Book Read Free

Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition)

Page 11

by Engel, Kathinka


  »Meine Eltern sind ganz anders als ich«, fahre ich fort. Einerseits, damit Aurora sich nicht mehr schlecht fühlt, andererseits ist es inzwischen so lange her, dass ich ohne Schwierigkeiten darüber sprechen kann. »Reich, versnobt … Sie haben es immer gehasst, dass ich mich in der Musikszene herumgetrieben habe. Aber verbieten konnten sie es schlecht. Dazu waren sie zu wenig da. Als meine Frau schwanger wurde, habe ich den Kontakt abgebrochen.«

  »Waren sie gegen euch?«, fragt Lorena.

  »Das ist noch untertrieben«, erwidere ich. »Ihre Familie hat mich dann gewissermaßen adoptiert.«

  »Wie alt warst du da?«, fragt Lorena weiter.

  »Achtzehn«, sage ich.

  »Wow. Ich liebe solche Geschichten. Wenn sie gut ausgehen.« Sie grinst.

  »Na ja, so richtig gut geht sie leider nicht aus. Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«

  Lorena schlägt sich die Hände vor den Mund. »Ach, du Scheiße«, sagt sie. »Entschuldige.«

  »Ist schon in Ordnung.« Ich schlucke. »Wie gesagt, es ist vier Jahre her. Und das Leben muss weitergehen.« Und das tut es. Mein Blick trifft den von Aurora, und sie lächelt mich schüchtern an.

  »Okay, der Reis ist gleich fertig. Wollt ihr schon mal ins Wohnzimmer gehen?«, fragt Aurora. An mich gewandt sagt sie: »Ich habe leider keinen Esstisch. Wir müssen auf den Sofas essen.«

  Ich nehme die offene Rotweinflasche und mein Glas und folge Calisto und Lorena nach nebenan.

  »Aurora ist eine fantastische Köchin«, sagt Lorena. »Wir treffen uns hier ungefähr einmal im Monat. Normalerweise sind noch andere dabei. Matt oder Liam. Manchmal Marcus mit seiner Frau. Allerdings ist die jetzt schwanger.«

  Liam und Marcus arbeiten ebenfalls in der Musikschule. Allesamt wirklich nette Leute, mit denen ich aber bislang kaum etwas zu tun hatte. Vielleicht wird es Zeit, das zu ändern.

  »Okay, hier kommt das Essen«, sagt Aurora. Sie trägt ein Tablett mit vier Schüsseln darauf herein. »Und keine Sorge, es gibt noch mehr.«

  Es schmeckt absolut köstlich. Perfekt gewürzt, leicht scharf.

  Ein kollektives »Mmmmmhh« geht durch die Runde.

  »Aber sag mal, Jasper«, nimmt Lorena den Faden wieder auf, »hattest du nie das Bedürfnis, die Wogen zu glätten?«

  Hm. Das ist eine gute Frage. »Ganz ehrlich?«, sage ich. »Nein. Denn das hätte nur zu ihren Bedingungen geschehen können. Und ich war und bin nicht bereit, mich dem zu beugen.«

  »Arm, aber glücklich«, sagt Lorena. »Darauf trinke ich.«

  Wir heben alle unsere Gläser. »Arm, aber glücklich«, sagen wir im Chor und lassen sie aneinanderklirren.

  »Mein Großvater ist vor Kurzem wieder in mein Leben getreten«, sage ich. »Er scheint anders zu ticken. Wir hatten kaum Kontakt zu ihm, als ich aufgewachsen bin. Vermutlich aus gutem Grund, wie ich jetzt weiß.«

  »Und? Wie ist er?«, fragt Aurora.

  »Ein bisschen verrückt. Verschroben. Auf freundliche Art mürrisch, wenn das Sinn ergibt. Er kann gut mit Weston und Maya umgehen. Die drei verwandeln unseren vernachlässigten Garten in etwas, das den Namen verdient hat.«

  »Passt er heute auf die Kinder auf?«, fragt Calisto.

  »Nein, heute sind Link und Bonnie da. Aus meiner Band?«

  Calisto und Aurora nicken.

  »Für Hugo – so heißt mein Großvater – wäre es noch zu früh, glaube ich. Ich vertraue ihm zwar, aber er ist erst seit wenigen Monaten Teil unseres Lebens. Und bei meinen Kindern …«

  »… willst du auf Nummer sicher gehen«, sagt Lorena. »Verstehe ich.«

  Ich lehne mich zurück, die Schüssel mit dem Reis auf meinem Schoß. Es ist ganz erstaunlich, aber ich bin kolossal entspannt. Genieße die Gesellschaft von Calisto, Lorena und vor allem Aurora und frage mich, wovor ich eigentlich Angst hatte. Ob ich Angst hatte oder ob es etwas anderes war.

