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Exodus

Page 70

by Leon Uris


  Das Schlachtfeld war mit toten Arabern übersät, und die Verwundeten riefen: »Wir sind Brüder! Gnade, im Namen Allahs!« Der Rest stürzte in wilder Flucht davon und begab sich ungeordnet auf den Rückzug. Kawuky hatte ihnen einen leichten Sieg und fette Beute versprochen. Er hatte ihnen vorgespiegelt, daß dieses erbärmliche Häufchen orthodoxer Juden schon bei ihrem bloßen Erscheinen die Flucht ergreifen würde. Mit einem solchen Widerstand hatten sie nicht gerechnet. Die Araberinnen, die mit ihren Säcken gewartet hatten, flohen gleichfalls.

  Die Offiziere der Arabischen Legion sammelten die Flüchtlinge, die sie nur dadurch zum Stehen bringen konnten, indem sie auf sie schossen. Sie führten ihre Truppe erneut zum Angriff vor, doch die Irregulären hatten keinen rechten Mut mehr.

  Für die Juden in Tirat Zwi sah die Sache sehr übel aus. Sie hatten nicht mehr genug Munition, um einen nochmaligen Angriff abzuschlagen, falls die Araber erneut in großer Zahl und mit Entschiedenheit angriffen. Sollten die Araber aber ihre Taktik ändern und einen anhaltenden Angriff mit einer seitlichen Umgehung verbinden, so konnten die Juden erst recht nicht standhalten. In aller Eile organisierten sie einen Verteidigungsplan. Die Munition wurde zum größten Teil an zwanzig Scharfschützen verteilt. Alle anderen zogen sich zu dem Haus zurück, in dem die Kinder untergebracht waren und machten sich zur letzten Gegenwehr mit Bajonetten, Holzknüppeln und Gewehrkolben bereit. Sie beobachteten durch Feldstecher, wie sich die Araber zum Angriff massierten, und stellten fest, daß der Gegner zahlenmäßig noch immer stark genug war, um den Kibbuz zu überrennen.

  Die Araber kamen diesmal etwas langsamer über das offene Feld heran, wobei einige der Offiziere den Soldaten folgten und sie mit vorgehaltener Pistole zwangen, anzugreifen. Plötzlich öffnete sich der Himmel zu einem überraschenden Wolkenguß. Innerhalb von Minuten verwandelte sich der Acker in einen grundlosen Morast. Statt sich zu beschleunigen, begann der Angriff der Araber im Schlamm steckenzubleiben, genau wie einst die Wagen der Kanaaniter im Kampf gegen Deborah.

  Als die ersten Offiziere den Kibbuz erreichten, nahmen die Scharfschützen sie aufs Korn und bliesen sie um. Kawukys ruhmreiche »Yarmuk-Streitkräfte« hatten für diesmal genug.

  Kawuky tobte vor Wut über die Blamage von Tirat Zwi. Er mußte rasch einen Sieg erreichen, um das Gesicht zu wahren. Diesmal entschloß er sich, ein gewagtes Spiel zu spielen.

  Vom strategischen Standpunkt aus war die Straße zwischen Tel Aviv und Haifa für den Jischuw wichtiger als die Straße nach Jerusalem. War die Verbindung zwischen Tel Aviv und Haifa unterbrochen, dann waren Galiläa und Scharon voneinander getrennt, und die Juden der Möglichkeit des einheitlichen Handelns beraubt. An der Hauptverkehrsstraße von Tel Aviv nach Haifa lagen arabische Ortschaften, die die Juden zwangen, die weiter im Innern gelegenen Nebenstraßen zu benutzen, um den Güterverkehr zwischen den beiden Städten aufrechtzuerhalten. An einer der wichtigsten dieser Umgehungsstraßen lag der Kibbuz Mischmar Ha'Emek — »der Talwächter«. Kawuky, dessen Ehrgeiz darauf ausging, Tel Aviv von Haifa zu trennen, beschloß, Mischmar Ha'Emek anzugreifen.

