Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)
Page 11
»Ich versprech’s dir, Curtis. Du bist mir so wichtig, dass es mir wehtut, dich so zu sehen.«
»Hast du auch aufs Waul gekriegt?«, fragt er.
»Nein. Mir tut alles weh, was dir wehtut. Vielleicht begreifst du das nicht, aber so funktioniert es nun mal.«
»Ich wegreife es«, sagt er leise. »Ich kann’s nur nicht glauwen.«
Mein Herz steht für einen Moment still. Mein ganzer Körper beginnt, schmerzhaft zu kribbeln. So tief erschüttert mich Curtis’ Antwort. So sehr tut es mir weh, ihn so zerstört zu sehen. Ihn zerstört zu wissen.
»Vielleicht wuss ich ins Wett«, sagt er auf einmal.
Er will sich schon erheben, doch ich halte ihn zurück.
»Warte.« Aus einem Hängeschrank hole ich ein frisches Küchentuch. Ich tunke die Spitze in Curtis’ Eiswasser und beginne, vorsichtig sein Gesicht zu waschen.
»Aaah«, macht er und verzieht das Gesicht.
»Ich muss dich sauber machen, sonst ist morgen dein ganzes Bettzeug voller Blut.«
»Und das will keiner«, sagt er und saugt erneut scharf die Luft ein, als ich mich seiner Lippe nähere.
»Entschuldige«, sage ich und versuche noch vorsichtiger zu sein. Ich streiche ganz sanft über seine Wange, seinen Kiefer, sein Kinn.
»Nein, ist schon okay.« Er blickt mich wieder an. »Du kannst … gröwer sein.«
»Ich weiß, du bist ein richtig harter Kerl. Aber ich will dir nicht wehtun.«
»Du darfst wir wehtun«, flüstert er, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen.
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. »Ich verspreche dir, Curtis, ich werde dir nie wehtun.«
Curtis’ Adamsapfel hüpft, als er schluckt. Dann räuspert er sich geräuschvoll.
»So, jetzt bist du wieder hübsch«, sage ich kurz darauf mit Blick auf sein Gesicht, das zwar immer noch ordentlich lädiert aussieht, aber wenigstens nicht mehr so blutverschmiert ist.
»Von wegen«, erwidert er mit einem schiefen Grinsen – zu mehr ist sein Gesicht nicht in der Lage.
»Na ja, nicht so hübsch wie vorher …«, gebe ich zu, denn ich habe das Gefühl, ihm Komplimente machen zu müssen. Ihn aufheitern, in Watte packen zu wollen.
»Du findest wich nicht hüwsch«, sagt er.
Ich finde ihn unglaublich hübsch. Ich finde ihn auf eine wilde und lädierte Weise hübsch.
»Du wist hüwsch«, fährt er fort. »Du wist wirklich die hüwscheste Frau, die ich kenne.«
Ich ignoriere ihn, schließlich will ich ihn nicht ermutigen, mit mir zu flirten. Obwohl mein Herz leicht hüpft. Ich mache eine verlegene Handbewegung, und dabei verrutscht mein Bademantel leicht, gibt den Blick auf mein Dekolleté frei. Es ist nur ein kurzer Moment. Nur diese paar Sekunden, in denen ich Curtis’ Blick sehe. Er ruht auf mir, auf meiner Brust. Es ist eine Mischung aus Verlangen und Sehnsucht, aus dem Bewusstsein, dass es sich nicht gehört, und der gleichzeitigen Unfähigkeit, sich abzuwenden. Ich bin kurz wie erstarrt, während ich seinen Blick förmlich spüre, ihn genieße. Obwohl ich das nicht sollte.
Dann wende ich mich ab, schließe meinen Bademantel wieder und sage: »Na komm, ich verbinde deine Hand, dann bring ich dich ins Bett.«
Im Badezimmer finde ich, was ich brauche. Ich wickle einen dicken weißen Verband um seine Knöchel, damit er seine Finger heute Nacht ruhig hält. Nach wie vor bin ich mir Curtis’ Blick viel zu bewusst, auch wenn es nichts mehr zu sehen gibt. Sein Kopf ist meinem so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Hals spüre, während ich mich herabgebeugt um seine Hand kümmere.
In seinem Zimmer setzt er sich aufs Bett.
»Willst du dich ausziehen?«, frage ich.
