Book Read Free

Bevor wir fallen

Page 2

by Bowen, Sarina


  Er verschwand im selben Moment, in dem meine Mutter mit angespannter Miene aus meinem Zimmer trat. »Bist du dir sicher, dass wir nichts mehr für dich tun können?«, fragte sie mit von Furcht erfülltem Blick.

  Sei nett, redete ich mir gut zu. Jetzt ist endlich Schluss mit dem Welpenschutz.

  »Danke für eure Hilfe. Aber ich glaube, ich habe alles.«

  Der Ausdruck in den Augen meiner Mutter wurde noch trauriger. »Pass gut auf dich auf, Kleines«, sagte sie mit kratziger Stimme. Dann beugte sie sich vor und schloss mich in die Arme, wobei sie meinen Kopf fast an ihrer Brust zerquetschte.

  »Mache ich, Mom«, gab ich mit gedämpfter Stimme zurück.

  Sie schien tief durchzuatmen und sich zusammenzureißen. »Ruf an, wenn du uns brauchst«, sagte sie noch, bevor sie Richtung Ausgang ging.

  »Aber wir geraten auch nicht gleich in Panik, wenn du mal ein paar Tage nicht anrufst«, ergänzte mein Vater, und bevor die Tür hinter ihm zufiel, legte er kurz salutierend eine Hand an die Stirn.

  Dann waren sie fort.

  Ich stieß einen Seufzer purer Erleichterung aus.

  Eine halbe Stunde später brachen Dana und ich zum Barbecue auf. Sie ging auf der Straße, während ich auf dem Gehweg neben ihr herrollte.

  Die Studenten am Harkness College verteilten sich auf zwölf Häuser. Ganz wie auf Hogwarts, nur viel größer und ohne die verschiedenen Hüte. Dana und ich gehörten zum Beaumont House, wo wir ab dem zweiten Studienjahr wohnen würden. Die Erstsemester waren alle zusammen in den Gebäuden rings um den riesigen Freshman Court untergebracht. Alle Erstsemester außer uns. Aber wenigstens lag unser Wohnheim gleich auf der anderen Straßenseite. Mein Bruder hatte mir gesagt, dass McHerrin House allen möglichen Zwecken diente. So wurden dort unter anderem Studenten untergebracht, deren Wohnheim gerade renoviert wurde, oder solche aus dem Ausland, die nur ein Semester lang blieben. Und offenbar Behinderte wie ich.

  Dana und ich folgten dem Duft von Grillhähnchen durch eine Reihe von Marmortorbögen. Dahinter lag der Freshman Court, wo die Gebäude einander an Eleganz und Alter zu übertrumpfen schienen. Jedes von ihnen protzte mit steilen, steinernen Stufen, die zu geschnitzten Holztüren hinaufführten. Obwohl ich jetzt selbst hier studierte, bestaunte ich die Schmuckfassaden wie ein Tourist. Da war ich also – am Harkness College mit all seinen steinernen Wasserspeiern und seiner dreihundertjährigen Geschichte. Und es war ebenso fantastisch wie barrierefrei.

  »Ich wollte dir noch sagen, wie leid es mir tut, dass wir nicht mit den anderen am Fresh Court wohnen«, sagte ich im Jargon der Erstsemester, den ich meinem Bruder abgelauscht hatte. »Es ist irgendwie nicht fair, dass du mit mir im McHerrin festsitzt.«

  »Hör auf, dich zu entschuldigen, Corey«, entgegnete Dana mit Nachdruck. »Wir werden jede Menge Leute kennenlernen. Und unser Zimmer ist doch großartig. Also alles kein Thema.«

  Wir näherten uns der Mitte der Rasenfläche, wo ein Zelt aufgeschlagen war. Die warme Brise trug Gitarrenakkorde herüber, und der Geruch von Holzkohle stieg uns in die Nase.

  Ich hätte mir niemals träumen lassen, ausgerechnet in einem Rollstuhl im College aufzuschlagen. Manche Menschen behaupteten, das Leben nach einem so einschneidenden Erlebnis mehr schätzen gelernt zu haben. Dass sie seitdem nichts mehr für selbstverständlich gehalten hätten. Manchmal hätte ich solchen Menschen am liebsten eine reingehauen. Heute aber verstand ich sie. Die Septembersonne schien warm, und meine Mitbewohnerin erwies sich als genauso nett wie in ihren E-Mails. Und ich war am Leben. Es wurde Zeit, dass ich diesem Umstand allmählich mehr abgewann.