  Diesmal war Kawuky entschlossen, die Fehler von Tirat Zwi nicht zu wiederholen. Er massierte mehr als tausend Mann und ging mit ihnen in den Bergen rings um Mischmar Ha'Emek in Stellung, unterstützt durch zehn Kanonen Gebirgsartillerie Kaliber 7,5.

  Als er Mischmar Ha'Emek eingeschlossen hatte, eröffnete Kawuky heftiges Artilleriefeuer, dem die Juden nichts entgegenzusetzen hatten als ein einziges Maschinengewehr.

  Nachdem der Kibbuz einen Tag lang unter Beschuß gelegen hatte, riefen die Engländer einen Waffenstillstand aus, begaben sich nach Mischmar Ha'Emek und wiesen die Juden an, den Ort zu evakuieren. Als die Einwohner dieses Ansinnen ablehnten, zogen die Engländer wieder ab. Sie wuschen ihre Hände in Unschuld. Kawuky erfuhr von den Engländern, daß die Juden in Mischmar Ha'Emek relativ schwach waren. Was Kawuky nicht wußte, da er nicht über einen Intelligence Service zur Feindaufklärung verfügte, war, daß es im Emek-Tal von Leuten wimmelte, die für die Hagana ausgebildet wurden. Im Laufe der zweiten Nacht begaben sich zwei Bataillone der Hagana leise und unbemerkt in den Kibbuz.

  Am Tage darauf trat Kawuky mit seinen Leuten zum Angriff an. Statt einen Kibbuz zu betreten, dessen Bewohner sich erschreckt verkrochen, stieß er auf zwei Bataillone ausgebildeter Soldaten, die darauf brannten, sich mit dem Gegner zu messen. Kawukys Angriff wurde zerschlagen.

  Er sammelte seine Leute und versuchte es mit einem allmählichen, aber pausenlos vorgetragenen Angriff. Er war genauso erfolglos. Kawuky griff wieder und wieder an, doch mit jedem Angriff sank die Angriffslust der Irregulären. Sie gingen vor, wichen aber zurück, sobald sie auf ernstlichen Widerstand stießen.

  Gegen Ende des Tages hatte Kawuky seine Leute nicht mehr in der Hand. Sie fingen an, sich aus dem Kampfgebiet davonzumachen.

  Die Juden in Mischmar Ha'Emek beobachteten diese Entwicklung, brachen vor und stießen den fliehenden Arabern nach. Diese Wendung war völlig unerwartet. Die Araber waren so konsterniert, als sie die zum Angriff vorgehenden Juden sahen, daß sie die Flucht ergriffen, während die Männer der Hagana ihnen buchstäblich auf den Fersen folgten. Das Rückzugsgefecht erstreckte sich meilenweit bis nach Meggiddo, der Stelle, an der Hunderte Schlachten durch die Jahrhunderte hindurch stattgefunden hatten. Und hier, auf dem historischen Schlachtfeld, schlugen die Juden Kawukys Streitkräfte vernichtend. Das Gemetzel endete erst, als die Engländer aufkreuzten und einen Waffenstillstand erzwangen. Die Juden hatten ihren ersten klaren Sieg in ihrem Freiheitskrieg errungen.

  Im Korridor von Jerusalem leistete die Hügelbrigade des Palmach eine geradezu titanische Arbeit, um die Straße offenzuhalten. Diese kaum Zwanzigjährigen, mit Kommandeuren, die nicht viel älter waren als sie, patrouillierten durch die tiefen Schluchten und Einöden von Judäa und unternahmen ständig Überraschungsangriffe auf arabische Stützpunkte.

  In Tel Aviv wurde ein riesiger Geleitzug vorbereitet, um Jerusalem zu retten. Aufgabe der Hügelbrigade war es, das arabische Dorf Kastei einzunehmen, das um eine alte Kreuzritterfestung gebaut war — eine der wichtigsten Höhenstellungen der Straße.

