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001 - Wild like a River

Page 9

by Kira Mohn


  «Wo hast du denn vorher gelebt?»

  «In Saskatoon.»

  «Warum hast du nicht dort studiert?»

  «Mir war nach etwas Neuem», erkläre ich nach kurzem Zögern. Es gibt keinen wirklichen Grund, jetzt die Geschichte mit Lynn hervorzukramen.

  «Bereust du es?»

  «Was?»

  «Nach Edmonton gezogen zu sein.» Bevor ich antworten kann, redet Haven weiter. «Vergiss es. Wieso solltest du es bereuen, du bist ja nur von einer Stadt in eine andere gezogen.»

  Mich beschleicht eine erste Ahnung, worüber wir hier eigentlich reden. «Du überlegst, nach Edmonton zu gehen?»

  «Vielleicht. Nur für eine Weile.»

  Was habe ich gestern Abend noch gedacht? Haven würde diesen Wald niemals verlassen? Nun, da habe ich mich wohl getäuscht. In einem Anflug von Größenwahn schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dieser plötzliche Sinneswandel könne etwas mit mir zu tun haben.

  «Ich denke schon länger darüber nach», fügt Haven hinzu.

  Okay, sie hat sich das nicht erst letzte Nacht überlegt, und sie wird mir als Nächstes wohl auch nicht gleich erklären, dass sie ohne mich nicht mehr leben kann.

  Schade eigentlich.

  Ich konzentriere mich auf Havens Worte, statt weiterhin idiotisches Zeug zu denken.

  «Ich will auch nicht für immer weg», erklärt sie. «Aber zumindest mal für eine Weile. Ich dachte, ich könnte vielleicht in Edmonton studieren. Eine Art Gastsemester oder so.»

  «Ja, warum nicht? Gute Idee», erwidere ich so neutral, wie mir das möglich ist.

  Haven mustert mich aufmerksam. «Du findest die Idee wirklich gut?»

  Ach, egal. Kein Taktieren, habe ich mir vorgenommen. Kein Ich rufe dich vielleicht mal an und kein oberflächliches Wir sehen uns – in dieser Sekunde fällt mir kein einziger Grund ein, warum ich Haven gegenüber so tun sollte, als sei sie nur eine Option unter vielen.

  «Ich würde mich freuen», erwidere ich daher. «Es würde mir das Zurückfahren am Samstag erleichtern.»

  Den letzten Teil des Satzes habe ich mit einem leicht ironischen Unterton ausgesprochen, wie mir in der Sekunde klarwird, in der ich die Zweifel in Havens Augen sehe. Jahrelange Gewohnheiten legt man nicht so einfach ab.

  «Das meine ich ernst», füge ich hinzu. «Es wäre wirklich schön.»

  Trotz meiner Worte verschwindet die Anspannung in Havens Gesicht nicht völlig. «Ich weiß gar nicht, wie und wo ich anfangen soll. Ich bräuchte ein Zimmer, ich müsste mich einschreiben, ich bräuchte einen Job …»

  «Einen Job?»

  «Na ja, von irgendwas muss ich das Zimmer ja bezahlen.»

  Sie könnte vielleicht bei Cayden und mir … das Haus wäre groß genug. Ich sehe Cayden grinsen und verwerfe diesen Gedanken wieder. Keine gute Idee. «Bei der Jobsuche könnte ich dir helfen», sage ich stattdessen. «Und ich kann dir auch erklären, wie man ein Zimmer im Studentenwohnheim beantragt.»

  «Wohnst du dort?»

  «Nein, ich wohne zusammen mit Cayden in der Nähe.»

  Haven nickt. «Denkst du, es wäre möglich, sich so kurzfristig einzuschreiben?»

  «Für dieses Semester? Das kannst du wohl eher vergessen. Aber du könntest dich fürs Sommersemester einschreiben und dich jetzt schon um alles kümmern.»

  Haven in Edmonton – habe ich letzte Nacht versehentlich eine Sternschnuppe erwischt? Würde sie das tatsächlich durchziehen, hätten wir auf einmal Zeit, viel mehr Zeit, als ich bisher angenommen habe. Ich könnte ihr alles zeigen, ihr bei der Eingewöhnung helfen, wir würden uns besser kennenlernen und so weiter und so weiter.

  Über und so weiter und so weiter denke ich noch nach, als Haven die Stille zwischen uns unterbricht. «Diesen See hier kennt fast niemand.»

