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by Mona Kasten


  Er folgte mir schweigend, doch ich konnte seinen nachdenklichen Blick den gesamten Weg nach oben auf meinem Rücken spüren.

  KAPITEL 10

  Nach Renton zu fahren, fühlte sich nicht wie Nach-Hause-Kommen an. Im Gegenteil, wie jedes Mal waren die zwei Stunden im Zug dorthin für mich die schlimmsten zwei Stunden des gesamten Jahres. Mein Kopf hämmerte von dem Alkohol, den ich am Abend zuvor in mich gekippt hatte, um wenigstens einigermaßen schlafen zu können, und mein Magen rebellierte, weil ich morgens keinen Bissen hinunterbekommen hatte.

  Als der Zug schließlich zum Stehen kam und ich ausstieg, musste ich gegen den Drang ankämpfen, auf der Stelle umzudrehen, wieder einzusteigen und zurück nach Woodshill zu fahren. Oder woandershin. Egal wohin. Doch ich riss mich zusammen. Riley und ich hatten diesen Tag schon so oft miteinander durchgestanden. Wir würden es auch heute schaffen.

  Als ich Riley schließlich am Bahnsteig entdeckte, ging es mir tatsächlich sofort besser. Diese Wirkung hatte sie schon immer auf mich gehabt. Als unsere Eltern noch lebten und danach, wenn meine Tante Melissa wieder einmal ihren schlechten Tag an mir ausgelassen und ich mich daraufhin in meinem Zimmer unter der Decke verkrochen und geweint hatte. Es war erst besser geworden, wenn Riley zu mir gekommen war und mich getröstet hatte.

  Unwillkürlich fragte ich mich, wie lange sie diese Rolle wohl noch für mich übernehmen konnte. Oder wollte.

  Neben Riley stand Morgan, einen Arm um ihre Schulter gelegt. Sie hatten mich noch nicht gesehen, deshalb konnte ich den Anblick der beiden für einen Moment in Ruhe in mich aufnehmen. Sie sahen aus wie füreinander gemacht. Morgans Körper war wie Rileys auch von oben bis unten tätowiert. Da er dunkelhäutig war, kamen die Tattoos bei ihm ganz anders zur Geltung als bei Riley und mir. Sein Kleiderschrank schien aus genau vier Teilen zu bestehen: Jeans, schwarzes Shirt, Lederjacke, Bikerboots. Ich hatte noch nie etwas anderes an ihm gesehen. Dazu die Tunnel in seinen Ohrläppchen und die schweren Ringe an seinen Fingern – wer ihn nicht kannte und wusste, dass er in Wirklichkeit so zahm wie ein Kaninchen war, war von seinem Äußeren wahrscheinlich im ersten Moment abgeschreckt.

  Er passte perfekt zu Riley. Und es war nicht zu übersehen, wie glücklich die beiden miteinander waren.

  Warum konnte ich mich nicht für sie freuen?

  Sie bemerkten mich, als ich nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war. Riley löste sich sofort von Morgan und schlang beide Arme um mich. Ich erwiderte die Umarmung fest.

  »Hi, Nervensäge«, flüsterte sie in mein Ohr.

  »Hi, Vorstadtmutti«, gab ich genauso leise zurück.

  Sie kniff mich in die Schulter, und ich fluchte.

  »Die Dixon-Schwestern, wieder vereint. Was für ein schöner Anblick«, meinte Morgan neben uns.

  Auch er umarmte mich und drückte im Anschluss sanft meine Schulter. »Schön, dich zu sehen, Sawyer«, sagte er aufrichtig.

  »Gleichfalls.«

  Ich spürte Rileys erwartungsvollen Blick auf mir und wusste, dass ein »Herzlichen Glückwunsch« angebracht war. Schließlich war es das erste Mal, dass ich Morgan seit der Verlobung sah. Aber ich brachte es einfach nicht über mich.

  Nach einer Sekunde zog er einen Mundwinkel leicht nach oben und ließ meine Schulter wieder los.

  »Wollen wir?«, fragte Riley leise und legte einen Arm um mich.

  Von Wollen konnte keine Rede sein.

  Zum Friedhof dauerte es mit dem Auto keine halbe Stunde. Auf dem Weg dorthin redeten wir kaum. Weder Riley noch ich waren der Typ für Small Talk, zumal wir beide wussten, dass es keinen Sinn hatte, über Dinge wie die Uni oder die Arbeit zu sprechen, wenn wir uns auf dem Weg zu Moms und Dads Grab befanden.