  Der Sturm auf Kastei wurde zur ersten jüdischen Offensivaktion im Freiheitskrieg. Die Brigade mußte das Dorf in der Dunkelheit von der Flanke her angreifen. Müde und erschöpft vom Aufstieg erreichte sie Kastei, eröffnete trotzdem sofort das Feuer und vertrieb die Araber nach blutigen Nahkämpfen aus dem Ort.

  Die Einnahme von Kastei trug wesentlich dazu bei, die gedrückte Stimmung des Jischuw zu heben. Nach diesem Sieg gelang es dem Geleitzug, Schritt für Schritt weiter durch Bab el Wad vorzudringen und die Neustadt von Jerusalem zu erreichen. Der belagerten Stadt wurde lebenswichtige Erleichterung zuteil.

  Kawuky raste. Er mußte einen Sieg haben. Monatelang hatte er offizielle Verlautbarungen veröffentlichen lassen, in denen er sich einer pausenlosen Folge militärischer Triumphe gerühmt hatte. Daß es ihm nicht möglich gewesen war, auch nur eine jüdische Siedlung einzunehmen, hatte er mit »britischen Interventionen« zu erklären versucht. Wenn die Engländer aber aus dem Hule-Gebiet abzogen, hatte er kein Alibi mehr.

  Er beorderte Mohammed Kassi, den Kommandeur der irregulären Streitkräfte im Hule-Gebiet, der in Fort Esther saß, zu sich in sein Hauptquartier in Nablus.

  »Ich habe aus Damaskus eine Nachricht von Seiner Heiligkeit, dem Mufti, erhalten«, sagte Kawuky. »Am 15. Mai, einen Tag nach der Beendigung des britischen Mandats, beabsichtigt Hadsch Amin el Husseini im Triumph nach Palästina zurückzukehren.«

  »Und welch ein glorreicher Tag wird das für den ganzen Islam sein«, sagte Mohammed Kassi.

  »Seine Heiligkeit hat bis zur völligen Vernichtung der Zionisten Safed als seinen vorläufigen Sitz erwählt. Nachdem jetzt der gute Freund der Juden, Major Hawks, aus Safed abgezogen ist, wird sich die Stadt innerhalb einer Woche in unserer Hand befinden.«

  »Ich bin erfreut, diese gute Nachricht zu hören!«

  »Dennoch«, fuhr Kawuky fort, »wird Safed für die Rückkehr Seiner Heiligkeit nicht sicher genug sein, solange noch ein einziger Jude im Hule-Tal ist. Juden bedeuten einen
Dolch in unserem Rücken. Wir müssen sie ausradieren.«

  Mohammed Kassi wurde ein wenig bleich.

  »Das Hule-Tal liegt, wie mir scheint, in Ihrem Kommandobereich, mein Bruder. Ich möchte, daß Sie unverzüglich Gan Dafna einnehmen. Sobald Gan Dafna in unserer Hand ist, werden wir die übrigen Zionisten des Hule-Tals an der Kehle haben.« »Generalissimus, ich darf Ihnen versichern, daß jeder einzelne meiner Freiwilligen vom Mut eines Löwen erfüllt und entschlossen ist, sich mit allen Kräften für die ehrenvolle Aufgabe einzusetzen, den Zionismus zu vernichten. Sie haben alle gelobt, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.«

  »Das ist gut. Sie kosten uns allein an Löhnung ohnehin fast einen Dollar pro Mann und Monat.«

  Kassi strich sich seinen Bart und hob seinen mit einem großen Brillantring geschmückten Zeigefinger in die Höhe. »Dennoch, es ist allgemein bekannt, daß Major Hawks in Gan Dafna dreitausend Gewehre, hundert Maschinengewehre und Dutzende von schweren Granatwerfern hinterlassen hat!«

  Kawuky sprang wütend von seinem Stuhl hoch. »Sie zittern vor Kindern!«

  »Ich schwöre beim Barte des Propheten, daß die Juden tausend Mann vom Palmach als Verstärkung nach Gan Dafna geschickt haben. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«

  Kawuky schlug Mohammed Kassi zweimal mit der Hand ins Gesicht. »Sie werden Gan Dafna einnehmen! Sie werden es dem Erdboden gleichmachen — oder ich werde Ihren Kadaver den Aasgeiern zum Fraß vorwerfen!«

  V.

