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Gold - Pirate Latitudes

Page 22

by Michael Crichton


  »Schäden melden!«, rief Hunter wieder, als die nächste Salve einschlug.

  »Bugspriet weg!«

  »Focksegel weg!«

  »Kanone zwei beschädigt!«

  »Kanone sechs beschädigt!«

  »Besantoppsegel zerfetzt!«

  »Weg da unten!«, schrie eine Stimme, als auch schon die oberen Spieren des Besanmastes krachend in einem Regen aus Holz und Tauen herabfielen.

  Hunter warf sich hin, als alles rings um ihn herum aufs Deck schlug. Ein Segel bedeckte ihn, und als er sich aufrappelte, stach ein Messer durch den Stoff, dicht neben seinem Gesicht. Er wich zurück und sah Tageslicht; Lazue schnitt ihn frei.

  »Du hättest fast meine Nase erwischt«, sagte er.

  »Die würdest du nicht vermissen«, sagte Lazue.

  Eine weitere Salve vom spanischen Kriegsschiff pfiff über ihre Köpfe hinweg.

  »Sie sind zu hoch«, schrie Enders außer sich vor Freude. »Kreuzdonnerwetter, sie sind zu hoch!«

  Hunter blickte nach vorne, und im selben Augenblick krachte eine Kugel in die Geschützbesatzung Nummer fünf. Die Bronzekanone wurde in die Luft katapultiert, dicke Holzsplitter flogen in alle Richtungen. Ein Mann wurde von einem rasiermesserscharfen Stück in den Hals getroffen. Er fasste sich an die Kehle, fiel aufs Deck und krümmte sich vor Schmerz.

  Gleich daneben wurde ein anderer voll von einer Kugel erwischt. Sie halbierte seinen Körper, riss die Beine unter ihm weg. Der Rumpf rollte schreiend einige Augenblicke lang über die Planken, bis der Blutverlust den Tod brachte.

  »Schäden melden!«, rief Hunter. Einem Mann, der neben ihm stand, zertrümmerte ein Flaschenzug den Schädel, und er starb in einer roten, klebrigen Blutlache.

  Die Spiere des Focktoppsegels stürzte herab und zerschmetterte zwei Männern die Beine; sie heulten und brüllten zum Erbarmen.

  Schon kam die nächste Breitseite von den Spaniern.

  Inmitten dieses Chaos aus Verletzten, Toten und Zerstörung zu stehen und einen kühlen Kopf zu bewahren, war fast unmöglich, und doch tat Hunter sein Bestes, während eine Salve nach der anderen in sein Schiff krachte. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit die Spanier das Feuer eröffnet hatten. Das Deck war übersät mit Tauwerk und Spieren und gesplittertem Holz. Die Schreie der Verwundeten verschmolzen mit dem Heulen der Kanonenkugeln in der Luft. Für Hunter war das ganze Tohuwabohu um ihn herum längst zu einer ständigen Geräuschkulisse geworden, die er gar nicht mehr richtig wahrnahm. Obwohl er wusste, dass seine Galeone langsam und unerbittlich zerstört wurde, hielt er die Augen starr auf das feindliche Schiff gerichtet, das näher und näher kam.

  Er hatte schwere Verluste erlitten. Sieben Männer waren tot und zwölf verletzt; zwei Geschützstände waren zerstört. Er hatte den Bugspriet mit allem Segel verloren; er hatte das Besantoppsegel und die Großsegeltakelung auf der Leeseite verloren; er hatte zwei Treffer unter die Wasserlinie bekommen, und die El Trinidad nahm rasch Wasser auf. Schon jetzt spürte er, wie sie tiefer im Wasser lag und nicht mehr so schnell war, sondern irgendwie schleppend und tranig vorankam.

  Er konnte nicht versuchen, die Lecks abdichten zu lassen. Seine Leute hatten schon alle Hände voll damit zu tun, das Schiff einigermaßen auf Kurs zu halten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es unmöglich zu steuern war oder glattweg sank.

  Er blinzelte durch den Qualm auf das spanische Schiff. Es war nur noch schwer zu sehen. Trotz des starken Windes waren die beiden Schiffe von beißendem Rauch umhüllt.

  Das Kriegsschiff schloss rasch auf.

