Midnight Chronicles 02 - Blutmagie
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In einigen Metern Abstand folgte ich ihm und wartete auf den passenden Moment, um zuzuschlagen. Zwar trug ich, wie jeder Hunter, ein magisches Amulett der Stufe 1 um den Hals, mit dem ich eine Illusion erschaffen konnte, aber ich wollte den Vampir dennoch lieber nicht in aller Öffentlichkeit angreifen. Denn eine Illusion war eben nur das: eine Illusion. Das bedeutete nicht, dass die Leute nicht in uns hineinrennen konnten. Auf diese Weise passierte es immer wieder, dass Unwissende versehentlich Zeugen von Hunteraktivitäten wurden, und das galt es zu vermeiden.
Der Vampir war zum Glück unfreiwillig kooperativ – ich musste nicht lang warten, bis er die Hauptstraße verließ und in eine der zahlreichen schmalen Gassen abbog, welche die Altstadt Edinburghs wie Adern durchzogen.
Ich warf einen Blick über die Schulter. Als ich sicher war, dass uns niemand in die Gasse gefolgt war, warf ich die letzten Bedenken bezüglich meines Alleingangs über Bord. Ich aktivierte das Amulett um meinem Hals und ging in die Hocke, um nach dem Khukuri zu greifen, das in meinem rechten Stiefel steckte. Meine Finger kribbelten vor Erwartung, als sie sich um das lederne Heft schlossen und ich die gekrümmte Klinge herauszog. Meine Sinne, die von Natur aus ausgeprägter waren als die gewöhnlicher Menschen, schärften sich. Hierfür war ich geboren. Das war mein Schicksal, und hätte ich eine Wahl, würde ich mich immer und immer wieder dafür entscheiden.
Entschlossen richtete ich mich auf. »He! Pappnase!«
Der Mann mit dem Hoodie erstarrte in der Bewegung und drehte sich zu mir herum. Als er aufblickte, rutschte ihm die Kapuze vom Kopf. Im Licht einer einsamen Laterne erkannte ich, dass sein Haar von einem leuchtenden Blond war, so als hätte es die Sonne absorbiert. Seine Haut war blass und seine Augen wirkten glasig. Ein Unwissender hätte vielleicht geglaubt, er wäre krank, doch ich wusste es besser – er hatte Hunger.
»Hallo Jägerin«, sagte der Vampir und verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen, das mir seine Fänge zeigte. Sie waren nicht besonders lang, ein Zeichen dafür, dass er noch jung war. Unerfahren, aber alt genug, um zu wissen, was er tat, und um nicht mehr unkontrolliert zu töten, wie es bei frisch verwandelten Vampiren der Fall war. Diese stürzten sich unüberlegt in den Kampf, reife Vampire hingegen genossen den Nervenkitzel der Jagd und die Angst ihrer Opfer. Es gehörte für sie zum Genuss des Blutes dazu.
»Wie ich sehe, eiferst du uns nach.« Der Vampir betrachtete die künstlichen Eckzähne, die noch immer in meinem Mund steckten. »Schade, dass ich dich nicht verwandeln kann.«
Ich schnaubte. »Lieber würde ich sterben.«
»Das lässt sich einrichten«, sagte der Vampir mit kehliger Stimme. Seine sanften Gesichtszüge wurden härter. Schwarze Adern erschienen unter seiner blassen Haut, und seine Pupillen nahmen eine dunkelrote Farbe an, während sich seine Hände zu Klauen mit langen Krallen verformten, die ihm dabei halfen, seine Beute festzuhalten. Er fletschte die Zähne und stieß ein animalisches Knurren aus – und dann stürzte er sich auf mich.
Obwohl er rannte, nahm ich jede seiner Bewegungen bis ins kleinste Detail wahr. Seine Muskeln, die sich anspannten, und sein Atem, der sich beschleunigte, als würde sein Körper noch immer Sauerstoff brauchen. Die Härchen an meinen Armen richteten sich auf, und ich machte mich bereit.
Ich konnte den nach Metall stinkenden Atem des Vampirs förmlich auf meiner Haut spüren, als er auf mich zuhechtete, um mich zu packen. Doch kurz bevor er mich zu fassen bekam, duckte ich mich in einer fließenden Bewegung und kickte ihm die Füße unter den Beinen weg.