»Willst du, dass ich wich ausziehe?«
»Dann bleib so.« Ich stelle mich vor ihn und streiche ihm noch mal durch die Haare. »Bist du okay?« Meine Stimme ist leicht erstickt.
»Wird schon«, erwidert er. »Danke.«
Er zieht mich sanft zu sich und vergräbt sein Gesicht an meinem Bauch. Ich spüre seinen warmen Atem, seine Arme, die um meine Mitte geschlungen sind. Meine Hände liegen auf seinen Schultern, streichen sanft und gleichmäßig hin und her. Ich spüre, wie sich Curtis beruhigt, wie die Atemzüge tiefer werden.
»Awory?«, fragt er leise und sieht auf.
»Hm?«
»Wist du wöse?« Er klingt unsicher.
»Was? Warum?«
»Weil ich dich schon wieder geweckt hawe.« Er schluckt merklich und wendet den Blick ab. »Ich haw wirklich versucht, leise zu sein.«
»Du hast mich nicht geweckt.« Wieder streiche ich ihm über die Schulter. »Ich war schon wach.« In meinem Bett war es viel zu heiß, Richard atmete keuchend.
»Also wuss ich nicht ausziehen?«
»Nein.« Ich muss beinahe lachen. »Natürlich musst du nicht ausziehen.«
Eine Weile sagt niemand etwas. Ich lausche Curtis’ regelmäßigen Atemzügen, konzentriere mich auf meinen Herzschlag.
»Awory?«, unterbricht er schließlich die Stille.
»Hm?«
»Schläfst du heute Nacht hier?«
»Nein«, sage ich vorsichtig, wie um ihn nicht aufzuregen. »Ich schlafe bei mir. Neben meinem Freund.«
»Richard ist da?«
»Ja.«
»Und trotzdew hast du dich uw wich geküwwert?« Ich kann die Verblüffung in seiner Stimme hören.
»Natürlich«, sage ich. »Natürlich kümmere ich mich um dich.«
»Awory?«
»Hm?«
Etwas blitzt in Curtis’ Augen auf, als er sich zurücklehnt und unter seine Bettdecke kriecht. »Kriege ich wenigstens noch einen Gutenachtkuss?«
»Curtis!«, ermahne ich ihn.
»Nur auf die Stirn?« Er bettet den Kopf auf sein Kopfkissen.
Ich seufze, aber er sieht so verlassen aus. So einsam, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihn abzuweisen. Also beuge ich mich vor und küsse ihn sanft auf die Stirn. Auf seine warme Haut. Er schlingt erneut seine Arme um mich – diesmal nur für einen kurzen Moment. Dann lässt er mich los.
»Gute Nacht, Awory.«
»Gute Nacht, Curtis.« Ich hab dich lieb, füge ich in Gedanken noch hinzu, doch der Augenblick erscheint mir ohnehin schon viel zu intim.
16
Curtis
Ich atme einmal tief ein, bevor ich den Proberaum betrete. Mein Gesicht sieht beschissen aus, und meine Knöchel sind immer noch leicht geschwollen. Ich bin ein unsäglicher Idiot, doch das ist für niemanden hinter der massiven Holztür eine Überraschung.
»Hi, Leute«, sage ich, den Blick zu Boden gesenkt. Aber natürlich wissen sie sofort, was los ist.
»Alter«, sagt Link, mehr nicht. Er schüttelt den Kopf, und ich verziehe den Mund zu einem entschuldigenden Grinsen.
»Willst du mich umbringen?«, fragt Bonnie und boxt mich fest in die Schulter.
Weston und Maya, die heute bei der Probe dabei sind, blicken auf. Westons Augen werden immer größer.
»Hast du dich geschlägert?«, fragt er ehrfürchtig.
»Jep«, sage ich und zucke mit den Schultern.
»Warum?«, will er wissen.
»Weil …«
Aber Jasper unterbricht mich: »Weil er ein Idiot ist. Stimmt’s, Curtis?«
Wusste ich es doch. »So ist es, Weston. Ich bin ein Idiot. Nimm dir bloß kein Beispiel an mir.« Ich schlucke.
»So war das nicht gemeint«, murmelt Jasper leise, aber ich weiß genau, dass es ist, wie er gesagt hat. Und ich verdenke es ihm nicht einmal.
»Hatte der andere es verdient?«, fragt Weston weiter.