  »Siebenhundert Yards«, sagte Lazue tonlos. Sie war verletzt. Ein scharfkantiges Holzstück hatte ihr schon bei der fünften Salve den Unterarm aufgerissen. Sie hatte sich rasch eine Aderpresse unterhalb der Schulter angelegt und widmete sich weiter ihrer Aufgabe, ohne auf das Blut zu achten, das zu ihren Füßen aufs Deck tropfte.

  Eine weitere Salve kam kreischend angeflogen und brachte die Galeone mit mehreren Treffern ins Schaukeln.

  »Sechshundert Yards.«

  »Klar zum Feuern!«, rief Hunter und beugte sich vor, um das Ziel ins Fadenkreuz zu nehmen. Er visierte die Mitte des spanischen Kriegsschiffs an, das jedoch unvermutet ein wenig vorrückte. Jetzt hatte er das Heckkastell im Visier.

  Auch gut, dachte er, während er das Schwanken der El Trinidad durch das Fadenkreuz abschätzte. Langsam bekam er ein Gefühl für den Rhythmus, auf und ab, auf und ab, sah mal den grauen Himmel, dann nur Wasser, dann wieder das Kriegsschiff. Dann grauen Himmel, als die El Trinidad weiter nach oben schaukelte.

  Er zählte vor sich hin, wieder und wieder, bewegte dabei lautlos die Lippen.

  »Fünfhundert Yards«, sagte Lazue.

  Hunter wartete noch einen Augenblick länger. Dann zählte er.

  »Eins«, rief er, als das Fadenkreuz gen Himmel zeigte. Dann sank die Galeone nach unten, und die Umrisse des Kriegsschiffs glitten rasch vorbei.

  »Zwei«, rief er, als das Fadenkreuz in die schäumende See zeigte.

  Es folgte ein kurzes Zögern in der Bewegung. Er wartete.

  »Drei!« Er rief, als die Aufwärtsbewegung begann.

  »Feuer!«

  Die Galeone erbebte und bockte ruckartig nach oben, als alle dreißig Kanonen gleichzeitig feuerten. Hunter wurde so heftig nach hinten gegen den Hauptmast gerissen, dass ihm die Luft wegblieb. Er merkte es kaum – er wartete auf die Abwärtsbewegung, um zu sehen, was mit dem Feind passiert war.

  »Du hast getroffen«, sagte Lazue.

  Und tatsächlich. Die Wucht des Einschlags hatte das spanische Schiff zur Seite geschleudert, sodass das Heck nach außen schwenkte. Die Umrisse des Heckkastells waren jetzt eine gezackte Linie, und der gesamte Besanmast stürzte in einer seltsam langsamen Bewegung mit Segeln und allem ins Wasser.

  Doch im selben Augenblick sah Hunter, dass er zu weit vorne getroffen hatte, um das Ruder zu beschädigen, aber nicht weit genug vorne, um den Steuermann zu erwischen. Das Kriegsschiff war noch immer manövrierfähig.

  »Nachladen und ausfahren!«, rief er.

  Auf dem spanischen Schiff herrschte ein gehöriges Durcheinander. Er wusste, dass er Zeit gewonnen hatte. Ob er allerdings die zehn Minuten gewonnen hatte, die er für die Vorbereitung der zweiten Salve brauchte, das blieb abzuwarten.

  Am Heck des Kriegsschiffs waren Seeleute hektisch damit beschäftigt, die Taue des gestürzten Besanmastes zu kappen, um ihn vom Schiff wegzubekommen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden die im Wasser treibenden Trümmer mit dem Ruderblatt zusammenstoßen. Doch dazu kam es nicht.

  Hunter hörte das Rumpeln unter seinen Füßen, als die Kanonen ein Deck tiefer eine nach der andern neu geladen und zurück in die Schießscharten geschoben wurden.

  Das spanische Kriegsschiff war jetzt näher, keine vierhundert Yards auf backbord, doch für den Abschuss einer weiteren Breitseite fuhr es noch in einem zu schlechten Winkel.

  Eine Minute verging, dann noch eine.

  Die Spanier hatten ihr Schiff wieder fest im Griff, als der Besanmast mitsamt Segeln und Takelung im Kielwasser davontrieb.

  Der Bug drehte in den Wind, und das Schiff begann auf Hunters schwache Steuerbordseite zu wechseln.

  »Verdammt«, sagte Enders. »Ich hab gewusst, er ist ein gerissener Hund!«

  Das spanische Schiff ging für eine Steuerbordbreitseite in Position, die prompt einen Augenblick später erfolgte. Auf diese kürzere Entfernung war die Wirkung fürchterlich. Spieren und Tauwerk stürzten rings um Hunter aufs Deck.