  2

  Guck mal, Mom, keine Stufen!

  Corey

  Am nächsten Morgen begannen die Vorlesungen. Also rollte ich, bewaffnet mit einer Sonderausgabe der Harkness Accessible Campus Map – des Übersichtsplans, der mich über den barrierefreien Campus führen sollte –, durch den Sonnenschein auf das mathematische Institut zu. Wie angekündigt verfügte das Gebäude an seiner Westseite über eine zweckmäßige Rollstuhlrampe und extrabreite Türen. Analysis 105 war also wenigstens barrierefrei, wenn schon nicht besonders aufregend.

  Danach ging es auf Anregung meines Vaters zum Wirtschaftswissenschaftskurs.

  »Ich hätte immer gern mehr über Geld gewusst«, hatte er in einem seltenen Moment der Reue gestanden. »Ich habe deinen Bruder gebeten, es mit Wirtschaft zu versuchen, und ihm hat es gefallen. Ich fände es gut, wenn du es auch mal ausprobieren würdest.«

  Nachdem ich die Trumpfkarte »Großer Bruder« zuvor für meine eigenen selbstsüchtigen Zwecke ausgespielt hatte, war das natürlich eine äußerst wirksame Verhandlungstaktik.

  Mein Totschlagargument in den nervigen Diskussionen darüber, welches College ich von diesem Jahr an besuchen würde, hatte gelautet: »Damien ist aufs Harkness gegangen, und ich will da auch hin.« Worauf weder mein Vater noch meine Mutter den Mumm gehabt hatten, ihrer behinderten Tochter in die Augen zu blicken und zu widersprechen. Sie waren eingeknickt, und ich hatte mich, um meinen Vater zufriedenzustellen, für ein Semester Mikroökonomie eingeschrieben. Was immer das sein mochte. Das Ende vom Lied war, das meine Montag-, Mittwoch- und Freitagvormittage – zuerst Analysis und danach Wirtschaft – schrecklich langweilig sein würden.

  Der Hörsaal, in dem die Wirtschaftsvorlesung stattfand, war groß und alt mit endlosen Reihen dicht beieinanderstehender antiker Eichenstühle. Da es keine offensichtlichen Rollstuhlstellplätze gab, positionierte ich mich neben ein paar alten, nicht zueinanderpassenden Stühlen an der Rückwand.

  Eine Minute darauf ließ sich jemand schwer auf den Platz neben mir fallen.

  Ein Blick nach rechts offenbarte einen gebräunten, muskulösen Unterarm, der mit einem Paar hölzerner Unterarmstützen hantierte. Allem Anschein nach war soeben mein heißer Nachbar aufgeschlagen, und sofort erwachte meine kleine gefiederte Fee Hoffnung und flüsterte mir ins Ohr: Wirtschaft wird immer interessanter.

  Hartley kickte stöhnend seinen Rucksack über den Holzboden vor sich und wuchtete dann die Ferse seines gebrochenen Beins darauf. Schließlich lehnte er den Kopf an die Wandtäfelung hinter uns und sagte: »Erschieß mich, Callahan. Wieso hab ich mich bloß für eine Vorlesung eingeschrieben, die so weit weg von McHerrin stattfindet?«

  »Du hättest mit dem Behindertenfahrdienst herkommen können«, schlug ich vor.

  Er wandte sich mir zu und richtete seine schokobraunen Augen wie zwei Scheinwerfer auf mich. »Wie bitte?«

  In diesem Moment vergaß ich fast, was ich gesagt hatte. Ach ja, der Behindertenfahrdienst.

  »Es gibt einen Fahrdienst.« Ich gab ihm meinen Übersichtsplan. »Du musst nur früh genug die Nummer hier anrufen, dann wirst du vor der Vorlesung abgeholt.«

  »Wer hätte das gedacht?« Hartley betrachte stirnrunzelnd die Karte. »Und du machst das so?«

  »Im Ernst? Ich würde mir lieber ein leuchtend rotes L auf die Stirn kleben, als den Fahrdienst zu nutzen.«

  Ich deutete mit zwei Fingern das universell gültige Zeichen für »Loser« an, worauf Hartley vor Lachen losprustete. Als dabei sein Grübchen zum Vorschein kam, hätte ich am liebsten die Hand ausgestreckt und den Daumen hineingelegt.

