich und drehe mich nach der alten Frau um. »Ist das …« Doch sie ist verschwunden.
Wieder maunzt das Kätzchen erbarmungswürdig, stellt seine beiden Vorderpfoten auf den Rand der Kiste und sieht mich so kläglich an, dass ich mich zu ihm hinunterbeuge.
»Hey, du«, sage ich. »Was machen wir denn mit dir?« Ich blicke mich erneut um, ob irgendjemand Notiz von mir nimmt. Ob jemand einen Fehler gemacht hat. Aber natürlich scheren sich die Nachbarn nur dann um anderer Leute Kram, wenn es sie nichts angeht.
Ganz vorsichtig strecke ich meine Hand aus, um das Kätzchen zu kraulen. Es lässt sich sofort auf die Seite fallen, beginnt lautstark zu schnurren und massiert mit seinen kleinen Krallen meinen Arm. Ich spüre die winzigen Rippen unter dem etwas matten Fell. Wer weiß, wie lange es nichts zu fressen hatte.
Ich denke einen Moment nach. Es kommt nicht infrage, das kleine Ding hier allein zu lassen. Und auf einmal weiß ich, wer sich mit Tieren auskennt. Und wer sich darüber freuen würde, dass ich ein Kätzchen gerettet habe. Amory.
»Willst du mit zu mir kommen?«, frage ich und fühle mich relativ bescheuert, eine Konversation mit einem schwarzen Fellknäuel zu führen. Das Kleine maunzt wieder, und damit ist es beschlossene Sache.
Ich hebe es mit einer Hand aus der Kiste und auf meinen Arm. Von meinem Haus in Marigny ist es ein zwanzigminütiger Fußweg zu Amorys und meiner WG . Fünfzehn, wenn ich mich beeile. Und während der ganzen Zeit liegt das schwarze Kätzchen auf meinem Unterarm. Es hat die Augen geschlossen, als ahnte es, dass ihm nichts mehr passieren kann. Ab und zu fahre ich mit der Hand über seinen knochigen Rücken. Jedes Mal streckt es sich und fängt wieder an, leise zu schnurren.