  »Mehr verkraften wir nicht«, sagte Lazue leise.

  Hunter hatte das Gleiche gedacht. »Wie viele Kanonen einsatzbereit?«, rief er.

  Don Diego, der unten war, blickte das Deck entlang. »Sechzehn!«

  »Wir feuern mit sechzehn«, sagte Hunter.

  Wieder schlug eine spanische Breitseite mit verheerender Wirkung ein. Hunters Schiff wurde um ihn herum in Stücke geschossen.

  »Mr Enders!«, brüllte Hunter. »Fertig machen zum Wenden!«

  Enders blickte Hunter fassungslos an. Wenn sie jetzt vor dem Wind wendeten, musste sie vor den Bug des spanischen Schiffes kreuzen und
kämen ihm noch näher.

  »Fertig machen zum Wenden!«, rief Hunter erneut.

  »Klar zum Wenden!«, brüllte Enders. Verblüffte Seeleute hasteten zu den Leinen, machten sich hektisch daran, sie zu entwirren.

  Das Kriegsschiff verringerte den Abstand.

  »Dreihundertfünfzig Yards«, sagte Lazue.

  Hunter hörte sie kaum. Er scherte sich nicht länger um die Entfernung. Er visierte mit den Fadenkreuzen die qualmenden Umrisse des Kriegsschiffes an. Seine Augen brannten, und er sah nur noch verschwommen durch einen Tränenschleier. Er blinzelte ihn weg und richtete den Blick starr auf einen gedachten Punkt an der spanischen Silhouette. Tief und knapp hinter der Buglinie.

  »Klar zum Wenden! Ree!«, brüllte Enders.

  »Klar zum Feuern«, rief Hunter.

  Enders war verblüfft. Hunter wusste das, ohne das Gesicht des Meereskünstlers zu sehen. Er hielt das Auge auf das Fadenkreuz gerichtet. Hunter würde feuern, während das Schiff wendete. Ein nie da gewesenes, wahnsinniges Unterfangen.

  »Eins!«, rief Hunter.

  Im Fadenkreuz sah er sein Schiff durch den Wind schwingen und wenden, um auf die Spanier zuzuhalten.

  »Zwei!«

  Die El Trinidad war deutlich langsamer geworden, die Fadenkreuze glitten an den unscharfen spanischen Umrissen entlang. Vorbei an den vorderen Geschützscharten, auf blankes Holz …

  »Drei!«

  Das Fadenkreuz kroch auf dem Ziel weiter, aber es war zu hoch. Er wartete darauf, dass sich die Galeone senkte, weil sich das Kriegsschiff im selben Augenblick leicht heben und mehr Flanke zeigen würde.

  Er wartete, wagte nicht zu atmen, wagte nicht zu hoffen. Das Kriegsschiff hob sich, ein wenig, dann »Feuer!«

  Wieder taumelte sein Schiff unter dem Rückstoß der Kanonen. Es war eine wüste Salve, Hunter hörte und spürte sie, konnte aber nichts sehen. Er wartete, bis der Rauch sich lichtete und das Schiff nicht mehr so stark schaukelte. Er sah hin. »Barmherzige Mutter Gottes«, sagte Lazue.

  Das spanische Kriegsschiff wirkte unverändert. Hunter hatte es glatt verfehlt.

  »Zur Hölle mit mir«, sagte Hunter und dachte, dass sie jetzt alle zur Hölle fahren würden. Die nächste Breitseite von den Spaniern würde ihnen den Garaus machen.

  Don Diego sagte: »Es war ein nobler Versuch. Ein nobler Versuch und mutig ausgeführt.«

  Lazue schüttelte den Kopf. Sie küsste ihn auf die Wange. »Mögen die Heiligen uns alle bewahren«, sagte sie. Eine Träne lief ihr über die Wange.

  Hunter war zutiefst verzweifelt. Sie hatten ihre letzte Chance vertan und er hatte sie alle enttäuscht. Jetzt blieb ihnen nur noch, die weiße Flagge zu hissen und sich zu ergeben.

  »Mr Enders«, rief er, »hisst die weiße –«

  Er erstarrte: Enders tanzte hinter dem Ruder, schlug sich klatschend auf die Oberschenkel und brüllte vor Lachen.