  Ein mageres Mädchen mit glatten dunklen Haaren und einer Riesenbrille glitt auf den Stuhl auf Hartleys anderer Seite.

  »Entschuldige«, wandte er sich an sie. »Die Plätze hier sind für Krüppel reserviert.«

  Sie sah mit Riesenaugen zu ihm auf und sprang dann wie ein furchtsames Kaninchen vom Stuhl.

  Ich sah ihr nach, wie sie durch den Mittelgang zu einem anderen Platz huschte. »Also, ich hab kapiert, dass du einen Witz gemacht hast«, sagte ich.

  »Echt?« Hartley schenkte mir ein weiteres warmherziges und gleichzeitig so teuflisches Grinsen, dass ich unmöglich den Blick abwenden konnte. Als der Professor an das Mikrofon über dem Pult klopfte, zog er einen Notizblock hervor und legt ihn sich auf den Schoß.

  Professor Rumpel schien ungefähr hundertneun zu sein, plus/minus ein Jahrzehnt. »Es stimmt«, beg
ann er, »was man über die Ökonomie sagt. Die Antwort auf so ziemlich jede Prüfungsfrage lautet: Angebot und Nachfrage.« Darauf prustete der alte Mann einen Schwall Luft ins Mikro.

  Hartley beugte sich zu mir und flüsterte: »Das sollte wohl ein Scherz sein.«

  Die körperliche Nähe brachte meine Wangen zum Glühen. »Wir haben echt ein Problem«, zischte ich zurück.

  Aber eigentlich meinte ich damit nur mich selbst.

  Am Ende der Vorlesung klingelte Hartleys Handy, also winkte ich ihm nur freundlich zu und rollte alleine aus dem Vorlesungssaal.

  Nachdem ich meinen treuen Behindertenplan konsultiert hatte, machte ich mich auf den Weg zum größten Speisesaal auf dem Campus – der Harkness-Mensa, die in den Neunzehnhundertdreißigern erbaut worden war, um sämtlichen Studenten auf einmal Platz zu bieten. Langsam rollte ich in den riesigen, überfüllten Saal. Vor mir erstreckten sich über hundert Holztische. Nachdem ich am Eingang meinen Ausweis durchgezogen hatte, beobachtete ich, um herauszufinden, wohin ich mich als Nächstes wenden musste, das allgemeine Gewusel.

  Die Studenten strömten an mir vorbei auf die gegenüberliegende Wand zu. Also fädelte ich mich mit dem Rollstuhl zwischen den Tischen hindurch und hielt auf die offenkundige Warteschlange zu. Ich ließ mich weitertreiben, während ich eine Anschlagtafel zu entziffern versuchte, und rollte dabei versehentlich in das weibliche Ende der Schlange.

  Das Mädchen fuhr herum und schaute wütend, bis ihr Blick mich fand und sie erkannte, wer sie da angestoßen hatte. »Oh, entschuldige, tut mir leid«, sagte sie schnell.

  Ich spürte, wie ich rot wurde. »Nein, mir tut es leid.«

  Wieso entschuldigte sie sich bei mir? Schließlich war ich die Dumpfbacke, die sie angefahren hatte. Dabei wusste ich inzwischen nur allzu gut, dass es nur eine der vielen seltsamen Wahrheiten war, die mit einem Mal dazugehörten, wenn man in einem Rollstuhl unterwegs war. In neun von zehn Fällen entschuldigten sich die Leute, die ich anrempelte oder sogar über den Haufen fuhr, bei mir. Was echt keinen Sinn ergab und mich eigentlich sogar mächtig ankotzte.

  Mir fiel auf, dass alle anderen vor mir bereits ein Tablett und Besteck in der Hand hielten, also manövrierte ich wieder aus der Schlange, fand Tabletts und Geschirr und stellte mich aufs Neue an.

  Im Rollstuhl befand ich mich auf Augenhöhe mit den Hinterteilen vor mir. So hatte die Welt schon mal für mich ausgesehen – als ich sieben Jahre alt gewesen war.