  Aurora beugt sich vor, um nach der Weinflasche zu greifen, und streift zufällig mein Bein. Es ist nur eine leichte Berührung, doch auch diese löst etwas in mir aus. Kein Verlangen oder so etwas. Ich will mich nicht lächerlich machen. Aber es ist dennoch ein Eindringen in meinen persönlichen Raum, von dem ich bis gerade eben dachte, dass es mich stören würde. Doch das Gegenteil ist der Fall.

  Aus dem Augenwinkel betrachte ich sie. Und inzwischen bin ich mir sicher, dass Aurora attraktiv ist. Beinahe kommt es mir lächerlich vor, dass ich es vorhin noch nicht mit Gewissheit sagen konnte. Sie ist vermutlich Mitte dreißig, eine selbstbewusste Frau, deren Leben sich ebenso wie meins um die Musik dreht. Eine Frau, in der mehr steckt als einfach nur die Gesangslehrerin mit den bunten Klamotten. Eine Frau mit Nöten und Sorgen, einem alten Vater, der ihr das Leben schwer macht. Es lohnt sich eben, hinter die Fassade zu blicken.

  »… und dann habe ich ihm gesagt, er kann mich mal«, beendet Lorena gerade eine Ausführung über einen extrem aufdringlichen Gast, der sie gestern in dem Restaurant, in dem sie arbeitet, zur Weißglut trieb. »Glücklicherweise gibt es bei uns null Toleranz für solches Verhalten. Egal, wie viel Geld jemand bei uns lässt. Anzügliche Kommentare sind schon ein Grund, jemanden rauszuschmeißen. Aber wenn ein Gast dann auch noch touchy wird …« Sie grinst. »Jedenfalls hat mein Kollege von der Security ihn hochkant rausgeworfen. Der Kopf des Typen war so rot wie der Hummer, den er bestellt hatte.«

  Calisto sieht sie besorgt an. »Ich hasse es, dass du dich mit solchen Kerlen rumärgern musst.«

  »Ach«, erwidert Lorena, »mir ist es lieber, sie nerven mich und ich wehre mich, als dass sie es bei einer von den jungen Bedienungen versuchen, die vielleicht überfordert ist.«

  Ich nippe an meinem Rotwein und sehe von Lorena zu Aurora. Die beiden sind komplett unterschiedlich. Lorena ist laut, aufwendig geschminkt mit perfekten Wellen in den Haaren. Aurora auf der anderen Seite sieht aus wie eine Frau, die Ausdruckstänze in einem von Räucherstäbchen benebelten Raum aufführt. Was beide jedoch gemeinsam haben, ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Persönlichkeit vor sich hertragen. Ein bisschen wie Lula und Bonnie, fällt mir auf. Die eine sexy, flirty und offensiv, die andere mit dem Kopf in Wolken aus schweren Erinnerungen und Musik und dem Körper in Klamotten, die praktisch und bequem sein sollen, statt Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht, dass sie diese nicht dennoch erregen würde mit ihren spektakulären Braids, dem feinen Gesicht und dem riesigen Instrument, das sie mit sich herumschleppt. Schon wieder driften meine Gedanken zu Bonnie ab, und ich beginne mich ernsthaft über mich selbst zu wundern.

  »Ich schätze, die Frauen in der Musikschule sind ziemlich verwöhnt, was den Umgang mit aufdringlichen Leuten angeht«, sagt Aurora gerade. »Mir ist noch nie jemand zu nahe gekommen. Und wenn, würde ich ihn einfach mit meiner Stimmgabel entmannen.«

  Wir lachen, und mir fallen feine graue Haare auf, die zwischen ihren hellbraunen Strähnen hervorblitzen. Beinahe funkeln sie. Als sie bemerkt, dass ich sie ansehe, streicht sie sich eine dieser Strähnen hinters Ohr und schenkt mir ein Lächeln.

  »Schön, dass du heute dabei bist«, sagt sie leise, während Calisto und Lorena darüber diskutieren, wer weiter Wein trinken darf und damit von den Pflichten als Fahrer für heute Abend entbunden ist. »Komm ab jetzt gern öfter.«

  Sie legt mir kurz die Hand auf meinen Oberarm. Eine Geste der Vertraulichkeit und beinahe Vertrautheit. Wir blicken uns an. Und ich denke, es ist Zeit.