Ich lache leise. »Ich … ähm …« Ich weiß es nicht. Er hatte auf jeden Fall auch Lust, sich ein bisschen zu prügeln. »Er war ziemlich böse«, sage ich dann doch, weil ich Jaspers warnenden Blick bemerke.
»Und deine Hand ist auch hinüber!« Wie zum Beweis hält Bonnie meine rechte Hand hoch. Schnell entziehe ich sie ihr.
»Halb so wild.«
»Halb so wild? Curtis!«
»Was? Ist ja nicht so, als könnte ich nicht spielen oder so.« Dafür hat Amory gesorgt, indem sie meine Hand sofort gekühlt hat. Und dann hat
sie dafür mein Herz auf die dreifache Größe anschwellen lassen.
»Wenn du unseren Auftritt im Palace versaust …« Bonnies Tonfall klingt regelrecht drohend. »… ich schwör dir, ich dreh dir den Hals um.«
»Ich würde mich nicht mit mir anlegen«, gebe ich mit einem vorsichtigen Grinsen zurück.
»Ja, Bonnie, du solltest mal den Kerl sehen, den Curtis verdroschen hat!« Weston ist als Einziger auf meiner Seite.
»Ich weiß, ich bin ein Risiko«, sage ich. »Man kann sich nicht auf mich verlassen, bla, bla. Stimmt doch, oder, Bonnie?«
»Das wollte ich nicht sagen.«
»Und was wolltest du sagen?«
»Dass ich keinen Bock habe, diese Chance noch mal vermasselt zu kriegen, weil einer von euch Alphamänner-Ärschen sich schon wieder nicht im Griff hat.«
»Und glaubst du, ich habe darauf Bock?«, gebe ich zurück. »Glaubst du wirklich, ich würde irgendetwas zwischen uns und diesen Gig kommen lassen? Habe ich euch je hängen lassen? Wenn ich mich recht erinnere, waren beim letzten Mal unsere Vorzeigestreber Link und Jasper dafür verantwortlich, dass es nicht geklappt hat. Sag mir, wenn ich mich irre, aber soweit ich weiß, hat Jasper Link aufs Maul gehauen, weil Link ihn jahrelang belogen hatte, oder?«
Jasper wirft mir einen vernichtenden Blick zu, und erst jetzt fällt mir wieder ein, dass Weston und Maya zuhören.
»Das war ein Witz, Kinder«, sage ich schnell. »Euer Dad hat niemandem …«
»Dad hat Link aufs Maul gehauen?«, fragt Weston mit leuchtenden Augen.
»Nein«, sagen Link und Jasper im Chor.
»Ist ja irre!« Weston strahlt. »Ich hätte gedacht, Link ist stärker als du, Dad.«
»Ähm«, meldet sich Link, »das bin ich auch.«
»Von wegen.«
»Wer würde gewinnen, wenn ihr kämpft?«, fragt Weston.
»Ich will nicht, dass sie kämpfen«, sagt Maya leise, die sich das Spektakel bislang schweigend angesehen hat.
»Wir kämpfen nicht, Süße«, sagt Link.
»Und bist du auch stärker als Curtis, Dad?«, fragt Weston.
Mir entfährt ein kurzes Lachen.
»Curtis würde wohl gegen mich gewinnen«, gibt Jasper zu, und Weston nickt, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet.
»Glaub auch«, sagt er. »Curtis ist der Allerstärkste.«
Beinahe überkommt mich so etwas wie Stolz. Aber ich lasse mir nichts anmerken.
»Wenn Curtis sich nicht zusammenreißt, wird er allerdings meinen Zorn zu spüren kriegen«, sagt Bonnie. »Und das will niemand.«
»Das will wirklich niemand«, stimmt Link ihr zu. »Leg dich nicht mit ihr an, Alter, das kann ich nicht empfehlen.«
»Weil Bonnie noch stärker ist«, sagt Maya lächelnd.
Ich bin fast versucht, meine Ehre wiederherzustellen, als ich sehe, wie bewundernd Maya Bonnie ansieht. Also sage ich: »Da könntest du recht haben.« Und weil die Stimmung gerade zu meinen Gunsten umschlägt, schiebe ich hinterher: »Und ich verspreche euch, an mir scheitert der Gig nicht. Also lasst uns Musik machen. Denn dafür sind wir schließlich hier.«
Ich setze mich hinter das Schlagzeug und stelle die Höhe der Becken für mich ein. Ein wenig rücke ich sie auseinander, um mehr Platz für meine Bewegungen zu haben. Es ist ein bisschen wie beim Fahren mit einem fremden Auto – Hauptsache, man stellt alles wieder auf die ursprünglichen Einstellungen zurück. Dann lasse ich meine Sticks einmal sanft über das Set fliegen. Mit der Hand halte ich das Becken fest, damit es nicht nachscheppert. Meine Hand funktioniert einwandfrei, zumindest, solange ich es nicht mit der Kraft übertreibe.