  Mohammed Kassis erste Maßnahme bestand darin, hundert seiner Leute nach Abu Yesha zu schicken. Unverzüglich begaben sich daraufhin einige der Dorfbewohner nach Ejn Or, um Ari die Sache zu melden. Ari wußte, daß die Einwohner von Abu Yesha überwiegend auf selten der Juden standen. Er wartete darauf, daß sie etwas gegen die Irregulären unternahmen.

  Die Araber von Abu Yesha waren über die Anwesenheit der Irregulären alles andere als erfreut. Jahrzehntelang hatten sie mit den Leuten von Yad El in guter Nachbarschaft gelebt; selbst ihre Häuser waren von den Juden erbaut worden. Sie waren weder erbittert, noch wünschten sie zu kämpfen. Sie warteten nur darauf, von Taha, ihrem Muktar, zusammengerufen zu werden, um gemeinsam Kassis Leute aus Abu Yesha hinauszuwerfen.

  Taha hüllte sich in sonderbares Schweigen. Er gab weder Zustimmung noch Ablehnung zu erkennen. Als die Dorfältesten in ihn drangen, die Männer von Abu Yesha zu einer gemeinsamen Aktion aufzurufen, lehnte Taha es ab, sich dazu zu äußern. Sein Schweigen besiegelte das Schicksal von Abu Yesha, weil die Fellachen ohne Führung hilflos waren.

  Kassi zögerte nicht, Tahas passive Haltung zu nützen. Während Taha weiterhin schwieg, wurden Kassis Leute von Tag zu Tag dreister und aktiver. Die Straße nach Gan Dafna wurde gesperrt. Viele Leute in Abu Yesha waren darüber empört, doch es blieb beim leisen Murren von einzelnen. Dann wurden vier Araber aus Abu Yesha von den Irregulären dabei erwischt, wie sie Nahrungsmittel nach Gan Dafna brachten. Kassi ließ sie enthaupten und ihre Köpfe als Warnung auf dem Dorfplatz aufpflanzen. Von da an war jeglicher Widerstand in Abu Yesha gebrochen.

  Ari hatte sich geirrt. Er war überzeugt gewesen, daß die Leute von Abu Yesha Taha zwingen würden, Farbe zu bekennen, zumal die Sicherheit von Gan Dafna auf dem Spiele stand. Als die Araber von Abu Yesha nichts unternahmen und die Straße nach Gan Dafna gesperrt wurde, sah sich Ari einer ungeheuren kritischen Situation gegenüber.

  Nach der Sperrung der Straße fing Kassi an, Gan Dafna von Fort Esther aus Tag und Nacht mit seinen Gebirgsgeschützen zu bombardieren.

  Auf ein Ereignis dieser Art hatten sich die Juden von Gan Dafna vom ersten Tage vorbereitet. Jeder wußte genau, was er zu tun hatte. Jetzt schaltete man rasch und ohne jeden Lärm auf den Ernstfall um. Alle Kinder im Alter von mehr als zehn Jahren hatten bestimmte Funktionen bei der Verteidigung der Siedlung. Der Wassertank wurde durch Sandsäcke geschützt, und die Generatoren, die Waffenkammer, das Verpflegungslager und das Krankenrevier wurden unter der Erde untergebracht.

  In den Bunkern ging das Leben wie bisher weiter. Unterricht, Mahlzeiten, Spielstunden und alles, was zum Tagesablauf von Gan Dafna gehörte, wurde unter der Erde fortgesetzt. Die Kinder schliefen in engen Kojen in Schlafräumen, deren Wände aus Betonrohren von einem Durchmesser von drei Meter fünfzig bestanden, und die nach oben durch eine mehrere Meter dicke Schicht aus Erde und Sandsäcken gesichert waren.