  19 – Bonnie

  Heute

  Maya hat sich in ihrem weichen Schlafanzug auf meinen Schoß gekuschelt. Sie und ihr Bruder sind bereits bettfertig, doch wir haben ihnen erlaubt, noch etwas fernzusehen.

  »Hast du es warm genug?«, frage ich, weil der Ventilator über uns leise brummend im Kreis wirbelt.

  Maya nickt, und ich schließe meine Arme um sie. Weston und Link sitzen neben uns auf dem Sofa und amüsieren sich über ein Wrestling-Match, das im Fernsehen läuft. Ein gigantischer Rothaariger, der sich selbst als »der Ire« bezeichnet, ist gerade außer sich vor Wut, beschimpft die Kampfrichter und tritt gegen einen Plastikstuhl, weil sein Gegner, ein schmierig aussehender Schönling – für Wrestling-Verhältnisse –, anscheinend die Mutter des I
ren beleidigt hat. Statt es in einem Fake-Kampf auszutragen, plärrt und wütet er nun. Es ist alles Teil der Show, und obwohl ich nicht unbedingt ein Fan von dieser Art des Zeitvertreibs bin, ist es doch unterhaltsam, Link und Weston dabei zuzuhören, wie sie mit gespielter Ernsthaftigkeit das Geschehen kommentieren. Ich bin mir nicht sicher, ob die Sendung und die Kommentare ihres großen Bruders und Onkels geeignet für Maya sind, aber Link ist der Überzeugung, dass für Babysitter andere Regeln gelten als für Erziehungsberechtigte.

  »Wo bleibt sonst der Mehrwert für die Kinder?«, fragt er.

  »Außerdem haben wir mit Phoenix schon oft Wrestling geschaut«, sagt Weston.

  Offenbar ist die Mutter des Iren im Publikum und feuert ihren »Sohn« jetzt an, endlich die Familienehre zu verteidigen. Ich bin froh, dass Maya konzentriert mit meinen Braids spielt, als der Ire sich tatsächlich bequemt, den Schönling durch die Luft zu wirbeln.

  Auf dem Couchtisch vor uns leuchtet Links Handy auf. Er macht keine Anstalten, seine Nachricht zu lesen. Doch es leuchtet noch mal. Und noch mal.

  »Vielleicht ist es etwas Wichtiges?«, sage ich.

  »Und die Familienehre des Iren ist nicht wichtig?«, fragt er, und Weston lacht.

  Doch nachdem sein Handy noch dreimal aufleuchtet, gibt er sich geschlagen.

  »Na gut, was ist so wichtig, dass es nicht einmal diesen alles entscheidenden Kampf abwarten kann?« Er liest seine Nachrichten. »Oh«, sagt er dann.

  »Was?«, frage ich.

  »Con …« Sein Vater Constantine, der nur Con genannt wird.

  »Was ist mit ihm?«

  »Er hat wohl einen Hexenschuss oder so. Liegt auf dem Wohnzimmerboden und kann sich nicht rühren.« Er blickt mich an. »Er fragt, ob ich vorbeikommen kann, um ihm wenigstens ins Bett zu helfen.«

  Da Links Mutter Charlie nach einem Arbeitsunfall vor Ewigkeiten im Rollstuhl sitzt, kann sie natürlich nicht viel ausrichten. Ich weiß, dass es eine von Links größten Ängsten ist, Charlie könnte ohne Con aufgeschmissen sein.

  »Na, worauf wartest du?«, frage ich. »Mach dich auf den Weg!«

  »Aber die Kinder … Ich habe dich schließlich genötigt, mir Gesellschaft zu leisten, und jetzt lasse ich dich hier allein?«

  »Bist du bescheuert? Deine Eltern brauchen dich. Ab mit dir.«

  »Ab mit dir«, kommt es ganz leise von meinem Schoß zurück.

  Ich blicke vollkommen überrascht zu Link. Seine Augen sind weit aufgerissen.

  »Hat sie gerade …«, formt er lautlos mit den Lippen.

  Ich nicke, wage es kaum, mich zu rühren. Dann sehe ich zu Weston, der ebenfalls den Blick vom Wrestling abgewendet hat. Seine Augen sind auf seine Schwester gerichtet, in seinem Gesicht sehe ich nichts als Stolz. Er lächelt, dann beugt er sich vor und streicht Maya einmal sanft durch die Haare.

  Es ist nicht so, dass Maya nie sprechen würde. Aber ich bin mir nicht sicher, ob einer von uns jemals gehört hat, wie sie einfach so etwas sagt. Ohne dass sie etwas gefragt wird, das einer Antwort bedarf.

