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Gold - Pirate Latitudes

Page 23

by Michael Crichton


  Hunter selbst gab vor, für derlei Aberglaube nur Verachtung zu empfinden, ging aber in seine Kajüte, verriegelte die Tür, kniete sich hin und betete. Rings um ihn herum wurden die Möbel von einer Wand gegen die andere geworfen, während das Schiff wie verrückt auf den tosenden Wellen tanzte.

  Draußen heulte der Sturm mit dämonischer Wut, und das Schiff unter ihm stieß knarrend und ächzend lange, gequälte Seufzer aus. Zuerst nahm er keinen anderen Laut wahr, doch dann hörte er den Schrei einer Frau. Und dann wieder einen.

  Er eilte aus seiner Kajüte und sah, wie fünf Seeleute Lady Sarah Almont zum Niedergang zerrten. Sie schrie und wehrte sich mit Händen und Füßen.

  »Halt«, rief Hunter und ging zu ihnen. Über ihnen krachten Wellen aufs Deck.

  Die Männer wichen seinem Blick aus.

  »Was geht hier vor?«, wollte Hunter wissen.

  Keiner der Männer antwortete. Schließlich kreischte Lady Sarah: »Die wollen mich ins Meer werfen!«

  Der Wortführer der Männer schien Edwards zu sein, ein rauer Seemann, der schon bei Dutzenden Kaperfahrten dabei gewesen war.

  »Sie ist eine Hexe«, sagte er und sah Hunter trotzig an. »Eine Hexe, Captain. Wir überstehen den Sturm niemals, wenn sie an Bord ist.«

  »Das ist Unfug«, sagte Hunter.

  »Glaubt mir«, sagte Edwards. »Mit ihr an Bord sind wir verloren. Glaubt mir, sie ist eine Hexe, so wahr ich hier stehe.«

  »Woher weißt du das?«

  »Ich hab’s ihr gleich angesehen«, sagte Edwards.

  »Welche Beweise hast du?«, fragte Hunter nach.

  »Der Mann ist verrückt«, sagte Lady Sarah. »Vollkommen verrückt.«

  »Welche Beweise?«, rief Hunter über den tosenden Wind hinweg.

  Edwards zögerte. Schließlich ließ er die Frau los und wandte sich ab. »Hat keinen Sinn, drüber zu reden«, sagte er. »Aber Ihr werdet schon sehen. Ihr werdet schon sehen.«

  Er ging weg. Einer nach dem anderen folgten die anderen Männer ihm, und Hunter blieb allein mit Lady Sarah zurück.

  »Geht in Eure Kajüte«, sagte Hunter, »verriegelt die Tür und bleibt dort. Kommt unter keinen Umständen heraus und öffnet auf gar keinen Fall die Tür.«

  Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Furcht. Sie nickte und ging in ihre Kajüte. Hunter wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, und stieg dann nach kurzem Zögern an Deck, wo der Sturm ihn mit voller Wucht traf.

  Unter Deck war der Sturm schon beängstigend, aber auf dem Hauptdeck übertraf er alles, worauf man gefasst sein konnte. Der Wind riss an ihm wie ein unsichtbarer Riese, wie zahllose starke Hände, die ihm an Armen und Beinen zerrten, als er sich verzweifelt festzuklammern versuchte. Der Regen peitschte mit solcher Kraft auf ihn ein, dass er unwillkürlich aufschrie. In den ersten paar Sekunden konnte er kaum etwas sehen. Dann erkannte er Enders, der felsenfest am Steuer stand.

  Während Hunter sich zu ihm hinüberkämpfte, musste er sich an einem Seil festhalten, das übers Deck gespannt worden war. Schließlich erreichte er den Schutz des Heckkastells. Er schlang ein zusätzliches Seil um seinen Oberkörper, lehnte sich näher zu Enders vor und rief: »Wie steht es?«

  »Nicht besser, nicht schlechter«, rief Enders zurück. »Wir halten uns, und wir halten auch noch eine Weile länger durch, aber nur noch einige Stunden. Ich kann spüren, wie sie langsam aufgibt.«

  »Wie viele Stunden noch?«

  Enders’ Erwiderung ertrank in dem Wellenberg, der über sie hinwegbrandete und donnernd aufs Deck schlug.

  Wie auch immer die Antwort gelautet hatte, dachte Hunter: Kein Schiff konnte eine solche Tortur lange überstehen, erst recht kein so angeschlagenes Schiff wie die El Trinidad.