  Hartley

  Ich schwöre bei Gott, der Typ, der mein Sandwich zubereitete, hätte sich nicht langsamer bewegen können, wenn er an den Handgelenken gefesselt gewesen wäre. Ich stand derweil mit schmerzhaft pochendem Knöchel und zappelndem gesunden Bein vor ihm. Dass ich das Frühstück ausgelassen hatte, machte es nicht besser. Als er mir endlich den Teller reichte, hatte ich das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

  »Danke.«

  Ich nahm den Teller mit der rechten Hand entgegen und rammte mir anschließend die Krücke unter die rechte Achsel. So versuchte ich vorwärtszukommen, ohne mit der Hand nach der Krücke greifen zu müssen. Doch ich verlor das Gleichgewicht, wankte gefährlich und musste mich gegen die Essensausgabe lehnen, um aufrecht stehen zu bleiben. Die Krücke fiel klappernd zu Boden.

  Gescheitert. Mein einziger Trost war, dass das Sandwich nicht auch noch über Bord gegangen war.

  »Hey Krüppel!«, hörte ich eine Stimme hinter mir.

  Ich drehte mich um, brauchte aber eine Minute, bis ich Corey ausgemacht hatte, weil ich zuerst nach jemandem auf meiner Höhe Ausschau gehalten hatte. Doch nach einem kurzen peinlichen Moment senkte ich den Blick und entdeckte sie.

  »Callahan«, rief ich. »Hast du mein geschicktes Manöver gerade mitgekriegt?«

  Sie nahm mir lächelnd den Teller ab und stellte ihn auf ihr Tablett. »Du solltest dich nicht unglücklich machen wegen einem …«, sie blickte auf meinen Teller, »Truthahnsandwich. Warte einen Moment, dann nehme ich es für dich mit.«

  »Danke.«

  Ich seufzte, hoppelte aus dem Weg und wartete geduldig, bis derselbe unmotivierte Sandwich-Typ ihr Mittagessen zusammengestellt hatte.

  Stunden später (vielleicht übertreibe ich aber auch ein bisschen) enthielt unser Gemeinschaftstablett Sandwiches, Chips, Cookies, mein Glas Milch und ihre Cola Light.

  »Ich glaube, ich hab da drüben einen freien Tisch gesehen. Unter der nächsten Postleitzahl«, brummte ich und stelzte los.

  Corey rollte mit unserer Beute zum Tisch, wo ich einen der schweren Holzstühle zurückzog, um einen Stellplatz für sie zu schaffen. Dann ließ ich mich auf einen Stuhl fallen.

  »Jesus, Maria und die ganze heilige Familie.« Ich bettete meine Stirn auf die Handballen. »Das hat ja nur siebenmal so lange gedauert wie normal.«

  Corey gab mir meinen Teller. »Deine Verletzung ist noch ziemlich frisch, oder?«, fragte sie, als sie ihr Sandwich nahm.

  »Merkt man mir das so deutlich an? Es ist erst vor einer Woche beim Hockey passiert. Während des Vorbereitungstrainings.«

  »Hockey?« Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht.

  »So in der Art. Es ist nicht beim Spielen selbst passiert, was wenigstens noch irgendwie Sinn ergeben hätte. Ich hab mir das Bein gebrochen, als ich von einer Kletterwand gestürzt bin.«

  Ihr klappte die Kinnlade runter. »Sind die Seile gerissen?«

  Nicht wirklich.

  »Eigentlich gab es gar keine Seile. Und eigentlich war es zwei Uhr nachts.« Ich wand mich. Es machte wirklich überhaupt keinen Spaß, einem hübschen Mädchen zu beichten, was für ein Idiot man gewesen war. »Und noch eigentlicher war ich ziemlich betrunken.«

  »Autsch, dann kannst du nicht mal behaupten, dass du auf dem Spielfeld zu hart rangenommen worden bist?«

  Ich sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Stehst du auf Hockey, Callahan?«

  »Kann man so sagen.« Sie fuchtelte mit einem Kartoffelchip herum. »Mein Vater trainiert ein Highschool-Hockeyteam. Und mein Bruder Damien war letztes Jahr hier am College Senior Wing.«

  »Kein Scheiß? Du bist Callahans kleine Schwester?«

  Ihre blauen Augen funkelten, als sie lächelte. Sie hatte ein Mörderlächeln und so rosige Wangen, als hätte sie gerade einen Fünftausendmeterlauf absolviert. »So ist es.«

  »Na bitte, ich wusste doch, du bist cool.« Ich trank einen großen Schluck Milch.