  In der letzten halben Stunde habe ich kaum auf unsere Umgebung geachtet. Überwiegend ging es sanft bergauf, und dass wir plötzlich aus dem Grün des Waldes heraustreten, überrascht mich fast so sehr wie der Anblick, der sich vor uns auftut. Der See ist nicht groß, und er wird auch nicht wie der Horseshoe Lake von beeindruckenden Klippen gesäumt, doch die Tannen stehen links und rechts bis dicht an das grasbewachsene Ufer, und das Wasser ruht so still, dass sich ihre Wipfel und auch die Wolken am kristallblauen Himmel darin spiegeln, weiß, blau, dunkelgrün. Mich ergreift das unwirkliche Gefühl, träte ich einen Schritt auf die glatte Wasseroberfläche, würde die Welt sich einmal kopfüber drehen, und ich befände mich in einem märchenhaften Spiegeluniversum.

  «Er ist zu klein, um in den Reiseführern aufzutauchen, und zum Glück hat er sich auch noch nicht als Geheimtipp rumgesprochen. Er hat nicht mal einen Namen. Ich nenne ihn Silent Lake .»

  «Wunderschön», murmele ich. Warum will Haven überhaupt nach Edmonton? Es gibt dort nichts, was einen solchen Anblick aufwiegen könnte.

  Mein Verstand schaltet sich wieder ein. Haven will nach Edmonton, weil ihr der Kontakt zu anderen Menschen fehlt. Wir haben bisher nur kurz darüber geredet, aber wenn man als einen der engeren Freunde nur einen Puma angeben kann …

  Ich trete einen Schritt näher an den See heran. Die Uferkanten fallen steil ab, und man kann bis auf den Grund hinabsehen. Mir wird schwindelig, und Haven, der das offenbar auffällt, greift nach meinem Arm. Es ist, als stünde ich am Rande einer Schlucht. Tief unter mir wiegen sich Pflanzen in einer Strömung, die die Oberfläche nicht erreicht. Mich packt der unwiderstehliche Drang, diese ganze Welt noch stärker in Bewegung zu bringen, und ohne weiter darüber nachzudenken, lasse ich den Rucksack von den Schultern gleiten. Haven lässt den Arm sinken, doch erst, als dem Rucksack meine Jacke folgt, beginnt sie zu ahnen, was ich vorhabe.

  «Du willst da doch nicht reinspringen, oder?»

  «Doch.»

  «Das Wasser ist eiskalt. Kälter noch als der Horseshoe Lake!»

  «Es gibt Leute, die springen in Eislöcher.»

  «Das wäre durchaus vergleichbar.»

  «Dann hab ich das zumindest auch mal gemacht.»

  Sie lacht, und ich ziehe mir das Shirt über den Kopf. Ein kühler Lufthauch streift meinen Oberkörper. Während ich die Schnürsenkel öffne, um die Stiefel mitsamt den Socken auszuziehen, und gleich darauf die Jeans herunterstreife, gehe ich kurz durch, ob sich alles in meinem Rucksack befindet, was ich nach meinem Tauchgang gern vorfinden würde. Handtuch. Badehose. Mehr ist gar nicht nötig.

  Ich verzichte darauf, die schwarzen Boxershorts, die ich trage, gegen die Badehose zu tauschen. Jetzt will ich einfach nur mit einem Kopfsprung die Grenze zwischen zwei Welten durchbrechen. Mit einem möglichst beeindruckenden Kopfsprung.

  Haven steht ein paar Meter neben mir und sieht mir belustigt dabei zu, wie ich einige Schritte zurücktrete, um Anlauf zu nehmen. Sekunden später befinde ich mich in der Luft und – eine Milliarde Nadelstiche bringen mich um ein Haar dazu, unter Wasser heftig einzuatmen. Gottverdammt, es ist wirklich kalt! Warum liegt keine zentnerschwere Eisdecke auf dem See? Meine Hände und Füße werden taub, und ich zwinge meinen Körper, sich zu bewegen, bevor ich wie ein Stein untergehe. Dann reiße ich die Augen auf und erstarre erneut.

  Verfluchte Scheiße.