Der Vampir war zu schnell, um das Gleichgewicht zu halten. Mit einem dumpfen Aufprall landete er auf dem Boden. Der Winkel machte es mir allerdings unmöglich, ihm mein Messer durchs Herz zu stoßen. Stattdessen rammte ich ihm die Klinge in den rechten Oberschenkel. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus, den man zweifelsohne über die Gasse hinaus hören konnte.
Ich sprang auf die Beine. Mein Khukuri ließ ich stecken, damit sich die Wunde nicht sofort wieder schloss und der Vampir länger etwas von dem Schmerz hatte, der ihn hoffentlich für ein paar Sekunden lähmen würde. Dann sprintete ich los. Zielstrebig rannte ich auf die gusseiserne Laterne zu, die in das Mauerwerk des Hauses eingelassen war. Meine Stiefel donnerten über den Boden, dennoch konnte ich hören, dass der Vampir bereits wieder die Verfolgung aufgenommen hatte. Adrenalin pumpte durch meinen Körper. Doch das Ziel vor Augen zog ich mein Tempo weiter an. Ich hatte nur diese eine Chance, kurzen Prozess zu machen, denn anders als mir mangelte es dem Vampir weder an Kraft noch an Ausdauer. Im Gegensatz zu mir könnte er ewig so weitermachen, auch wenn mir meine Blood-Hunter-Gene übermenschliche Fähigkeiten verliehen.
Direkt unter der Laterne bremste ich scharf ab und wirbelte herum. Der Vampir war nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Er humpelte leicht und hielt mein Khukuri in der Hand, als wollte er mich mit meiner eigenen Waffe zur Strecke bringen. Ein letztes Mal holte ich tief Luft, dann sprang ich nach oben. Meine Finger schlossen sich um die Laterne. Das Eisen ächzte, Sand bröckelte aus den Ritzen des Mauerwerks, als ich mich hin und her bewegte, um an Schwung zu gewinnen.
Ein dunkler Schatten huschte über das Gesicht des Vampirs, als versuchte er herauszufinden, was ich plante. Unaufhörlich kam er näher, von seinen animalischen Trieben befeuert. Ich spannte die Muskeln an, holte ein letztes Mal Schwung und verpasste ihm einen heftigen Tritt ins Gesicht, gerade als er mich erreichte und packen wollte.
Ein Knacken war zu hören. Blut spritzte. Er schrie auf und ließ meinen Dolch fallen, um nach seiner Nase zu greifen, die nur noch ein zertrümmerter Knochen war.
Zufrieden ließ ich die Eisenstange los. Mit beiden Füßen landete ich auf den Pflastersteinen, schnappte mir mein Messer und rammte es dem Vampir in die Kehle, um sein Gejammer im Keim zu ersticken.
Er verstummte.
Mit einem schmatzenden Geräusch und einem Schwall Blut zog ich die Klinge heraus, holte erneut aus und trieb sie gezielt zwischen seinen Rippenbögen hindurch in sein Herz.
Schockiert starrte mich der Vampir an, bevor er leblos vor meinen Füßen zusammensackte.
Ein erleichtertes Seufzen entwich meinen Lippen. Ein Blutsauger weniger, um den wir uns Gedanken machen mussten.
Ich holte mein Handy hervor, das den Kampf zum Glück unbeschadet überstanden hatte, und schrieb eine Nachricht ans Quartier, damit sie jemanden schickten, der die Leiche entsorgte.
Ich war gerade fertig damit, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ich wirbelte herum und starrte direkt in ein Paar kühler blauer Augen, die mir so vertraut waren wie das Gewicht einer Waffe in meiner Hand.
»Was zum Teufel, Blackwood?«
Warden
Nur eine Sekunde. Eine verdammte Sekunde lang hatte ich mir erlaubt, den Vampir aus den Augen zu lassen, und nun war er tot. Die letzten vier Stunden Observierung waren umsonst, und ich wusste nicht, auf wenn ich wütender sein sollte: auf Cain oder mich selbst, weil ich mich von Kevin hatte ablenken lassen. Zurzeit war der Todesbote oft bei mir. Schwer zu sagen, ob ihm langweilig war oder ob er mehr über meine Lebensdauer wusste, als er mir verraten wollte.