  »Also«, sie griff wieder nach ihrem Sandwich, »wenn der Bruch erst eine Woche alt ist, musst du ganz schöne Schmerzen haben.«

  Ich zuckte kauend mit den Schultern. »Mit den Schmerzen komme ich klar, wenn ich nur nicht so verdammt tollpatschig wäre. Ich brauche eine halbe Stunde, um mich anzuziehen. Und zu duschen ist ein echtes Trauerspiel.«

  »Aber nur vorübergehend.«

  Als mir das Ausmaß meiner Blödheit bewusst wurde, hörte ich schlagartig auf zu kauen. »Shit, Callahan, da heul ich dir was vor, weil ich zwölf Wochen ein Gipsbein tragen muss …« Ich legte mein Sandwich beiseite. »Ich bin echt ein Arsch.«

  Sie wurde rot. »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Wirklich nicht. Wie soll ich mich denn beklagen, wenn du nicht auch ein bisschen jammern darfst?«

  »Wieso?« Meiner Meinung nach hatte ich soeben bewiesen, dass sie so viel jammern durfte, wie sie wollte. Vor allem gegenüber so einem Arsch wie mir.

  Corey spielte mit ihrer Serviette. »Na ja, meine Eltern haben mich nach meinem Unfall in eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Rückenmarksverletzungen geschickt. Der Grund dafür, dass ich in diesem Ding sitze …« Sie gestikulierte mit den Händen vor ihrem Bauch herum. »Egal, da waren lauter Leute, die noch viel weniger Körperteile bewegen konnten als ich. Viele konnten ihre Arme nicht mehr spüren. Die waren nicht mal in der Lage, alleine zu essen oder sich im Bett herumzudrehen. Diese Leute könnten weder aus einem brennenden Gebäude fliehen, noch jemandem eine E-Mail schicken oder mal irgendwen in den Arm nehmen.«

  Ich stützte den Kopf auf eine Hand. »Tja, das baut einen echt auf.«
>
  »Wem sagst du das? Die Leute dort haben mir eine Heidenangst eingejagt, deswegen bin ich nie wieder hingegangen. Also, wenn ich heulen darf – und glaub mir, ich heule viel –, kannst du dich ebenso gut darüber beklagen, dass du wie ein Flamingo herumhüpfen musst.« Damit nahm sie ihr Sandwich wieder auf.

  »Und …« Ich hatte keinen Schimmer, ob die Frage nicht vielleicht viel zu persönlich war. »Und wann war das?«

  »Wann war was?« Sie wich meinem Blick aus.

  »Der Unfall.«

  »Am fünfzehnten Januar.«

  »Moment mal … dieses Jahr im Januar? Vor acht Monaten?« Die Andeutung eines Nickens. »Und … da hast du dir letzte Woche gedacht, scheiß drauf, es ist September, Zeit, ans andere Ende des Landes zu ziehen und mein Leben zu leben?«

  Corey kippte hastig ihre Cola hinunter, wahrscheinlich, um meiner Neugier zu entgehen. »Na ja, mehr oder weniger. Aber mal im Ernst, wie lange muss man denn trauern, wenn man nur noch ein Bein benutzen kann?« Sie sah mich mit einer hochgezogenen Braue unverwandt an.

  Fuck. Dieses Mädchen hatte mich gerade wahrscheinlich für den Rest meines Lebens von meinem Jammer geheilt. »Du bist echt hart drauf, Corey Callahan.«

  Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Das College hat mir ein Jahr Aufschub angeboten, aber ich habe abgelehnt. Du hast meine Eltern ja gesehen. Ich wollte nicht länger zu Hause herumsitzen und zuschauen, wie sie verzweifelt die Hände ringen.«

  Als mein Handy klingelte, musste ich Corey das allgemein gültige Zeichen für »Moment mal« geben und Stacias Anruf entgegennehmen.

  »Hey heißer Feger«, sagte ich. »Ich sitze an einem Tisch an der Rückwand. Ich liebe dich auch.« Ich verstaute das Handy. »Okay … wo waren wir? Dann hat dich also ein wenig liebevolle Fürsorge in eine andere Zeitzone katapultiert?«

  »Wir drei sind in den letzten Monaten halb verrückt geworden. So war es für alle am besten.«

 

‹ Prev