  Man merkt deutlich, wie sowohl Link als auch ich versuchen, uns zurückzuhalten. Eigentlich erfordert dieser Moment Jubelschreie, ein Durch-die-Luft-Wirbeln mindestens. Und doch wollen wir Maya das Gefühl geben, dass alles normal ist. Dass Sprechen normal ist.

  »Ähm, okay«, sagt Link nach ein paar Augenblicken, in denen sich die Stimmung wieder normalisiert. »Dann mache ich mich mal besser auf den Weg und lese meinen Vater vom Boden auf.«

  »Was schätzt du, wie schwer Grandpa ist?«, fragt Weston.

  »Puh, keine Ahnung. Aber ich werde ihn definitiv fragen, bevor ich mir einen Bruch hebe.«

  »Vielleicht könntest du ihn mit solchen Gummiseilen, wie sie sie am Wrestling-Ring haben, ins Bett schießen«, schlägt Weston vor.

  »Wenn alle Stricke reißen, werde ich das wohl ausprobieren«, sagt Link lachend.

  »Mach ein Video davon, wie er durch die Luft fliegt.«

  »Klar. Wenn er durch die Luft fliegt, halte ich das für die Ewigkeit fest.« Link klatscht mit Weston ab. »Tschüss, Süße«, sagt er dann zu Maya und gibt ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Und tschüss, Süße.« Auch mich küsst er auf den Kopf, woraufhin Weston und Maya in schallendes Gelächter ausbrechen.

  »Spinner«, sage ich und bedeute ihm mit einer Geste, endlich zu verschwinden.

  Ein paar Minuten später wird der Schönling zum Sieger des Wrestling-Matches gekürt. Der Ire verlässt geschlagen die Arena, jedoch nicht ohne drohend seine Faust zu heben und zu versprechen, dass er nicht ruhen wird, bis seine Familienehre wiederhergestellt ist.

  »Ich glaube, es wird langsam Zeit fürs Bett«, sage ich mit Blick auf die Uhr. Es ist bereits halb neun.

  »Ich darf immer noch im Bett Comics lesen«, sagt Weston. »Dad sagt, ich kann selbst entscheiden, wann ich das Licht ausmache, weil ich derjenige bin, der am nächsten Tag müde ist.«

  »Ich hab früher auch Comics gelesen«, sage ich. »Am liebsten eine Reihe über sechs Jugendliche, die herausfinden, dass ihre Eltern kaltblütige Verbrecher sind, und daraufhin von zu Hause abhauen. Wie hieß das noch gleich?«

  »Runaways «, sagt Weston perplex. »Du kennst das?«

  »Ich hab die Reihe geliebt! Alle haben immer gesagt, ich sei noch zu jung …« Ich lache.

  »Echt jetzt?«, fragt Weston. »Das sagen sie zu mir auch!« Er kriegt ganz große Augen. »Wer ist deine Lieblingsfigur?«

  »Ähm …« Ich muss kurz nachdenken, weil ich mich an die Namen nicht mehr so gut erinnere. »Da war dieses eine Mädchen. Die mit dem Stab …«

  »Nico Minoru«, sagt Weston ehrfürchtig.

  »Stört dich das Licht nicht beim Einschlafen, Maya?«, frage ich. »Wenn Weston noch liest?«

  Sie schüttelt den Kopf.

  »Die schläft tief und fest. Musst ihr nur noch was vorlesen. Echt krass, dass du Runaways kennst … Ich mag Karolina am liebsten.« Er grinst.

  Das Kinderzimmer ist überraschend aufgeräumt. Wenn ich daran denke, wie Lula und ich in unseren Zimmern früher gehaust haben … In einem Regal stehen Kisten mit Spielsachen, darüber hängt eine Weltkarte, die verschiedene Tierarten auf den jeweiligen Kontinenten abbildet. In einer Ecke steht Blythes altes Puppenhaus, mit dem Maya jetzt spielt. Con hat es selbst gebaut, und Charlie hat die Puppen gebastelt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es in Blythes und Links altem Zimmer stand.

  »Wer schläft wo?«, frage ich, doch im gleichen Moment sehe ich die Comichefte im oberen Bett.

  »Hier schlafe ich«, sagt Weston und klettert geschickt die schmale Leiter hinauf.

  »Na, dann viel Spaß mit den Comics.« Ich grinse, als Weston die richtige Seite sucht. »Was soll ich dir denn vorlesen, Maya?«

  »Hmmm«, macht sie und baut sich vor dem Bücherregal auf. Ihren kleinen Finger lässt sie über die verschiedenen Buchrücken wandern. Bei einem Buch bleibt sie hängen und zieht es aus dem Regal.