  In ihrer Kajüte betrachtete Lady Sarah Almont die Zerstörung, die sowohl der Sturm als auch die Seemänner angerichtet hatten, die sie mitten in ihren Vorbereitungen überrumpelt hatten. Obwohl das Schiff heftig schwankte, stellte sie vorsichtig ihre roten Kerzen wieder auf den Plankenboden und zündete sie an, bis alle fünf brannten. Dann kratzte sie ein Pentagramm in das Holz und stellte sich hinein.

  Sie hatte große Angst. Als die Französin, Madame de Rochambeau, ihr und anderen Ladys die neusten Moden am Hofe von Louis XIV. vorgeführt hatte, war sie amüsiert gewesen, hatte sogar ein wenig gespöttelt. Aber in Frankreich, so hieß es, töteten Frauen ihre Neugeborenen, um sich ewige Jugend zu verschaffen. Wenn das stimmte, vielleicht nur ein wenig, dann könnte ein Engländer, um ihr Leben zu retten, doch …

  Was konnte es schaden? Sie schloss die Augen, hörte den Sturm ringsherum heulen. »Greedigut. Greedigut, komm zu mir–«

  Das Deck schwankte wie verrückt, die Kerzen rutschten mal hierhin, mal dorthin. Sie musste immer wieder abbrechen, um sie aufzufangen. Das war alles sehr störend. Wie schwierig es doch war, eine Hexe zu sein! Madame de Rochambeau hatte nichts von Beschwörungen an Bord eines Schiffes gesagt. Vielleicht zeigten sie ja gar keine Wirkung. Vielleicht war das alles ja bloß französischer Humbug.

  »Greedigut …«, stöhnte sie. Sie streichelte sich.

  Und dann meinte sie zu hören, dass der Sturm nachließ.

  Oder war das bloß Einbildung?

  »Greedigut, komm zu mir, nimm mich, fahr in mich …«

  Sie stellte sich Krallen vor, sie fühlte den Wind, der ihr Nachtgewand flattern ließ, sie spürte etwas im Raum …

  Und der Wind flaute ab.

  TEIL V

  DAS MAUL DES DRACHEN

  KAPITEL 32

  Mit dem seltsamen Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, erwachte Hunter aus einem unruhigen Schlaf. Er setzte sich im Bett auf und merkte, dass um ihn alles viel leiser war: Das Schiff schwankte nicht mehr so wild, und der Wind war nur noch ein Flüstern.

  Er hastete an Deck, wo leichter Regen fiel. Das Meer war ruhiger geworden und die Sicht hatte sich verbessert. Enders, noch immer am Ruder, sah halb tot aus, hatte aber ein Grinsen aufgesetzt.

  »Wir haben’s geschafft, Captain«, sagte er. »Vom Schiff ist zwar nicht mehr viel übrig, aber wir haben’s geschafft.«

  Enders deutete nach steuerbord. Es war Land in Sicht – die niedrigen grauen Umrisse einer Insel.

  »Was ist das da?«, fragte Hunter.

  »Weiß nicht«, sagte Enders. »Aber wir schaffens gerade noch bis dahin.«

  Ihr Schiff war zwei Tage und Nächte hin und her geworfen worden, und sie hatten keine Ahnung von ihrer Position. Sie näherten sich der kleinen Insel, die geduckt und zerzaust und nicht besonders einladend aussah. Schon aus der Ferne konnten sie sehen, dass am Strand dicht an dicht Kakteen wuchsen.

  »Ich schätze, das sind die Inseln unter dem Wind«, sagte Enders und blinzelte wissend. »Vermutlich in der Nähe der Boca del Dragon, und in diesen Gewässern finden wir keine Ruhe.« Er seufzte. »Ich wünschte, wir könnten die Sonne sehen, zur Orientierung.«

  Die Boca del Dragon – das Drachenmaul – war der Meeresstreifen zwischen den karibischen Inseln unter dem Wind und der Küste Südamerikas. Die Gewässer dort waren berüchtigt und gefürchtet, obwohl sie im Augenblick einigermaßen friedlich wirkten.