Cain stemmte die Hände in die Hüfte und betrachtete mich finster. Ich erinnerte mich nur noch dunkel an die Zeit, als mein Anblick Licht und keinen Schatten in ihre Augen hatte treten lassen. »Hallo, Warden.«
»Warum hast du ihn getötet?«
Cains rotes Haar wirkte in der dunklen Gasse wie ein Leuchtfeuer. Blut klebte an ihrem Kinn und rann über ihren Hals. Kurz flackerte Sorge in mir auf, bis ich die künstlichen Fangzähne in ihrem Mund entdeckte. Ernsthaft?
»Ich habe ihn getötet, weil es mein Job ist.«
Ich sah auf den leblosen Körper zu meinen Füßen, dessen Blut auf dem Gehweg ein schmales Rinnsal gebildet hatte. Mir war unerklärlich, wie Cain ihn im Alleingang so schnell hatte kaltstellen können. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass sie gut war. Aber so gut? Was mich allerdings noch mehr verwunderte, war Jules’ Abwesenheit. Ich kannte die Regeln auswendig, gegen die ich selbst seit Jahren verstieß.
In Edinburgh war es Huntern verboten, allein auf die Jagd zu gehen.
»Er war mein Vampir.«
»Sorry, ich habe nicht gesehen, dass er ein Halsband trägt.«
»Ich bin ihm schon den halben Tag gefolgt.«
Cain ging in die Hocke, um ihr Khukuri aus dem Leichnam zu ziehen. »Und du hast es nicht geschafft, ihn zu töten? Schwach, Warden. Wirklich schwach.«
»Ich wollte ihn nicht töten«, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Normalerweise ließ ich mich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Egal ob ich einem Vampir nachjagte, einem Werwolf gegenüberstand oder der knisternden Magie eines Hexers auswich. Es war für mein Überleben notwendig, dass ich stets einen kühlen Kopf behielt, aber diese Frau raubte mir jede Gelassenheit. »Ich wollte ihn nach Isaac fragen, und das weißt du.«
Scheinbar seelenruhig wischte Cain ihre blutige Waffe am grauen Hoodie des Vampirs ab, doch ich wusste, dass ihre Beherrschtheit reine Fassade war, genau wie meine eigene. Es war ein Schauspiel, das wir seit Jahren jedes Mal aufführten, wenn wir aufeinandertrafen.
»Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du wärst in London.«
Ich hatte keine Ahnung, woher sie von meinem Ausflug nach London wusste, da es ein inoffizieller Einsatz gewesen war. Beziehungsweise warum es sie überhaupt interessierte. Vermutlich hatte sie gehofft, mich noch eine Weile länger nicht sehen zu müssen. »Ich bin seit heute zurück.«
»Und, wie war es?«
Ich schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust, über welcher der Gurt meiner Machetenhalterung spannte. Für gewöhnlich trug ich bei Observierungen unauffälligere Waffen bei mir, aber da heute Halloween war, stellte niemand die Klinge auf meinem Rücken infrage. »Was interessiert es dich?«
Cain richtete sich auf, wobei sie nicht einmal im Ansatz mit mir auf einer Augenhöhe war. Sie war ziemlich klein für eine Blood Huntress, was sie allerdings nicht daran hinderte, sich wie eine zu bewegen – geschmeidig und dennoch kraftvoll. »Weißt du was, Warden? Vergiss, dass ich gefragt habe.«
»Nichts lieber als das.«
Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie enttäuscht von mir. Dann machte sie ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt, marschierte aus der dunklen Gasse und ließ mich mit dem toten Vampir allein.
Ich sah ihr nach, bis ihre Silhouette in der Dunkelheit verschwand.
»Ich mag sie«, erklang plötzlich eine vertraute Stimme schräg hinter mir.
Ich drehte mich um und entdeckte Kevin, meinen persönlichen Todesboten. Sozusagen. Eigentlich war er dafür verantwortlich, Menschen nach ihrem Ableben in die Geister- oder Unterwelt zu begleiten, aber seine Freizeit verbrachte er aus unerklärlichen Gründen gerne mit mir. Und jedes Mal, wenn ich ihn sah, besaß er eine andere Gestalt. Manchmal war er eine alte Frau, manchmal ein kleiner Junge und manchmal, so wie heute, eine Blondine mit aufreizendem Ausschnitt. Doch ich erkannte ihn immer an seiner Vorliebe für K-Pop, die er deutlich zur Schau stellte – heute in Form eines farbenfrohen Basecaps.