  Das ist … Fliegen. Ich fliege. Über ein grasbewachsenes Tal, tief, tief unter mir. Silbrige Pfeile zischen davon, aufgeschreckt durch den unerwarteten Eindringling in ihrem Reich. Mit ausgebreiteten Armen treibe ich zwischen Himmel und Erde, und erst als meine Lungen immer deutlicher zu protestieren beginnen, bequemt mein Hirn sich zu der Feststellung, dass ich mich mittlerweile ein gutes Stück unter der Wasseroberfläche befinde und außerdem Arme und Beine kaum mehr spüre.

  Hastig arbeite ich mich zurück nach oben und scheine dafür sämtliche Energie zu verbrauchen. So gern ich noch länger dieses Gefühl genießen würde, vogelgleich über allem zu schweben – es ist einfach verdammt noch mal viel zu kalt dafür.

  Auf Havens Gesicht entdecke ich einen Anflug von Sorge, während ich zum Ufer schwimme, und dankbar ergreife ich die Hand, die sie mir reicht, um mir beim Herausklettern zu helfen. Obwohl es außerhalb des Wassers um einiges wärmer ist, haben die wenigen Minuten gereicht, mich derart auszukühlen, da
ss mir die Zähne gegeneinanderschlagen. Handtuch. Zitternd mache ich mich an meinem Rucksack zu schaffen.

  «Ich hab kurz gedacht, du hättest einen Schock oder so was», höre ich Haven hinter mir.

  Das Handtuch um die Schultern gewickelt, drehe ich mich zu ihr um.

  «Es sah aus … du hast dich plötzlich überhaupt nicht mehr bewegt.»

  «Nein, alles in Ordnung», erwidere ich. «Es war nur … unfassbar. Unglaublich.»

  In ihren Augen schimmert Verständnis. Ob sie auch schon mal in diesen See gesprungen ist? Sofort sehe ich Haven nixengleich im Wasser schweben, das rote Haar umweht sie wie ein Schleier.

  Sie tritt einen Schritt auf mich zu, ich weiß nicht, warum. Will sie sich vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung ist? Ist es noch immer Sorge, die dazu führt, dass ihre Fingerspitzen jetzt zart meine Hand berühren, mit der ich das Handtuch festhalte? Dass sie noch einen Schritt näher kommt, bis ich beinahe die Wärme ihres Körpers spüren kann?

  Das hier ist einer der Momente, in denen ich aus ihrem Gesicht nicht herauslesen kann, was sie gerade denkt, doch als ihr Blick sich hebt und das Tannengrün sich in ihren grauen Augen wiederzufinden scheint, senke ich langsam den Kopf.

  10

  HAVEN

  J acksons Hand ist eiskalt, Wassertropfen rinnen aus seinen Haaren über seine Brust, und sein Gesicht ist nur Zentimeter von meinem eigenen entfernt. Er hat braune Augen, braun, mit einem goldenen Schimmer um den Rand der Iris. Keine Wärme geht von ihm aus, der See hat sie ihm vollständig genommen, doch er zittert nicht, seine Bewegungen sind sachte und ruhig, und als seine Lippen sich auf meine legen, fühlen sie sich glatt an, weich und kühl.

  Es ist nur ein kurzer Moment, in dem ich die Augen schließe und der Hitze in mir nachspüre, die in meiner Brust explodiert, nur ein Moment, in dem Jacksons Haare kalt meine Stirn streifen. Der Druck seiner Lippen ist sanft, und doch meine ich sie noch auf meinen zu spüren, als ich zurückweiche und die Augen wieder öffne.

  Er hat mich geküsst.

  Oder habe ich ihn geküsst?

  Und warum ist das überhaupt passiert?

  Es ist … es war mein erster Kuss.

  Wir stehen voreinander, als seien wir beide in eine neue Welt gefallen und müssten erst einmal sortieren, welche Regeln dort gelten, in dieser Welt, in der ich Jackson geküsst habe.

  «Ist alles okay?», fragt er leise, und ich kann nur nicken.

  Sein Blick weicht keinen Millimeter von meinem Gesicht. «Das war … in Ordnung?»

  Ich atme tief ein, so tief, dass mir bewusst wird, dass ich das Atmen in den letzten Sekunden einfach vergessen habe.

  War das in Ordnung? War es das? Etwas in mir möchte mit beiden Händen über seine feuchte Brust streichen und sich ihm entgegenstrecken, hoffend, er werde noch einmal die Augen schließen und sich zu mir beugen, doch ein viel größerer Teil ist mit der Frage beschäftigt, warum das gerade überhaupt passiert ist. Wollte ich das? Bin ich ihm deshalb so nahe gekommen, dass er nur noch wenige Zentimeter überbrücken musste, um … damit wir …

  Mein erster Kuss.

  Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich will mehr davon, und gleichzeitig möchte ich mich umdrehen und gehen, und Jackson soll mir nicht folgen. Tränen schießen mir in die Augen.

  Was ist denn verdammt noch mal los mit mir?

  «Haven.» Jacksons Stimme ist noch immer gedämpft. «Es tut mir leid … ich wollte dich nicht überrumpeln.»

  «Ich … es ist schon okay.»

  Blödsinn. Nichts ist okay. Dabei hat es sich gut angefühlt. Ich wollte es. Ich wollte Jackson küssen. Aber ich verstehe einfach nicht, warum. Ich kenne ihn doch kaum. Bedeutet das etwas? Und wenn ja, was?

  JACKSON

  I ch möchte mich dafür ohrfeigen, mich nicht zurückgehalten zu haben. Man sollte meinen, mit zweiundzwanzig sei ich alt genug dafür. Havens Verwirrung ruft bei mir eine völlig neue Form des schlechten Gewissens hervor. Das war vermutlich ihr erster Kuss. Ich bin der erste Mann, den sie geküsst hat. Und sie sieht aus, als würde sie am liebsten davonlaufen.

  Verflucht, irgendwas muss ich tun, und weil mir absolut nichts Besseres einfällt, lasse ich das Handtuch los und ziehe sie an mich, bereit, loszulassen, sobald ich auch nur einen Hauch von Gegenwehr spüre. Doch Haven legt einfach nur ihren Kopf an meine Schulter und steht ganz still.

  Ich muss an unsere Begegnung mit dem Puma denken. Wie hieß er noch gleich? Snoops? Haven hat ihn umarmt, doch eigentlich war es mehr ein behutsames Umfangen, ohne Druck, ohne Zwang, ohne ihn am Fortlaufen zu hindern.

  Genauso halte ich jetzt Haven, und ich spüre dabei ihr Herz schlagen.

  HAVEN

  D ie Fragen in meinem Kopf werden leiser, lösen sich auf. Mit jedem Atemzug weicht mein Bedürfnis, davonrennen zu wollen. Er hält mich so sanft, als sei ich diejenige, die ungeschützt und unbekleidet vor ihm steht, nicht er. Ich schließe die Augen und überlasse mich einem Gefühl von Nähe, das ich so bisher noch nicht kannte.

  JACKSON

  I hre Haare haben einen süßen Duft, süß und gleichzeitig ein bisschen herb, wie Zimt. Die Anspannung weicht aus ihrem Körper, ich kann fühlen, wie sie weicher wird, der Abstand zwischen uns sich verringert, und als ihre Hände sich zaghaft über meine Hüften zu meinen Rücken hinauftasten, ist da zum ersten Mal in meinem Leben dieses Gefühl von Vollkommenheit. Nichts fehlt. Nichts ist falsch. Würde jetzt die Zeit stillstehen, es wäre der perfekte Moment dafür.

  11

  HAVEN

  I ch wollte Jackson nicht loslassen, doch irgendwann kam mir der Gedanke, er könne frieren, und als habe er diese winzige Unsicherheit gespürt, sanken seine Arme herab.

  Während er sich anzieht, betrachte ich den See, der ruhig und glatt und scheinbar unberührt den Himmel widerspiegelt. Vielleicht erzähle ich Jackson irgendwann, dass das hier einer meiner Kraftorte ist. Mein wichtigster. Ich war vierzehn, als ich den See entdeckt habe. Seit mir Nate von den Kraftorten seines Volkes erzählt hatte, war ich auf der Suche nach meinem eigenen. Nate konnte mir nicht erklären, wodurch ein Ort zu einem Kraftort wird – oder vielleicht wollte er es auch nicht –, also beschloss ich, einfach meinem Gefühl zu vertrauen. Und hier, am Ufer des Silent Lake , habe ich zum ersten Mal gespürt, dass ich einen solchen Ort für mich gefunden hatte.

  Jacksons Hand gleitet in meine.

  «Und jetzt?», will er wissen.

  In dieser Frage liegt ziemlich viel, und weil ohne Jacksons Umarmung die Fragezeichen wieder die Herrschaft in meinem Kopf übernommen haben, beschließe ich, lediglich einen einzelnen Aspekt herauszuhören.

  «Jetzt gehen wir zurück.»