  Trotz der ruhigen See schlingerte und schwankte die El Trinidad wie ein Betrunkener. Dennoch gelang es ihnen mit zerfetzten Segeln, die Südspitze der Inseln zu umrunden und am westlichen Ufer eine recht gute Bucht anzusteuern. Sie lag geschützt und hatte einen sandigen Grund, der zum Kielholen geeignet war. Hunter ließ das Schiff festmachen, und seine erschöpfte Besatzung ging an Land, um sich auszuruhen.

  Von Sanson und der Cassandra fehlte jede Spur. Ob sie den Sturm überstanden hatten, war Hunters zu Tode erschöpften Männern im Augenblick gleichgültig. Sie lagen lang ausgestreckt in ihren nassen Sachen am Strand und schliefen, die Gesichter im Sand, die Körper reglos wie Leichen. Die Sonne lugte kurz hinter dünnen Wolken hervor. Hunter spürte, wie auch ihn die Müdigkeit überwältigte, und schlief ebenfalls ein.

  Die nächsten drei Tage waren sonnig. Die El Trinidad wurde kielgeholt, und die Besatzung reparierte die Schäden unterhalb der Wasserlinie sowie die Spieren der zerstörten Aufbauten. Eine Durchsuchung des Schiffs ergab, dass kein Holz an
Bord war. Für gewöhnlich führte eine Galeone von dieser Größe zusätzliche Spieren und Masten im Frachtraum mit, doch die Spanier hatten offenbar darauf verzichtet, um mehr Platz für die Ladung zu haben. Hunters Männer mussten sich also so irgendwie behelfen.

  Enders richtete sein Astrolabium auf die Sonne und ortete ihre Breite bei vierzig Grad – sehr weit südlich. Sie waren nicht weit von den spanischen Stützpunkten Cartagena und Maracaibo an der südamerikanischen Küste entfernt. Doch davon abgesehen wussten sie absolut nichts über ihre Insel, die sie No Name Cay tauften.

  Hunter spürte die besondere Verwundbarkeit eines Captains, als die El Trinidad seeuntüchtig auf der Seite lag. Würden sie jetzt angegriffen, wären sie praktisch hilflos. Doch er hatte keinen Grund, irgendetwas zu befürchten; die Insel war offenbar unbewohnt, und das Gleiche galt für die zwei kleinen Nachbarinseln im Süden.

  Dennoch lag auf No Name etwas Ungastliches, geradezu Feindseliges in der Luft. Der Boden war dürr und von Kakteen überwuchert, die stellenweise dicht wie ein Wald standen. Leuchtend bunte Vögel krakeelten im Gestrüpp, ihre Schreie vom Wind getragen. Der Wind wehte unaufhörlich; es war ein heißer, unangenehmer Wind, der mit fast zehn Knoten tagaus, tagein blies und nur in der Morgendämmerung kurz abflaute. Die Männer gewöhnten sich daran, mit dem Heulen des Windes in den Ohren zu arbeiten und zu schlafen.

  Irgendetwas an der Insel veranlasste Hunter, rings um das Schiff und die verstreuten Lagerfeuer seiner Leute Wachen zu postieren. Er redete sich ein, die Maßnahme wäre erforderlich, um unter den Männern wieder Disziplin herzustellen, doch der eigentliche Grund war eine böse Vorahnung. Am vierten Abend, beim Essen, teilte er die Nachtwachen ein. Enders sollte die erste Wache übernehmen; er selbst die zweite ab Mitternacht, um sich dann von Bellows ablösen zu lassen. Er schickte einen Mann los, um Enders und Bellows zu verständigen. Eine Stunde später kam der Mann zurück.

  »Tut mir leid, Captain«, sagte er. »Ich kann Bellows nicht finden.«

  »Was soll das heißen, nicht finden?«

  »Er ist nirgends zu finden, Captain.«

  Hunter ließ den Blick über das Unterholz am Ufer schweifen. »Der hat sich irgendwo zum Schlafen hingelegt«, sagte er. »Sucht die Bucht ab und bringt ihn her. Der kann was erleben.«

  »Aye, Captain«, sagte der Mann.

  Doch Bellows blieb spurlos verschwunden. Als die Dunkelheit zunahm, blies Hunter die Suche ab und versammelte alle seine Leute um die Feuer. Er zählte vierunddreißig, einschließlich der spanischen Gefangenen und Lady Sarah. Er wies sie an, nah bei den Feuern zu bleiben, und bestimmte einen anderen Mann, der Bellows’ Wache übernehmen würde.

  Die Nacht verlief ohne Zwischenfall.