  Auf dem Parkplatz öffnete Morgan den Kofferraum und holte einen Strauß mit weißen Wildblumen heraus, den er und Riley gekauft hatten, bevor sie mich aufgesammelt hatten. Dann ließ er uns allein, und Riley und ich machten uns auf den Weg durch den Greenwood Memorial Park.

  Die Anlage war gepflegt, mit sattem grünen Rasen und großen Bäumen, die das gesamte Gelände umgaben. Der einzige Grund, warum sie so gut in Schuss gehalten wurde, war wahrscheinlich, dass Jimi Hendrix hier begraben lag und der Greenwood Memorial Park mehr eine Touristenattraktion als ein Friedhof war. Mom und Dad waren riesige Fans von ihm gewesen und hätten sich über die Tatsache sicherlich gefreut, von daher ging das für Riley und mich in Ordnung.

  Wenige Meter vom Grab entfernt griff ich nach Rileys Hand und krallte mich fest an sie. Zusammen gingen wir die letzten paar Schritte und kamen schließlich vor Moms und Dads Grab zum Stehen.

  Schweigend starrten wir auf die Grabsteine. Sie waren schlicht und unauffällig – massive Natursteine mit runden Kanten. Einzig ihre Namen, Erin und Lloyd Dixon, sowie das Datum ihres Geburts- und Todestages waren eingraviert. Ich war neun Jahre alt gewesen, als es passiert war, Riley gerade zwölf. Wären wir älter gewesen und hätten entscheiden dürfen, hätten wir veranlasst, dass eine Songzeile aus Simon & Garfunkels The Sound of Silence, dem Lieblingssong der beiden, auf dem Stein stand. Etwas, das verriet, dass diese beiden Menschen, die hier begraben waren, eine Persönlichkeit gehabt hatten. Und dass es Leute gab, die um sie trauerten.

  So waren es einfach nur … Steine.

  Ich schluckte schwer. Riley ließ meine Hand los und beugte sich hinunter, um den Blumenstrauß abzulegen. Dann nahm sie mich in den Arm. Wir weinten nicht – zwischen Riley und mir lief seit mehr als zehn Jahren ein unausgesprochener Wettkampf, wer weniger Emotionen zeigen konnte. Aber die Art und Weise, wie wir uns aneinanderklammerten, ließ uns beide wissen, wie wenig okay wir in Wirklichkeit waren.

  Mit meiner freien Hand umfasste ich mein Medaillon. Ich ließ meinen Daumen über den verschnörkelten Rand fahren. Einmal. Zweimal. Dann stärker, bis die scharfen Kanten in meine Haut stachen. Riley merkte es und drückte mich fester.

  Es wurde nicht leichter. Ganz gleich, wie viele Jahre vergingen – es würde nie leicht sein, vor dem Grab unserer Eltern zu stehen. Der Schmerz war überwältigend, und heute war einer der Tage, an denen ich ihn voll und ganz fühlte. Ein Tag, an dem ich es kaum in meiner Haut aushielt, weil es so wehtat. Es war schmerzhaft und qualvoll und zu viel.

  »Ich glaube, sie wären stolz auf uns«, meinte Riley nach einer Weile leise.

  Antworten konnte ich darauf nicht. Ich hatte keine Ahnung, was Mom und Dad gesagt hätten, hätten sie mich jetzt gesehen. Ich trank zu viel Alkohol, schlief mit zu vielen Männern und hatte kaum Freunde. Ich gönnte meiner Schwester ihre Verlobung nicht, weil ich nicht wollte, dass sie mich alleine ließ. Das Einzige, worin ich gut war, war die Fotografie.

  »Bestimmt«, sagte ich tonlos. Das Wort fühlte sich falsch an in meinem Mund, wie eine klebrige Masse, die ich lieber wieder heruntergewürgt hätte, als sie laut auszusprechen.

  Ich war froh, als wir den Friedhof wieder verließen. Morgan wartete am Ausgang auf uns, und Riley lief geradewegs auf ihn zu und in seine Arme. Ein paar Sekunden hielt er sie nur, dann strich er sanft über ihren Rücken und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ich nicht verstand.

  Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und ich drehte mich weg.