  »Der Grüffelo also«, sage ich und nehme es ihr aus der Hand. »Darüber habe ich bislang nur Gutes gehört. Aber gelesen habe ich es noch nie.«

  Sie macht große Augen und sieht beinahe erschrocken über die Tatsache aus, dass es auf dieser Welt jemanden gibt, der den Grüffelo nicht kennt.

  »Und Weston, stört es dich nicht, wenn wir das hier unten lesen?«

  »Nee, ich kenne die Bücher alle auswendig. Kann einfach weghören. Außerdem ist es gerade richtig spannend.«

  Das kann ich mir vorstellen. »Also gut, dann los«, sage ich, und Maya kriecht unter ihre Decke.

  Ich will mich gerade auf dem Sessel neben dem Bett niederlassen, da klopft sie hektisch aufs Bett und schüttelt den Kopf. »Kannst du hier lesen?«, fragt sie leise.

  »Oh, ach so, du willst, dass ich mich zu dir lege?« Ein Lächeln hat sich auf meinem Gesicht ausgebreitet. Maya sprechen zu hören ist wunderbar.

  Sie nickt, und so lege ich mich neben sie. Sie bettet ihren Kopf auf meinen Arm. Dann beginne ich zu lesen. In der Geschichte gelingt es einer kleinen Maus nicht nur, mithilfe einer List die anderen Tiere davon zu überzeugen, sie in Ruhe zu lassen, sondern schließlich auch dem Grüffelo, der zunächst ledi
glich in ihrer Fantasie, dann aber auch in Wirklichkeit existiert, weiszumachen, dass er sich vor ihr fürchten muss. Am Ende hat sie endlich ihre Ruhe und knackt genüsslich Nüsse.

  »Ende«, sage ich und klappe das Buch zu.

  »Bleibst du noch kurz?«, fragt Maya, und wieder geht mir das Herz auf. Wie könnte ich ihr etwas abschlagen, wenn sie sich so überwindet und tatsächlich fragt?

  »Ein bisschen noch«, sage ich und schalte die Leselampe aus.

  Von oben dringt ein vorsichtiger Lichtschein zu uns. In regelmäßigen Abständen hört man, wie Weston eine Seite umblättert. Ich schließe ebenso wie Maya die Augen und gebe mich meinen Gedanken hin.

  Fake it till you make it. Das ist die Devise der Maus gewesen. Eine ziemlich schlaue Maus, die es nicht nur Fuchs, Eule und Schlange gezeigt hat, sondern am Ende sogar dem grausigsten Monster, das sie sich hatte ausmalen können. Ihre Fassade hat ihr das Leben gerettet. So wie meine Fassade … Wobei, ganz so dramatisch ist meine Situation natürlich nicht.

  Am Rande meines Bewusstseins nehme ich wahr, dass Weston sein Licht ausschaltet. Ich könnte aufstehen und noch etwas fernsehen, warten, bis Link zurückkommt, und dann nach Hause gehen. Doch ich gönne mir noch ein paar Minuten in Mayas warmem Bett. Es ist überraschend gemütlich – ja, friedlich. Meine Gedanken werden langsamer, unkonkreter …

  Leise Töne dringen an mein Ohr. Es klingt wie ein diamantenes Windspiel. Leicht und sehnsüchtig. Ich muss weggedämmert sein. Langsam gewöhnt sich mein von Schlaf benebelter Geist an den Zustand des Wachseins, und ich nehme nun deutlicher wahr, was um mich herum passiert. Neben mir geht Mayas Atem regelmäßig. Und tatsächlich, aus dem Wohnzimmer dringt ein vorsichtiges Klimpern an mein Ohr. Wellen aus Klängen, hinauf und hinab. Virtuos, denke ich.

  Jasper ist nach Hause gekommen. Mit einem Mal bin ich hellwach, und mein Herzschlag beschleunigt sich.

  Ich habe Links Rückkehr verpasst, bin eingeschlafen. Tief eingeschlafen. Jasper ist wieder da, er ist im Wohnzimmer und spielt leise Klavier. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn, wie sich sein beinahe vornehmer Oberkörper in der gedämpften Ekstase der Melodie hin und her wiegt. Wie sein langes, schlankes Bein auf und ab wippt, während sein Fuß das Pedal bedient. Ich stelle mir seine Finger vor, die langen eleganten Finger, die über die Tasten fliegen, als wären sie nur dafür geschaffen. Ich muss mich ermahnen, ruhig zu atmen.

 

‹ Prev