  Am nächsten Morgen machte Hunter sich mit einigen seiner Leute auf die Suche nach Holz. Da auf No Name keines zu finden war, setzte er mit zehn bewaffneten Männern zu der nächstgelegenen Insel im Süden über. Dieses Eiland hatte, wenigstens aus der Entfernung, Ähnlichkeit mit No Name, weshalb Hunter sich eigentlich keine große Hoffnungen machte, dort fündig zu werden.

  Trotzdem musste er sich vergewissern.

  Sie landeten am Ostufer, und sobald das Beiboot an den Strand gezogen war, machten Hunter und sein Suchtrupp sich auf den Weg ins Innere der Insel. Sie mussten durch dicht stehende Kakteen, die an ihrer Kleidung zerrten und rissen, bis sie am späten Vormittag höheres Gelände erreichten. Von dort machten sie zwei Entdeckungen.

  Als Erstes konnten sie die nächste Insel in der Kette nach Süden hin deutlich erkennen. Dünne graue Rauchfäden von einem halben Dutzend Feuerstellen hingen in die Luft. Die Insel war offensichtlich bewohnt.

  Von unmittelbarerem Interesse für sie war allerdings die zweite Entdeckung: die Dächer eines Dorfes, das sich am Westufer der Insel befand. Von ihrem Standort aus wirkten die primitiven Gebäude wie ein spanischer Außenposten.

  Hunter führte seine Männer vorsichtig auf das Dorf zu. Mit schussbereiten Musketen schlichen sie von einem Kakteenbestand zum nächsten. Als sie der Siedlung sehr nah waren, feuerte einer von Hunters Männern versehentlich seine Muskete ab; der gellende Knall wurde vom Wind weitergetragen. Hunter fluchte und machte sich darauf gefasst, dass im Dorf Panik ausbrechen würde.

  Doch nichts rührte sich, alles blieb still.

  Er wartete eine Weile ab und führte seine Männer dann in das Dorf hinein. Sogleich wurde ihm klar, dass die Siedlung verlassen war. Die Häuser standen leer. Hunter betrat das erste, fand aber nichts außer einer spanischen Bibel und zwei mottenzerfressenen Decken über plumpen, kaputten Betten. Taranteln huschten Schutz suchend ins Dunkel.

  Er ging zurück auf die Straße. Seine Männer schlichen von Haus zu Haus, kamen aber stets mit leeren Händen und kopfschüttelnd wieder heraus.

  »Vielleicht waren sie gewarnt, dass wir kommen«, mutmaßte einer der Seeleute.

  Hunter schüttelte den Kopf. »Seht mal da, in der Bucht.«

  In der Bucht lagen vier kleine Boote im flachen Wasser vertäut und schaukelten sanft in den plätschernden Wellen. Wer aus der Siedlung fliehen wollte, hätte doch gewiss den Weg übers Wasser gewählt.

  Boote zurückzulassen machte einfach keinen Sinn.

  »Seht mal hier«, rief einer der Männer vom Strand her. Hunter ging zu ihm. Er sah fünf lange tiefe Furchen im Sand, die Spuren von schmalen Booten oder vielleicht Kanus, die vom Strand ins Wasser gezogen worden waren. Drum herum waren viele Abdrücke von nackten Füßen zu sehen. Und einige rötliche Flecken.

  »Ist das Blut?«

  »Keine Ahnung.«

  Am nördlichen Rand der Siedlung stand eine Kirche, die genauso primitiv gezimmert war wie die übrigen Behausungen. Hunter und seine Männer gingen hinein. Das Innere war völlig zerstört, und alle Wände waren mit Blut besudelt. Hier hatte ein Gemetzel stattgefunden, aber nicht erst kürzlich. Es war wenigstens ein paar Tage her. Der Geruch nach getrocknetem Blut war widerwärtig.

  »Was ist das?«

  Hunter ging hinüber zu einem Seemann, der ein großes Stück Haut auf dem Boden betrachtete. Es war ledrig und schuppig. »Sieht aus wie von einem Krokodil.«

  »Aye, aber woher?«

  »Nicht von hier«, sagte Hunter. »Hier gibt’s keine Krokodile.«

  Er hob die Haut auf. Sie stammte von einem großen Tier, fünfzehn Fuß oder länger. In der Karibik wurden nur wenige Krokodile so groß; die in den Sümpfen von Jamaika waren höchstens drei oder vier Fuß lang.