  Ich konnte meine Erleichterung kaum verbergen, als wir uns schließlich auf den Weg zum Hot War machten. Der kleine, verrauchte Raum war unser Stammclub in Renton, und seit ich dreizehn war, fielen wir hier jedes Jahr am vierten September ein und tranken so viel und so lange, bis das Gewicht dieses Tages uns nicht mehr zu erdrücken drohte und die Tatsache, dass uns damals nicht nur unsere Eltern, sondern auch unsere Kindheit genommen wurde, nicht mehr ganz so unerträglich erschien.

  Riley, Morgan und ich gingen durch den schmalen, mit Graffitis besprühten Eingang und nahmen an einem der runden Holztische Platz. Es war früher Nachmittag, weshalb außer uns nur der Inhaber des Hot War anwesend war. Morgan ging zur Bar und holte uns drei Flaschen Bier sowie drei randvoll gefüllte Schnapsgläser. Wir stießen nicht an, sondern kippten den Whiskey einfach runter. Danach nahm Morgan die Gläser und ging zurück zur B
ar, um eine zweite Runde zu holen. Ich starrte auf die Bierflasche in meiner Hand und wünschte mir nichts mehr, als dass dieser Tag endlich zu Ende wäre.

  Der Alkohol half. Nach einer Weile fiel die Anspannung von uns ab, und wir begannen, uns zu unterhalten. Ich liebte es, wenn Riley von ihrem Job erzählte. Sie war Tierarzthelferin, was hervorragend zu ihr passte, da sie schon immer eine magische Beziehung zu Tieren gehabt hatte. Riley brauchte sie nur streicheln oder ihnen ein paar Worte zuzuflüstern, und schon beruhigten sie sich.

  »Wirklich, Sawyer. Du hättest ihn sehen sollen. Er war winzig, hatte aber so große Ohren, dass sie auf den Boden hingen. Als er aus der Narkose erwacht ist, ist er die ganze Zeit über seine eigenen Ohren gestolpert«, sagte sie grinsend. Sie lallte bereits ein kleines bisschen und tippte wild auf ihrem Handy, weil sie mir unbedingt das dazugehörige Bild zeigen wollte.

  »Jetzt will sie auch unbedingt einen Beagle«, sagte Morgan leise zu mir und nippte an seinem Bier.

  Riley stieß ein triumphierendes Geräusch aus und hielt mir das Handy vors Gesicht.

  Ich musste mich zurücklehnen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Auf dem Bild war ein Hund, der mit einer Pfote auf seinem eigenen Ohr stand und kurz davor war, zur Seite zu kippen.

  »Der sieht ja aus, als wäre er betrunken«, sagte ich. »Und die Ohren!«

  »Sag ich doch!«, rief Riley aufgeregt. »Baby, ich will auch einen Hund mit Ohren.«

  »Ich glaube, das musst du noch ein bisschen mehr eingrenzen.«

  »Einen mit langen Ohren«, ergänzte sie.

  »Geht klar. Aber erst nach der Hochzeit.«

  »Einverstanden.«

  Einen Moment lang sahen sie sich lächelnd an. Dann wurde Rileys Blick nachdenklich, und sie schwenkte ihr Schnapsglas ein paarmal hin und her. Dann holte sie tief Luft und sah mich an. »Die Hochzeitsplanungen sind mittlerweile voll im Gange.«

  Ich konnte es nicht verhindern: Ich versteifte mich. Riley merkte es natürlich. Seit sie bei mir im Wohnheim gewesen war, hatten wir dieses Thema jedes Mal ausgeklammert, wenn wir miteinander telefoniert hatten. Und auch wenn ich wusste, dass ich der Realität irgendwann ins Gesicht blicken und ihre Entscheidung akzeptieren musste, hätte ich mir gewünscht, dass sie mich wenigstens heute noch damit davonkommen ließ. Stattdessen sahen sie und Morgan mich erwartungsvoll an.

  Ich zwang einen freundlichen Ausdruck auf mein Gesicht. »Das ist … schön.«

  Ein Flackern trat in Rileys Augen. Es verschwand nach einem Wimpernschlag wieder, aber ich hatte es genau gesehen. Ich kannte meine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie dieses Mal nicht lockerlassen würde. Ihre nächsten Worte bestätigten mich. »Inzwischen haben wir sogar schon eine Location gebucht.«

  Ich versuchte alles, um mein Lächeln im Gesicht zu behalten, bekam allerdings kein einziges Wort heraus. Es war, als steckte ein fetter Klumpen in meinem Hals. Und in meinem Magen. Dieser Tag war schlimm genug – warum musste sie ihn jetzt noch schlimmer machen?