  Dann hörte er von unten Triumphgeschrei. Die Männer auf dem Kanonendeck jauchzten und jubelten.

  Waren sie verrückt geworden?

  Neben ihm stieß Lazue einen Freudenschrei aus und lachte genauso laut los wie Enders. Hunter wirbelte zu dem spanischen Kriegsschiff herum, dessen Bug sich gerade mit einer Welle hob – und dann sah er das klaffende Loch, wenigstens sieben oder acht Fuß breit, unter der Wasserlinie. Gleich darauf senkte der Bug sich wieder, und der Schaden war nicht mehr zu sehen.

  Er hatte kaum Zeit, sich über die Bedeutung dessen, was er da gesehen hatte, klar zu werden, als aus dem Bugkastell des Kriegsschiffs dichte Rauchwolken quollen und erschreckend schnell aufstiegen. Einen Augenblick später hallte eine Explosion übers Wasser.

  Und dann verschwand das Kriegsschiff in einem riesigen Flammenball, als der Pulverraum in die Luft flog. Es gab eine donnernde Detonation, so gewaltig, dass die El Trinidad von der Wucht durchgeschüttelt wurde. Dann folgten eine zweite und eine dritte Detonation, und das Kriegsschiff löste sich binnen Sekunden vor ihren Augen auf. Hunter sah nur bruchstückhafte Bilder der Zerstörung – die umstürzenden Masten; die Kanonen, die von unsichtbaren Händen durch die Luft geschleudert wurden; das ganze Schiffsgerüst, das in sich selbst zusammenfiel, ehe es in alle Richtungen zersprengt wurde.

  Irgendetwas prallte über ihm gegen den Hauptmast und fiel ihm auf den Kopf. Es rutschte ihm auf die Schulter und aufs Deck. Er vermutete einen Vogel, doch als er nach unten blickte, sah er, dass es eine abgetrennte menschliche Hand war. An einem Finger steckte ein Ring.

  »Großer Gott«, flüsterte er, und als er wieder zu dem Kriegsschiff sah, bot sich ihm ein ebenso erstaunlicher Anblick.

  Das Schiff war verschwunden.

  Buchstäblich verschwunden: Eben noch war es da gewesen, verzehrt von lodernden Flammen und heißen Explosionsbällen, aber noch da. Jetzt war es verschwunden. Brennende Trümmer, Segel und Balken trieben auf dem Wasser, dazwischen die Leichen von Seeleuten. Und er hörte die Schreie und Rufe der Überlebenden. Doch das Kriegsschiff war verschwunden.

  Rings um ihn herum lachten und sprangen seine Männer vor ausgelassener Freude. Hunter konnte nur auf das Wasser starren, wo das Kriegsschiff gewesen war. Inmitten der brennenden Wrackteile fiel sein Blick auf einen Körper, der bäuchlings im Wasser trieb. Es war der Körper eines spanischen Offiziers, wie Hunter an der blauen Uniform erkannte. Die Hose des Mannes war bei den Explosionen zerfetzt worden, und sein nacktes Hinterteil war dem Blick preisgegeben. Hunter starrte auf das nackte Fleisch, fasziniert, dass der Rücken unversehrt geblieben war, die Kleidung darunter aber weggerissen. Der Leichnam schaukelte in den Wellen, und auf einmal sah Hunter, dass der Kopf fehlte.

  An Bord seines eigenen Schiffes merkte er undeutlich, dass die Besatzung nicht mehr jubelte. Sie waren alle verstummt und sahen ihn an. Er ließ den Blick über ihre müden, verdreckten, blutigen Gesichter schweifen, sah ihre ausgelaugten und vor Erschöpfung leeren Augen, die dennoch seltsam erwartungsvoll waren.

  Sie blickten ihn an und schienen darauf zu warten, dass er irgendetwas tat. Einen Augenblick lang konnte er sich nicht vorstellen, was sie von ihm wollten. Und dann spürte er etwas auf den Wangen.

  Regen.

  KAPITEL 31

  Der Hurrikan schlug mit aller Macht zu. Binnen Minuten kreischte der Wind mit mehr als vierzig Knoten durch die Takelage und peitschte mit prasselndem Regen schmerzhaft auf sie ein. Die See war noch rauer, mit fünfzehn Fuß hohen Wellen, Wasserberge, die das Schiff wie verrückt auf und ab warfen. Vom Kamm einer Woge hoch in der Luft stürzten sie Sekunden später wieder magenverdrehend tief in ein Wellental, in dem sich das Wasser bedrohlich hoch ringsherum auftürmte.