  Wann immer der Artilleriebeschuß aufhörte, kamen die Kinder und das Personal aus den Bunkern heraus nach oben, um zu spielen, die steifen Glieder zu lockern und Rasenflächen und Gärten in Ordnung zu halten. Innerhalb einer Woche hatte das Personal den Kindern die Überzeugung beigebracht, das Heulen der Granaten und das Krachen der Explosionen sei nichts anderes als eine kleine Unannehmlichkeit des täglichen Lebens.

  Kassi setzte das Bombardement von Gan Dafna Tag für Tag fort. Seine Gebirgsgeschütze legten ein Gebäude der Siedlung nach dem anderen in Trümmer. Gan Dafna hatte seine ersten Verluste, als eine Granate in der Nähe des Eingangs zu einem Schutzraum explodierte und dabei zwei Kinder ums Leben kamen.

  Unten im Tal, im Kibbuz Ejn Or, setzte sich Ari mit dem Problem auseinander, vor das ihn die bedrohte Lage des Jugenddorfes gestellt hatte. Gan Dafna war völlig abgeschnitten; der einzige Weg, es zu erreichen, war eine gefährliche und höllisch anstrengende Kletterei über die steile westliche Flanke des Berges. Man mußte einen Höhenunterschied von mehr als sechshundert Metern bewältigen, noch dazu bei Nacht. Die Telefonleitung war unterbrochen, und die Nachrichtenverbindung mit Gan Dafna mußte durch Blink-Signale von Yad El aus aufrechterhalten werden. Die Lebensmittel-Vorräte reichten für einen Monat, und auch der Wasservorrat war ausreichend, falls der Tank nicht getroffen wurde.

  Die Nachrichtenverbindung und das Versorgungsproblem waren jedoch nicht Aris größte Sorge. Stärker beunruhigte ihn die Gefahr eines Massakers. Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern werde, bis die Wahrheit über die »bewaffnete Macht« Gan Dafnas bekannt wurde. Es gelang ihm, ein Dutzend spanischer Gewehre, Modell 1880, dreiundzwanzig in Palästina hergestellte Maschinenpistolen und eine ausrangierte ungarische Panzerabwehrkanone mit fünf Schuß Munition zusammenzubringen. Er schickte Seew Gilboa mit zwanzig Palmach-Soldaten als Verstärkung nach Gan Dafna. Sie waren zugleich beauftragt, die zusätzlichen Waffen mit hinaufzunehmen. Seews Leute wurden zu menschlichen Packeseln. Die Panzerabwehrkanone mußte auseinandergenommen und stückweise transportiert werden.

  Am nächsten Tag traf ein Kurier vom Hauptquartier der Hagana in Tel Aviv bei Ari ein. Ari rief sofort die militärischen Befehlshaber der Siedlungen in seinem Gebietsabschnitt zusammen. Man hatte in Tel Aviv eine allgemeine Entscheidung über die Kinder in den Siedlungen an der Grenze getroffen. Es wurde nahegelegt, alle Kinder aus diesen Siedlungen in das Gebiet Scharon-Tel Aviv in der Nähe der Küste zu evakuieren, wo die Situation nicht so kritisch war und wo jedes Haus, jeder Kibbuz und Moschaw bereit war, sie aufzunehmen. Man konnte zwischen den Zeilen lesen: die Situation hatte sich so bedrohlich gestaltet, daß die Hagana offensichtlich daran dachte, die Kinder eventuell per Schiff zu evakuieren, falls es den Arabern gelingen sollte, bis zur Küste vorzustoßen.

  Diese Empfehlung war kein Befehl. Die Entscheidung blieb jeder Siedlung selbst überlassen. Einerseits würden die Siedler mit noch größerer Entschlossenheit kämpfen, wenn ihre Kinder bei ihnen waren; andererseits war der Gedanke an ein Massaker grauenhaft. Für diese Pioniere und Neusiedler war die Evakuierung ihrer Kinder doppelt schmerzlich, sie wurde ihnen zum Symbol dafür, daß ihre Flucht noch immer nicht zu Ende war. Die meisten von ihnen waren nach schrecklichen Erlebnissen hierhergeflüchtet; ihre Siedlungen bedeuteten für sie die letztmögliche Zuflucht. Außerhalb von Palästina hatten sie nichts mehr zu hoffen.