  Ich starrte an Riley vorbei auf das riesige Graffiti, das hinter ihr an die Wand gesprüht war. Es musste neu sein, denn ich hatte es noch nie zuvor gesehen. Eine Meerjungfrau saß auf einer Klippe, und ihr grünes Haar hing über ihre nackten Brüste bis zu ihrer Taille, wo ihr Körper in einen schillernden Fischschwanz überging. Das Bild wurde von blauen und grünen Neonröhren beleuchtet und sah ziemlich cool aus. Schade, dass ich meine Kamera nicht dabeihatte. Es wäre ein tolles Motiv gewesen.

  »Es wird eine coole Feier«, holte Riley mich aus meinen Gedanken. »Wir haben eine Scheune gebucht, in der Freunde von uns letztes Jahr geheiratet haben, und wir haben beschlossen, auf Caterer zu verzichten. Jeder, der mag, soll einfach eine Kleinigkeit fürs Buffet mitbringen.«

  Mein Lächeln wurde immer gezwungener. Großer Gott, was war los mit mir? Warum konnte ich mich nicht wie ein normaler Mensch verhalten und mich einfach freuen? Oder wenigstens so tun als ob?

  »Meine Freundin Harlow aus der Klinik und Janice, die ich noch von der Highschool kenne, werden Brautjungfern sein.«

  Ich erstarrte und wagte es nicht, Riley anzusehen. Oh Gott, jetzt würde es kommen. Sie würde mich fragen, ob ich mich an ihrem Hochzeitstag neben sie an den Altar stellen, ihren Strauß halten und dabei zusehen würde, wie sie sich von mir verabschiedete und ganz offiziell eine neue Familie bekam. Ich schluckte schwer und unterdrückte den Drang, die Augen fest zusammenzukneifen.

  »Wir haben auch schon eine Standesbeamtin gefunden, die die Trauung in der Scheune durchführt. Und Freunde von uns, die in einer Band sind, werden an dem Tag die Musik spielen – das wird so toll.«

  Oh. Okay. Wohl doch nicht.

  »Und weil die Planung momentan so gut läuft, wollen wir schon im November heiraten«, fügte Morgan hinzu.

  Ich riss die Augen auf. »Im November?«, krächzte ich.

  Die beiden nickten, und in meiner Brust schwoll ein Ballon an, der jeden Moment zu platzen drohte.

  »Wir wissen, dass das sehr wenig Zeit ist, um eine Hochzeit zu planen, aber es soll ja auch keine traditionelle Zeremonie werden oder so. Alles, was wir wollen, ist, einen schönen Tag mit unseren Freunden zu verbringen – ganz locker und ungezwungen«, erklärte Morgan.

  »Alle halten uns für verrückt«, sagte Riley lächelnd.

  »Sind wir ja auch«, murmelte Morgan und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Danach sahen sie sich an, und Riley wurde ganz rot.

  Der Ballon in meiner Brust platzte.

  Was machte ich hier überhaupt noch? Meine eigene Schwester wollte mich noch nicht mal als ihre Brautjungfer. Nicht, dass ich scharf auf den Job gewesen war, aber Riley zuliebe hätte ich es getan. Für Riley würde ich alles tun. Aber anscheinend wollte sie das überhaupt nicht.

  Rileys Verlobung hatte mir eine solche Angst gemacht, weil ich geglaubt hatte, dass ich sie in dem Moment verlieren würde, in dem sie Ja zu Morgan sagte. Doch jetzt merkte ich, dass das schon längst geschehen war.

  Sie hatte sich von mir entfernt, zu weit, als dass ich sie würde einholen können.

  Ich war allein.

  Mit zitternden Fingern griff ich nach meinem Glas und kippte den restlichen Whiskey runter. Dann stellte ich es ein bisschen heftiger als notwendig auf dem Tisch ab.

  Riley runzelte die Stirn. »Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du die Bilder für unsere Einladungen machen möchtest.«

  Ich schnaubte. »Eigentlich.«

  »Ja, eigentlich. Momentan bin ich aber am Überlegen, ob das eine schlaue Idee ist. Du machst nämlich nicht den Eindruck, als würdest du dich für uns freuen.«

  Ruckartig stand ich auf. Der Alkohol ließ mich einen Moment auf der Stelle schwanken.