  Und alle an Bord wussten: Das war erst der Anfang. Der Wind und der Regen und die See würden noch viel schlimmer werden, und der Sturm würde Stunden, vielleicht Tage wüten.

  Mit einer Tatkraft, die die Erschöpfung der Mannschaft Lügen strafte, machten sie sich an die Arbeit. Sie räumten die Trümmer vom Deck und refften zerrissene Segel; sie hievten im Wasser schwimmende Segel an Bord und stopften die Lecks. Sie arbeiteten schweigend auf den rutschigen, wankenden nassen Decks, und jeder von ihnen wusste, wie schnell er über Bord gefegt werden konnte, ohne dass es irgendwer mitbekäme.

  Doch die erste – und härteste – Aufgabe war es, das Schiff wieder richtig zu trimmen, indem sie die Kanonen zurück auf die Steuerbordseite schafften. Das war schon bei ruhiger See und trockenen Planken eine Strapaze. Bei Sturm, während ständig Wasser über die Bordwand schwappte, das Deck sich immer wieder um fünfundvierzig Grad neigte und die Holzplanken und Taue klatschnass und glitschig waren, war es schlechterdings unmöglich und ein Albtraum. Dennoch blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie überleben wollten.

  Hunter leitete die Arbeiten, immer nur eine Kanone auf einmal. Es ging darum, die richtige Neigung des Decks vorauszuahnen und die Schwerkraft auszunutzen, während die Männer sich mit den Fünftausend-Pfund-Lasten abplagten.

  Sie verloren die erste Kanone. Ein Tau riss, und sie schlitterte wie ein Geschoss über das schräge Deck, durchschlug die Reling auf der anderen Seite und stürzte ins Wasser. Die Männer waren entsetzt von der Schnelligkeit, mit der das p
assiert war. Bei der zweiten Kanone verdoppelten sie die Taue, doch sie rissen trotzdem, und die Kanone zerquetschte einen Seemann auf ihrem Weg ins Meer.

  Die nächsten fünf Stunden kämpften sie gegen Wind und Regen, um die Kanonen auf die andere Seite zu schaffen und sicher zu vertäuen. Schließlich war es geschafft, und alle Männer an Bord klammerten sich zu Tode erschöpft mit dem letzten Quäntchen Kraft im Leib wie ertrinkende Tiere an Streben und Relings, um nicht über Bord gespült zu werden.

  Doch Hunter wusste, dass der Sturm erst anfing.

  Ein Hurrikan, das wohl furchterregendste Naturereignis überhaupt, war für die Reisenden auf ihrem Weg in die Neue Welt eine noch nie gemachte Erfahrung. Der Name – Hurrikan – ist ein Arawak-Wort für Stürme, für die es in Europa keine Entsprechung gibt. Hunters Männer wussten, wie schrecklich diese gigantischen Wirbelwinde wüteten, und suchten angesichts der fürchterlichen Wirklichkeit, dass sie so einem Sturm jetzt ausgesetzt waren, Zuflucht bei den ältesten abergläubischen Vorstellungen und Bräuchen der Seefahrt.

  Enders stand am Steuer, beobachtete die Wasserberge ringsherum und murmelte jedes Gebet, das er je als Junge gelernt hatte, während er immer wieder den Haifischzahn berührte, den er um den Hals trug, und wünschte, er könnte mehr Segel setzen. Die El Trinidad mühte sich derzeit mit nur drei Segeln ab, und es brachte Unglück, mit drei zu segeln.

  Unter Deck nahm der Maure seinen Dolch und schnitt sich in den Finger, malte dann mit seinem Blut ein Dreieck auf die Planken. In die Mitte des Dreiecks stellte er eine Feder und hielt sie fest, während er lautlos eine Beschwörungsformel murmelte.

  Vorn im Schiff warf Lazue ein Fässchen mit Pökelfleisch über Bord und hielt drei Finger hoch. Es war der älteste Aberglaube von allen, obwohl sie nur die alte Seemannsgeschichte kannte, dass ins Meer geworfene Nahrungsmittel und drei in die Luft gereckte Finger ein Schiff in Seenot retten könnten. Die drei Finger standen für den Dreizack Neptuns, und die Nahrungsmittel waren eine Opfergabe an den Meeresgott.

 

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