»Blackwood? Sie ist eine Nervensäge.«
»Vielleicht«, gab Kevin mit einem wissenden Grinsen zurück. »Aber eine sexy Nervensäge.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Dem konnte ich nicht widersprechen. Doch Cain war viel mehr als das. Sie war talentiert. Ehrgeizig. Clever.
Und meine ehemalige Kampfpartnerin.
2. KAPITEL
Cain
Cain Blackwood, CB170516EDI, begib dich umgehend in das Büro des Quartiersleiters.
Ich las die Nachricht von Alessandra, Grants Assistentin, die mich vor fünf Minuten mit einem Signalton aus dem Schlaf geholt hatte, bereits zum zweiten Mal, doch die Worte wollten einfach keinen Sinn ergeben. Grant wollte mich sehen? Sofort? Das war mir noch nie passiert. Ja, ich hatte schon Einladungen von ihm erhalten und Gespräche mit ihm geführt, aber niemals waren diese Treffen so kurzfristig und mit solch einer Dringlichkeit zustande gekommen. Was nichts Gutes bedeuten konnte. Unsicherheit stieg in mir auf und vermischte sich mit einem Gefühl von Angst. Ging es um meine Eltern oder Jules? War einem von ihnen etwas zugestoßen?
Nein, in diesem Fall hätte man mich weitaus ruppiger geweckt. Es musste etwas weniger Dramatisches sein. Dennoch verspürte ich mit einem Schlag mehr Sorge als in der Nacht zuvor, als ich allein diesem Vampir gegenübergestanden hatte.
Mit vor Nervosität zitternden Händen ging ich ins Bad, das an mein Zimmer grenzte. Jedes Quartier war anders aufgebaut, und in vielen Stützpunkten wie in London oder Berlin teilten sich die Hunter eine Gemeinschaftsdusche, aber wir in Edinburgh hatten Glück. Hier verfügte jedes Zimmer über ein eigenes kleines Bad. Zwar dauerte es oft lange, bis das Wasser warm wurde, und öfter als mir lieb war, blieb es einfach kalt, aber es war besser als nichts.
Ich streifte mir die Schlafsachen vom Körper und sprang unter die Dusche. Ich hatte Glück, das Wasser war angenehm warm, ohne Temperaturschwankungen, doch ich war zu unruhig, um es genießen zu können. So schnell wie nur möglich wusch ich mich und schlüpfte anschließend in mein Hunteroutfit: schwarze Hose, schwarzes Top. Wir in Edinburgh mochten es klassisch. Und auch wenn mir hier keine Gefahr drohte, da alles sicher abgeriegelt war, steckte ich mir eines meiner Khukuri in den Stiefel, bevor ich mich auf den Weg in Grants Büro machte, das auf der untersten Etage des Quartiers lag.
Die Zentrale hatte ihren Sitz im Zentrum von Edinburgh unter dem Calton Hill, der tagtäglich von Hunderten von Touristen aufgesucht wurde, die nicht ahnten, dass unter ihren Füßen der Stützpunkt einer geheimen Organisation lag, der sich vom alten Friedhof bis zum Nelson Monument zog. Auf fünf Ebenen verteilt, schliefen, trainierten und lebten knapp zweihundert Blood, Soul, Grim und Magic Hunter – und eine Handvoll freie Hunter, die nicht in dieses Leben hineingeboren waren, sondern es freiwillig gewählt hatten. Ein paar Jäger lebten auch außerhalb des Quartiers, aber nur wenige. Die Mieten in Edinburgh waren teuer, und die Einkünfte durch unsere Nebenjobs meist zu gering. Was mich daran erinnerte, dass ich heute noch auf einem Kindergeburtstag erwartet wurde.
Ich nahm die Treppen bis ganz nach unten und folgte einem langen Flur, vorbei an der Bibliothek, der Werkstatt der Archivare, den Arrestzellen und der Krankenstation bis zu Grants Büro, dem am schwersten zu erreichenden Ort des Quartiers. Hier wurden alle Akten und Geheimnisse verwaltet. Ich öffnete die gläserne Tür, die zu einem Vorraum führte, in dem Alessandra saß, die gerade dabei war, zwei Personalmappen neu zu beschriften, die ich an ihrer grauen Farbe erkannte. Bekam das Quartier Zuwachs?