»Okay, Leute«, sagt Link, »einen Blues zum Einspielen?«
Jasper beginnt eine sanfte Melodie, und nach den ersten Takten stimmen Bonnie und ich ein. Wir fangen ruhig an, improvisieren mehr, als dass wir einem genauen Standard folgen würden. Es geht darum, zusammenzufinden, aufeinander zu hören, zu reagieren, sich anzupassen. Der Klang ist verspielt und doch melancholisch ernst. Ich variiere den Rhythmus leicht, fordere Bonnie auf, mehr Zwischentöne zu spielen, um die Illusion eines höheren Tempos zu geben.
Wir spielen noch zwei weitere Songs zum lockeren Jammen, finden unseren Groove, unseren Sound. Werden zu dieser Einheit, die uns unbesiegbar werden lässt im Rausch der Musik. Dann feilen wir an eigenen Stücken.
»Bonnie und ich haben tatsächlich so etwas wie einen brauchbaren Text für unseren neuen Song«, verkündet Jasper. »Sollen wir, Bonnie?«, fragt er.
»Äh, okay.« Sie nickt ihm zu, damit er beginnt zu spielen.
Und das tut er. Auf die sanfteste Weise, die ich je bei Jasper gesehen habe.
»I’ve been longing for your gentle touch«, singt Jasper.
»For a long long time, it’s been way too much.«
An dieser Stelle übernimmt Bonnie, sodass es beinahe wirkt wie ein gesungener Dialog.
»I was not the only one among the two of us
Who was blinded by the past.«
Nun stimmt Jasper wieder mit ein, und gemeinsam singen sie:
»I’ve been dreaming, yearning, craving
For far too long.«
Ihre Stimmen vereinigen sich zu etwas ganz und gar Einzigartigem, etwas, das vor Gefühl strotzt, ohne dabei kitschig zu sein. Und jeder von uns weiß, dass nichts davon erfunden ist. Dass dies genau ihre Geschichte ist. Ihr innerer Kampf, den jeder von beiden mit sich selbst ausfechten musste, bis sie ihr Glück gemeinsam finden konnten.
Ich schlucke und muss ein paarmal blinzeln, um wieder richtig zu mir zu kommen. Zu mir zu finden.
»Den Song schaffen wir uns drauf bis zum Gig im Palace «, sagt Link. »Ihr seid ja krass.«
Anscheinend bin ich nicht der Einzige, der sich einen Moment sammeln muss. Aber ein Blick in Bonnies Gesicht verrät mir, wie glücklich sie ist. Wie stolz.
»Ich stelle mir so etwas vor«, sage ich deswegen, tausche die Sticks mit meinen Besen und beginne mit einem ganz vorsichtigen Rhythmus. Jasper spielt die Melodie dazu, und langsam findet jeder in seine Rolle zurück.
Wir arbeiten eine ganze Weile an Yearning und wagen uns sogar noch an ein paar Ideen – neue und bekannte Tunes. Doch als Maya wiederholt gähnt, ist das unser Signal zum Aufbruch.
»Wir sehen uns!«, sagt Sal und ist schneller weg, als wir gucken können.
Ich schüttle den Kopf, während ich das Schlagzeug zurück in seinen normalen Zustand bringe.
»Du reißt dich wirklich zusammen, Curtis, oder?«, fragt Bonnie, während sie ihren Bass in die riesige Hülle packt.
»Ich versprech’s dir«, sage ich, obwohl ich eigentlich mein Leben lang nichts anderes mache, als mich zusammenzureißen. Es ist ein ständiger Kampf gegen den Drang, um mich zu schlagen, Dinge kaputt zu machen. Meistens habe ich ihn im Griff, kann ihn unterdrücken. Und ja, vor dem Auftritt im Palace darf mir so etwas nicht mehr passieren. Denn obwohl ich immer aufpasse, gibt es keine Garantien.