  Jede Siedlung traf ihre Entscheidung. Einige der älteren Siedlungen lehnten es rundheraus ab, ihre Kinder ziehen zu lassen. Andere erklärten, sie seien entschlossen, gemeinsam Widerstand zu leisten und gemeinsam zu sterben; sie wollten nicht, daß ihre Kinder die Leiden einer Flucht kennenlernen sollten. Siedlungen in den Bergen, die abgeschnitten waren und bereits die Härten der Belagerung zu
ertragen hatten, brachten es irgendwie fertig, einen Teil der Kinder hinauszuschmuggeln, um sie aus der Gefahrenzone abtransportieren zu lassen.

  Aber für die Kinder von Gan Dafna war jedermann verantwortlich. Aris Spione hatten ihm berichtet, Kawuky würde Mohammed Kassi immer stärker unter Druck setzen, um ihn zu veranlassen, Gan Dafna anzugreifen. In Gan Dafna wurden die Lebensmittel knapp und auch das Heizmaterial war fast vollkommen aufgebraucht. Der Wassertank hatte durch Einschläge in nächster Nähe mehrere lecke Stellen bekommen. Bei den Menschen begannen sich Folgen des Bunkerlebens bemerkbar zu machen, wenn sich auch niemand beklagte.

  Die Hagana-Kommandeure der Siedlungen im Hule-Tal waren mit Ari einer Meinung, daß die jüngeren Kinder aus Gan Dafna fortgeschafft werden sollten. Es fragte sich nur, wie. Wieder einmal sah sich Ari genötigt, einen Plan zur Überwindung unüberwindlich scheinender Schwierigkeiten zu entwickeln. Da ihm keine andere Wahl blieb, faßte er einen phantastischen Entschluß, waghalsiger und riskanter als alles, was er bisher unternommen hatte.

  Nachdem Ari die Einzelheiten seines Planes entwickelt hatte, ließ er David mit dem Auftrag zurück, ein Kommando für das Unternehmen aufzustellen, und machte sich selbst auf den Weg nach Gan Dafna. Jeder Schritt auf dem steilen Weg verursachte ihm heftige Schmerzen. Das angeschossene Bein versagte ihm im Laufe der Nacht mehrmals den Dienst. Dieses Handikap konnte er durch seine genaue Kenntnis des Weges wettmachen. Er war als Junge oft hier hinaufgeklettert. Er erreichte Gan Dafna, als der Morgen graute, und berief sofort die Gruppenführer und Abteilungsleiter zu einer Besprechung in den Kommandobunker. Unter den Versammelten befanden sich Seew, Jordana, Dr. Liebermann und Kitty Fremont.

  »In Gan Dafna sind zweihundertfünfzig Kinder im Alter von weniger als zwölf Jahren«, sagte Ari ohne jede Einleitung. »Diese zweihundertfünfzig Kinder werden morgen abend evakuiert.«

  Er sah in ein Dutzend verblüffte Gesichter.

  »Im Augenblick versammelt sich eine Einsatzgruppe in Yad El«, fuhr Ari fort. »David ben Ami wird diese Gruppe von vierhundert Mann heute abend über den Westhang heraufführen. Wenn alles planmäßig verläuft und sie nicht entdeckt wird, müßten sie morgen bei Tagesanbruch hier sein. Zweihundertfünfzig Mann dieser Gruppe werden morgen abend die Kinder auf dem Rücken hinuntertragen. Der Rest von hundertfünfzig Mann wird den Transport sichern. Ich möchte noch erwähnen, daß diese Gruppe mit sämtlichen automatischen Schnellfeuerwaffen ausgerüstet sein wird, die es im Hule-Tal gibt.«

 

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