»Guten Morgen«, begrüßte ich Grants Assistentin.
Alessandra war keine Huntress, aber sie hatte vor zwei Jahren einen Jäger geheiratet, weshalb sie in unser Geheimnis eingeweiht worden war. Seither arbeitete sie bei uns und unterstützte die Hunter, wo sie nur konnte, mit ihrem Organisationstalent.
»Grant wollte mich sehen?«
»Ja, aber er ist noch in einem Gespräch. Du kannst gern Platz nehmen.« Sie deutete auf eine Reihe Stühle an der gegenüberliegenden Wand.
»Wie lange wird das noch dauern?«, fragte ich mit einem verunsicherten Blick auf die Uhr. Ich hatte angenommen, sofort mit Grant sprechen zu können. Immerhin hatte seine Anfrage ziemlich dringend geklungen. Außerdem hatte ich es selbst eilig. Es kostete mich immer eine halbe Ewigkeit, mich von Cain in Cinderella zu verwandeln, da reichten keine fünf Minuten, und ich wurde pünktlich auf Lindas siebter Geburtstagsfeier erwartet.
Alessandra lächelte. »Das weiß ich leider nicht.«
»Okay. Danke«, antwortete ich mit einem Seufzen.
Ich setzte mich, zog mein Handy hervor und schrieb der Veranstaltungsagentur, die mich vermittelte, eine Nachricht mit der Entschuldigung, ich sei krank. Lieber sagte ich ganz ab, als dass ich zu spät kam. Auf diese Weise bestand vielleicht die Chance, dass noch ein Ersatz für mich gefunden wurde. Auch wenn es wehtat, den Gig sausen zu lassen. Das riss ein ziemliches Loch in meine Finanzen. Zwar bezahlte uns das Quartier das Nötigste wie unsere Kampfausrüstung und Sportkleidung für
s Training und man gewährte uns auch kostenlos Unterkunft, aber alles, was dem privaten Vergnügen galt, musste aus eigener Tasche bezahlt werden. Doch Grant zu versetzen, um zu einem Kindergeburtstag zu gehen, war keine Option.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich endlich die Tür zum Büro und zwei Hunter, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, kamen heraus. Die Frau hatte langes blondes Haar, sodass man sie auf den ersten Blick mit Ella hätte verwechseln können, doch anders als meine beste Freundin hatte sie hellbraune statt weiß-graue Augen und ihre Gesichtszüge waren deutlich markanter. Der Typ neben ihr hatte lockiges braunes Haar und trug einen Dreitagebart. Im Vorbeigehen schenkte er mir ein charmantes Lächeln, woraufhin die Frau die Augen verdrehte, mir aber zumindest kurz zunickte.
Ich sah den beiden nach, bevor ich den Blick wieder auf Alessandra richtete, die mir ein Zeichen gab, dass ich jetzt rein durfte. Um eine selbstsichere Haltung bemüht, straffte ich die Schultern und betrat das Büro, in dem es immer nach vergilbtem Papier roch.
»Hallo, Grant. Du wolltest mich …« Ich erstarrte.
Grant war nicht allein. Warden war bei ihm. Er saß auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch und starrte mich wütend an.
Ich hatte das entschiedene Gefühl eines Déjà-vu. Alte Erinnerungen, die ich seit Jahren zu verdrängen versuchte, stiegen in mir auf. Und mich beschlich eine ungute Vorahnung, worum es bei diesem Treffen gehen könnte. Trotzdem wollte ich keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht, nur vielleicht, irrte ich mich ja.
»Guten Morgen, Cain«, begrüßte mich Grant mit einem Lächeln, das die Fältchen in seinem Gesicht noch tiefer werden ließ. Sein Haar war trotz seines Alters von einem tiefen Dunkelbraun, und das hellblaue Hemd, das er trug, zeigte deutlich, dass er in hervorragender körperlicher Verfassung war, obwohl er inzwischen nicht mehr auf die Jagd ging und seine Zeit vor allem im Büro verbrachte. »Schließt du bitte die Tür?«