»Zeig, dass du kein Idiot bist«, sagt sie noch, dann verlässt sie mit Jasper und den Kindern den Proberaum.
Und in der Tat, in den nächsten Wochen zeige ich es. Ich lasse Amory und Richard in Ruhe. Hugo und ich beenden die Arbeiten am Dach. Ich bin pünktlich bei jeder einzelnen Probe. Bei unseren Auftritten im Cat’s Cradle bin ich der Erste im Laden und der Letzte, der wieder geht – ohne dass ich auch nur einmal mehr als ein Bier trinke.
Obwohl ich merke, wie ich unruhig werde, wie der Klumpen in meinem Hals anschwillt und sich meine Eingeweide vor lauter In-mir-drin-Halten verknoten, lasse ich mir nichts anmerken. Ich reiße mich zusammen. So fest ich kann.
17
Amory
Nach einem intensiven Meeting mit meinem Professor und Said, einem Postdoc, dessen Forschung sich an manchen Stellen mit meiner überschneidet, freue ich mich nun darauf, das Büro ganz für mich allein zu haben. Normalerweise ist immer irgendjemand noch länger da, weil es eigentlich dauernd Dinge gibt, die fertig werden müssen, aber heute haben wir deutlich überzogen. Lippman ist bald anlässlich einer Konferenz in Europa und möchte erste Ergebnisse vorstellen, sodass er heute keine Mühen gescheut hat. Im Gegenzug wer
de ich in seiner Abwesenheit die Grünlilien in seinem Büro gießen.
Abgesehen vom leisen Quietschen meines Whiteboard-Markers ist kein Geräusch zu hören. Ich versuche, Ordnung in die Gedanken in meinem Kopf zu bekommen, blicke immer wieder auf meine Notizen, die ich mir im Gespräch mit Lippman und Said gemacht habe, und versuche sie in einem etwas chaotischen Tafelbild zu visualisieren.
Lippman war von meiner Idee schwer begeistert, und so bin ich mit neuem Elan bei der Sache. Ich trete einen Schritt zurück, sehe mir den letzten Ansatz an, den ich aufgeschrieben habe. Im letzten Jahr habe ich mich an vielen Wegen versucht, diese eine Sache zu beweisen. Jedes Mal war Lippman optimistisch. Jedes Mal führte es mich irgendwann in eine Sackgasse, aus der ich nicht mehr rauskam. Doch dieses Mal habe ich ein gutes Gefühl.
Ich setze mich auf meinen wackligen Schreibtischstuhl und drehe mich hin und her. Mit dem Whiteboard-Marker klopfe ich gegen meine Zähne, um meine Gedanken zu untermalen. Bis auf einmal ein Fenster auf meinem Computer aufblinkt.
Am, hast du Zeit?, fragt Nicky.
Für meinen Bruder habe ich immer Zeit, und so löse ich mich von meinem Whiteboard und klicke auf das grüne Anrufsymbol.
»Hi!« Sein rundes Gesicht grinst mir entgegen.
»Alles gut bei dir?«, frage ich.
»Ja, klar. Hab nur gesehen, dass du online bist, und dachte, vielleicht hast du Lust, dir was anzusehen.« Sein Lächeln wird verschmitzter, ganz so, als hätte er etwas angestellt.
»Okay? Ist es etwas, das wir vor Mom und Dad geheim halten?«
»Ähm … vielleicht?«
»Was hast du gemacht?«
Er windet sich und gluckst. »Verpetzt du mich?«
»Wann habe ich dich je verpetzt?«, gebe ich zurück.
»Als ich mit der Schere Löcher in dein Prom-Kleid geschnitten habe«, sagt er. Da war er vier. »Als ich mit fünf Heu gegessen habe. Als ich Moms Strickwolle durchs Haus gespannt habe, um Einbrecher zu überlisten.« Er zählt einen Finger nach dem anderen ab.
»Ist es etwas, das nur dich was angeht, oder sollten Mom und Dad davon wissen?«, frage ich lachend.
»Hm. Ist eine Grauzone, glaube ich.«
In diesem Augenblick geht die Tür hinter mir auf. »Arbeitest du noch, Süße, oder können wir los?«, fragt Richard und kriegt im ersten Moment gar nicht mit, dass ich skype. Er hat feuchte Haare und seine Sporttasche über der Schulter. Anscheinend war er noch bouldern.