  »Ist schon eine Weile her, dass sie abgezogen wurde«, sagte Hunter. Er nahm die Haut genau in Augenschein. Um den Kopf herum waren Löcher hineingeschnitten, durch die ein Rohlederriemen gefädelt worden war. Als sollte sie als Schulterumhang dienen.

  »Verdammt, seht mal da drüben, Captain.«

  Hunter blickte zu der Nachbarinsel im Süden. Der Feuerrauch war jetzt verschwunden. Und im selben Augenblick hörten sie schwache Trommelschläge.

  »Wir sollten lieber zurück zum Boot«, sagte Hunter, und im Nachmittagslicht ließen er und seine Männer die Siedlung rasch hinter sich. Nach fast einer Stunde erreichten sie wieder ihr Beiboot, das am Ostufer am Strand lag. Als sie näher kamen, entdeckten sie wieder eine dieser rätselhaften Kanufurchen im Sand.

  Und noch etwas.

  Nicht weit von ihrem Boot war eine Stelle im Sand glatt gestrichen und mit kleinen Steinen umringt worden. In der Mitte ragten fünf Finger einer Hand in die Luft.

  »Eine eingebuddelte Hand«, sagte einer der Männer. Er bückte sich, um sie an einem Finger herauszuziehen.

  Der Finger steckte nur lose im Sand. Vor Schreck ließ der Mann ihn fallen und trat zurück. »Allmächtiger!«

  Hunter spürte sein Herz heftig klopfen. Er blickte die Seeleute an, die ängstlich zurückgewichen waren.

  »Ganz ruhig«, sagte er und beugte sich vor, um die Finger einen nach dem anderen aus dem Sand zu ziehen. Er hielt sie seinen Männern auf der flachen Hand hin. Sie starrten entsetzt darauf.

  »Was hat das zu bedeuten, Captain?«

  Er hatte keine Ahnung. Er steckte die Finger in seine Tasche. »Zurück zur Galeone, und dann sehen wir weiter«, sagte er.


  Am Abend saß er am Lagerfeuer und schaute sich im Schein der Flammen die Finger an. Lazue hatte die Erklärung geliefert, nach der sie alle suchten.

  »Sieh dir die Enden an«, sagte sie und deutete auf die groben Schnittstellen. »Das ist die Handschrift der Kariben, keine Frage.«

  »Kariben«, wiederholte Hunter erstaunt. Die Kariben, einst ein ausgesprochen kriegerischer Indianerstamm auf vielen karibischen Inseln, waren bloß noch eine Art Mythos, ein untergegangenes Volk. In den ersten hundert Jahren ihrer Herrschaft hatten die Spanier sämtliche Indianer der Karibik ausgelöscht. Nur im Innern einiger entlegener Inseln fanden sich noch wenige friedliche Arawaks, die in Armut und Elend lebten. Doch die blutrünstigen Kariben waren seit Langem verschwunden.

  So glaubte man jedenfalls.

  »Woher willst du das wissen?«, fragte Hunter.

  »Das sehe ich an den Schnittstellen«, antwortete Lazue. »Die Finger wurden nicht mit Metallklingen abgeschnitten, sondern mit Steinklingen.«

  Hunter wollte ihr noch immer nicht recht glauben.

  »Das muss ein Trick von den Spaniern sein, um uns Angst einzujagen«, sagte er. Doch die Erklärung klang sogar für ihn selbst wenig überzeugend. Alles passte zusammen – die Spuren von den Kanus, die Krokodilhaut mit den Löchern für den Lederriemen.

  »Die Kariben sind Kannibalen«, sagte Lazue tonlos. »Aber sie lassen die Finger zurück, als Warnung. So machen sie das immer.«

  Enders trat zu ihnen. »Verzeiht, Sir, aber Miss Almont ist noch nicht wieder da.«

  »Was?«

  »Sie ist noch nicht zurück, Sir.«

  »Von wo?«

  »Ich hab sie ins Landesinnere gehen lassen«, sagte Enders kleinlaut und deutete in Richtung der dunklen Kakteen, weg vom Feuerschein um das Schiff. »Sie wollte Früchte und Beeren sammeln, weil sie ja Vegetarierin –«

  »Wann ist sie losgegangen?«

  »Heute Nachmittag, Captain.«

  »Und sie ist noch nicht zurück?«

 

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