  Wir laufen nebeneinander, wann auch immer es möglich ist, uns selbst dann an den Händen haltend, wenn wir uns zwischen hochgewachsenen Sträuchern hindurchdrängen. Noch immer meine ich Jacksons Umarmung zu spüren. Und unseren Kuss.

  Und jetzt? Wie wird es weitergehen? Wird überhaupt irgendetwas weitergehen? Will ich, dass etwas weitergeht?

  Auch gestern hielt Jackson meine Hand, doch da habe ich mich noch nicht gefragt, wieso ich einen Typen küsse – ihn plötzlich küssen will –, den ich vor einigen Tagen nicht einmal kannte. Zum ersten Mal möchte ich jemanden festhalten. Ich habe es nicht gleich gespürt, doch spätestens beim Wasserfall war da dieser Wunsch, mich nicht in ein paar Tagen wieder von Jackson verabschieden zu müssen.

  In dem noch immer in mir nachhallenden Gefühl unerwarteter Vertrautheit gestehe ich mir ein, dass mein Plan, Jasper für einige Zeit zu verlassen, auch etwas mit Jackson zu tun hat. Ganz egal, was ich Dad gegenüber behauptet habe.

  Bei dem Gedanken an den Streit von heute Morgen schließe ich für einen Moment die Augen und stolpere fast über eine der verschlungenen, dicken Wurzelstränge, die sich durch das Erdreich wälzen.

  Jacksons Griff wird fester, bis ich mein Gleichgewicht zurückgefunden habe, doch er sagt nichts. Jeder von uns hängt seinen Gedanken nach, und auch als wir die Stelle erreichen, wo wir uns bisher immer verabschiedet haben, löst keiner von uns seine Hand aus der des anderen.

  «Bis morgen?»

  Da i
st nur ein kaum wahrnehmbares Anheben in Jacksons Stimme, aber es war eine Frage, da bin ich sicher.

  «Bis morgen», erwidere ich und denke dabei, wie gut es sich anfühlt, diese Worte zu jemandem sagen zu dürfen. Sie zu Jackson zu sagen.

  Seine Finger öffnen sich, und im selben Augenblick vermisse ich ihre Wärme. Vielleicht bin ich deshalb diejenige, die zuerst einige Schritte zurücktritt.

  Gestern haben wir uns noch einige Male umgedreht, während wir auseinandergegangen sind, heute jedoch halte ich meinen Blick stur geradeaus gerichtet. Ich weiß nicht, ob ich nicht einfach wieder zu ihm zurückrennen würde, sollte er mir nachsehen, und ich weiß auch nicht, ob das nicht albern wäre. Bevor ich uns beide in Verlegenheit bringe, möchte ich lieber noch einmal darüber nachdenken, was sich in den letzten Stunden geändert hat. Doch obwohl ich wieder und wieder meine Gedanken zu sortieren versuche, bin ich zu keinen neuen Erkenntnissen gelangt, als ich die Holzstufen zu unserer Veranda hochsteige. Nur der Entschluss, nicht einfach weiterzumachen wie bisher, hat sich tiefer in mir eingegraben.

  In Edmonton würde ich nicht nur Jackson weiterhin sehen können, ich würde auch andere Leute kennenlernen. Es wäre schön, Freunde zu finden. Menschen, die mich anrufen, um zu fragen, ob wir etwas zusammen unternehmen wollen, und denen ich irgendwann vielleicht sogar so sehr vertraue, dass ich erzähle, wie sehr der Gedanke an Jackson ein warmes Gefühl in meiner Brust pulsieren lässt und mich gleichzeitig in Verwirrung stürzt.

  Vielleicht ist es ja nur eine Mischung aus Glück und Enttäuschung, das Gefühl, in Jackson einen Freund gefunden zu haben, den ich schon bald wieder verlieren werde, aber vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Vielleicht ist es mehr.

  JACKSON

  «I st das dein Ernst? Hör mal, am Samstagabend ist Kaylees Geburtstag, und du hast gesagt, du bist dabei.»

  Die späte Nachmittagssonne lässt Schatten auf der Straße tanzen, nur das dumpfe Geräusch meiner Schritte auf Asphalt ist zu hören. Seit geraumer Zeit wandere ich auf der verblassten gelben Mittellinie entlang, Autos sind mir bisher keine begegnet, und alles könnte so friedlich sein, wenn ich Cayden nicht gerade angekündigt hätte, erst am Sonntag zurückfahren zu wollen.

 

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