  Riley und Morgan starrten mich an.

  »Sorry«, murmelte ich und machte einen Schritt vom Tisch weg. »Sorry. Aber ich kann nicht.«

  So schnell ich konnte, lief ich zum Ausgang des Hot War. Erst als ich die schwere Stahltür aufdrückte und mir die frische Septemberluft ins Gesicht stieß, wagte ich es, wieder einzuatmen.

  Ich lehnte mich neben die Tür an die Wand. Inzwischen war es dunkel, und ich starrte in den sternlosen Himmel, während ich versuchte, meinen Puls unter Kontrolle zu bekommen. Ich hatte mich so bemüht, mich zusammenzureißen. Aber warum hatte Riley ausgerechnet heute dieses Thema auf den Tisch bringen müssen?

  Ich war so in Gedanken, dass ich den Kerl neben mir erst bemerkte, als mir der Rauch von seinem Joint in die Nase stieg. Ich drehte meinen Kopf. Sein intensiver Blick ruhte auf mir, aber er sagte nichts. Ich musterte ihn langsam von oben bis unten. Er sah gut aus – mit seinem kantigen Gesicht und den halblangen blonden Haaren, die mich an Kurt Cobain erinnerten. Ohne den Blick von mir abzuwenden, hob er den Joint erneut an seine Lippen und zog daran. Ich beobachtete, wie der Rauch seinen Mund verließ.

  Dann reichte er mir den Joint. Als ich ihn entgegennahm, merkte ich, dass meine Finger zitterten. Ich war noch immer so wütend auf Riley und auf Morgan, aber vor allem auf mich se
lbst. Ich musste dringend runterkommen. Ich zog an dem Joint und spürte sofort, wie er mir zu Kopf stieg. Ich schloss die Augen. Das war genau das, was ich jetzt brauchte.

  Ich rauchte selten und vergaß jedes Mal, wie gut es sich anfühlte, wenn das Gras langsam, aber sicher alle Gedanken aus dem Kopf drängte, bis nichts als ein monotones Rauschen übrig blieb. Ich nahm zwei weitere tiefe Züge. Als ich Kurt Cobain den Joint zurückgeben wollte, hatte er bereits den nächsten in der Hand und schirmte ihn und das Feuerzeug vom Wind ab. Nachdem er ihn angezündet hatte, winkte er ab.

  »Behalt ihn. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«

  Wenn er wüsste. »Danke.«

  Ich lehnte mich gegen das Gemäuer und schloss die Augen. Irgendwann kamen Kurts Freunde aus der Kneipe und stellten sich zu ihm. Ich lauschte ihrem sinnlosen, betrunkenen Gerede, während ich fertig rauchte. Mit jedem Zug verschwand die Panik in meinem Inneren ein bisschen mehr.

  Aber die Enttäuschung und die Wut blieben. Dabei war ich am meisten auf mich selbst wütend. Ich war wütend, weil ich mich nicht freuen konnte, obwohl ich mich freuen wollte. Ich war wütend, weil ich auf keinen Fall wollte, dass Riley mich in ihre Hochzeitsplanungen einbezog, mir aber trotzdem wünschte, dass sie wenigstens gefragt hätte. Und ich war wütend, weil ich wusste, dass ich es niemals zulassen würde, dass mir jemand so nahe kam, wie Morgan Riley nahe gekommen war. Ich hatte zu viel Angst, verletzt zu werden.

  Zu wissen, dass ich vollkommen auf mich allein gestellt war, tat weh. Ich musste dringend aufhören, über Riley nachzudenken. Und vor allem über diese gottverdammte Hochzeit.

  Als hätte jemand meine Gedanken gelesen, klingelte mein Handy. Ich holte es aus meiner Jeanstasche.

  Riley.

  Ich starrte auf ihren Namen, dann drückte ich sie weg. Das Display zeigte mir zwei Nachrichten an, die ich im Laufe des Nachmittags bekommen hatte. Eine war von Dawn, die mir viel Spaß in Renton wünschte und mich bat, Riley für sie zu grüßen. Ich schnaubte und antwortete nicht. Die zweite war von Isaac und beinhaltete bloß ein Foto, auf dem ein zerbrochenes Weinglas zu sehen war.

 

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